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Team Seminar-AG - KB (Nord)
Thema Sowjetunion 1921 - 1939 - von Lenin zu Stalin - Teil VI: Linke Positionen zum Stalinismus: Trotzki - Kardelij - Mao Zedong - Bettelheim ( Original )
Status 1989 - Materialsammlung
Letzte Bearbeitung 09/2004
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63. Linke Positionen zum Stalinismus
64. Trotzki: Verratene Revolution
65. Dokument 44: Leo Trotzki: Was ist die UdSSR?
1. Die sozialen Verhältnisse in der UdSSR
2. Staatskapitalismus?
3. Ist die Bürokratie eine herrschende Klasse?
4. Die Geschichte hat die Frage des Charakters der UdSSR noch nicht entschieden
66. Die jugoslawische Position
67. Dokument 45: Edvard Kardelij: Zu den Grundlagen der sozialistischen Demokratie in Jugoslawien
2. Die Lehren aus der sowjetischen Entwicklung
3. Ideologische Ausdrucksformen der Bürokratie
68. ´Verdienste und Fehler´: Die chinesische Kritik am sowjetischen Modell und an Stalin
69. Dokument 46: Mao Zedong: Über die zehn großen Beziehungen
70. Dokument 47: Zur Stalinfrage
71. ´Staatskapitalismus´: Die Thesen Charles Bettelheims

63. Linke Positionen zum Stalinismus

Wir stellen im folgenden - entsprechend der historischen Entwicklung - vier Richtungen der linken Auseinandersetzung mit dem Stalinismus vor: Juni 1989, Floj Hamburg


Literatur

Ahlberg, Rene: Die sozialistische Bürokratie. Die marxistische Kritik am etablierten Sozialismus, Stuttgart 1976.

Bettelhelm/Mszaros/Rossanda: Zurückforderung der Zukunft. Macht und Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften, Frankfurt (M). 1979. - Spannende Analysen über revolutionäre Strategie, Macht und Staat im realen Sozialismus, vorgelegt auf einem von Il Manifesto 1977 einberufenen Kongreß in Venedig, unter Beteiligung von Vertretern der linken Opposition aus den betreffenden Staaten.


64. Trotzki: Verratene Revolution

In der Kritik Trotzkis an der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach 1923 nimmt der Begriff der Bürokratie einen zentralen Platz ein. Während die allgemeine Not der Bürgerkriegsperiode die Herausbildung einer abgesonderten Schicht von Kopfarbeitern kaum noch zuließ, geschah das in der NEP-Zeit zügig. Trotzki beschreibt diesen Prozess:
"In seiner ersten Periode war das Sowjetregime zweifellos viel egalitärer und viel weniger bürokratisch als heute. Doch das war das Gleichmachertum der allgemeinen Not. Die Mittel des Landes waren so dürftig, daß eine Absonderung breiterer privilegierter Schichten aus der Masse nicht möglich war. Gleichzeitig erstickte der ´gleichmacherische´ Charakter des Arbeitslohns das persönliche Interesse und wurde so zu einer Bremse für die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Sowjetwirtschaft mußte aus ihrer Armut herauskommen und eine etwas höhere Stufe erklimmen, damit der Fettansatz - die Privilegien - möglich wurde. Der heutige Stand der Produktion erlaubt es noch bei weitem nicht, alle mit allem Notwendigen zu versehen. Aber er reicht schon aus, um einer Minderheit erhebliche Privilegien zu gewähren und aus der Ungleichheit eine Knute zum Anpeitschen der Mehrheit zu machen. Das ist der erste Grund dafür, daß das Wachstum der Produktion bisher nicht die sozialistischen, sondern die bürgerlichen Züge des Staates stärkte." (Verratene Revolution, in: Trotzki: Schriften, Bd. 1.2., S. 810)
Gleichzeitig drängten nach dem Bürgerkrieg und nach dem Verbot aller anderen Parteien viele Menschen in die KP, weil deren Stellung als "Staatspartei" und Karriereleiter unübersehbar geworden war:
"Unsere Partei ist eine Partei mit Monopolcharakter, und weil sie allein in der Öffentlichkeit tätig ist, drängen sich in sie auch gewisse Elemente, die unter anderen Umständen in anderen Parteien wären." (Sinowjew 1922)
In der 1923 veröffentlichten Broschüre Trotzkis Der Neue Kurs finden sich ausführlichere Passagen zum Zusammenhang von den Aufgaben des wirtschaftlichen und staatlichen Aufbaus und der Herausbildung bürokratischer Apparate:
"Die erste Aufgabe der Klasse war nach der Machtergreifung die Schaffung eines Staatsapparates, einschließlich der Armee, der wirtschaftlichen Verwaltungsorgane usw. Aber die Errichtung des Staats- und Genossenschaftsapparats usw. brachte schon seinem Wesen nach eine Schwächung und Verdünnung der wichtigsten Betriebszellen der Partei und ein übermäßiges Anwachsen von Vetwaltungsleitern, teils proletarischer, teils anderer Herkunft mit sich. Darin liegt ein Widerspruch. Man kann ihn nur durch ernsthafte wirtschaftliche Erfolge, durch ein gesundes Funktionieren des industriellen Lebens überwinden und dadurch, daß ständig Arbeiter, die in der Fabrik bleiben, in die Partei eintreten. ... Auf jeden Fall müssen wir noch mit einer sehr lang währenden Periode rechnen, in der die erfahrensten und aktivsten Parteimitglieder - unter ihnen natürlich auch Mitglieder proletarischer Herkunft - in den verschiedensten Stellen des Staatsapparates, der Gewerkschaften, der Genossenschaften und der Partei beschäftigt sein werden. Und schon in dieser Tatsache liegt eine Gefahr, denn darin liegt eine der Quellen des Bürokratismus.
Das Proletariat verwirklicht seine Diktatur durch den Sowjetstaat. Die Kommunistische Partei ist die führende Partei des Proletariats und folglich auch seines Staates. Und nun erhebt sich die Frage, wie man diese Führung verwirklichen kann, ohne zu eng mit dem bürokratischen Staatsapparat zu verschmelzen und ohne durch diese Verschmelzung zu degenerieren....
Es ist vollkommen klar, daß eine derartige wirkliche Parteiführung nur auf der Grundlage einer lebendigen und aktiven Parteidemokratie durchführbar ist. Und umgekehrt, je größer das Übergewicht ist, das die bürokratischen Methoden erhalten, desto mehr wird die Führung der Partei zu einer Verwaltung durch ihre Exekutivorgane (Komitees, Büros, Sekretäre usw.). ... Bei einer derartigen Degeneration der Führung tritt der grundlegende und unschätzbare Vorteil der Partei - ihre vielfältige und kollektive Erfahrung - in den Hintergrund."
(Trotzki, Der Neue Kurs)
Trotzki war darum bemüht, die der sowjetischen Gesellschaft innewohnenden Entwicklungsmöglichkeiten herauszuarbeiten:
"In unserer Analyse hüten wir uns am meisten davor, der Dynamik des gesellschaftllchen Werdens, das keine Vorläufer und keine Analogien kennt, Gewalt anzutun. Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nicht darin, einen unvollendeten Prozeß mit einer vollendeten Definition zu versehen, sondern darin, ihn in all seinen Etappen zu verfolgen, seine fortschrittlichen und seine reaktionären Tendenzen herauszuschälen, deren Wechselwirkung aufzuzeigen, die möglichen Entwicklungsvarianten vorauszusehen und in dieser Voraussicht eine Stütze für das Handeln zu finden." (Trotzki, Verratene Revolution, S. 958)
So versucht Trotzki an anderer Stelle, die wesentlichen Merkmale der "zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende(n) widerspruchsvolle(n) Gesellschaft" zusammenzufassen, "in der " (Verratene Revolution, S. 957 f.).

Auch aktuelle Untersuchungen stehen vor der Aufgabe, diese Eckpunkte der Entwicklung der Übergangsgesellschaft zu analysieren und die Haupttendenzen festzustellen.

Juni 1989, to

65. Dokument 44: Leo Trotzki: Was ist die UdSSR?

[aus: Verratene Revolution, in: Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Bd. 1.2 (1936 - 1940), Hamburg 1988, S. 938 - 958 - Anmerkungen von KB-AG]


IX. Was ist die UdSSR?

1. Die sozialen Verhältnisse in der UdSSR

Fast uneingeschränkt herrscht in der Industrie das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln vor. In der Landwirtschaft herrscht es nur in den Sowchosen, die nicht mehr als 10% der Anbaufläche erfassen. In den Kolchosen ist das genossenschaftliche oder Gruppeneigentum in verschiedenen Abstufungen mit staatlichem und privatem kombiniert. Der Grund und Boden, der juridisch dem Staat gehört, ist den Kolchosen in "ewige" Nutzung übergeben: was sich wenig vom Gruppeneigentum unterscheidet. Die Traktoren und Maschinen sind Staatseigentum, kleinere Ausrüstungsgegenstände gehören den Kolchosen. Jeder Kolchosbauer betreibt außerdem seine Privatwirtschaft. Schließlich sind über 10% der Bauern Einzelbauern.

Laut der Volkszählung von 1934 bestanden 28,1 % der Bevölkerung aus Arbeitern und Angestellten staatlicher Betriebe und Ämter. Industrie- und Bauarbeiter gab es 1935, die Familienmitglieder nicht eingerechnet, 7,5 Millionen. Die Kolchosen und das genossenschaftliche Handwerk umfaßten zur Zeit der Volkszählung 45,9 % der Bevölkerung. Studenten, Rotarmisten, Rentner und andere unmittelbar vom Staat abhängige Sektoren machten 3,4 % aus. Insgesamt gehörten 74 % der Bevölkerung zum "sozialistischen Sektor", auf den 95,8 % des Grundkapitals des Landes entfielen. Die Zahl der Einzelbauern und Handwerker betrug im Jahre 1934 noch 22,5 %; doch konzentrierte sich in ihren Händen nur wenig mehrals 4 % des nationalen Kapitals!

Seit 1934 hat es keine Volkszählung mehr gegeben: die nächste steht für 1937 bevor. Zweifellos jedoch ist der privatwirtschaftliche Sektor in den letzten zwei Jahren noch mehr zugunsten des "sozialistischen" zurückgedrängt worden. Die Einzelbauern und Handwerker bilden heute, nach den Berechnungen der offiziellen Wirtschaftler, insgesamt etwa 10 % der Bevölkerung, d.h. etwa 17 Millionen Menschen; ihre wirtschaftliche Bedeutung ist noch weit tiefer gesunken als ihre Anzahl. Der Sekretär des Zentralkomitees, Andrejew, teilte im April 1936 mit: "Das spezifische Gewicht der sozialistischen Produktion soll in unserem Lande im Jahre 1936 98,5 % betragen, d.h. daß ganz geringfügige 1,5 % noch zum nichtsozialistischen Sektor gehören werden." Diese optimistischen Zahlen scheinen auf den ersten Blick ein unumstößlicher Beweis für den "endgültigen und unwiderruflichen" Sieg des Sozialismus zu sein. Aber wehe dem, der hinter der Arithmetik die soziale Wirklichkeit nicht sieht!

Die Ziffern selbst sind an den Haaren herbeigezogen: es genügt zu sagen, daß der Privatanbau der Kolchosbauern zum "sozialistischen" Sektor hinzugerechnet wurden. Jedoch nicht hier liegt der Kern der Frage. Das riesige und völlig unbestreitbare statistische Übergewicht der staatlichen und kollektiven Wirtschaftsformen, so wichtig es für die Zukunft auch sein mag, beseitigt nicht eine andere, kaum minderwichtige Frage: die der Stärke der bürgerlichen Tendenzen innerhalb des "sozialistischen" Sektors selbst, und zwar nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie. Die erreichte Anhebung des materiellen Niveaus ist bedeutend genug, um bei allen erhöhte Ansprüche zu wecken, aber völlig ungenügend, um diese zu befriedigen. Die Dynamik des wirtschaftlichen Aufschwungs führt deshalb zum Erwachen kleinbürgerlicher Appetite nicht nur bei den Bauern und Vertretern der "geistigen" Arbeit, sondern auch bei den bessergestellten Teilen des Proletariats. Die nackte Gegenüberstellung der Einzelbauern und Kolchosbauern, der Handwerker und der Staatsindustrie gibt nicht die geringste Vorstellung von der Sprengkraft dieser Appetite, die die ganze Wirtschaft des Landes durchdringen und die sich, summarisch gesprochen, in dem Bestreben aller ausdrücken, der Gesellschaft möglichst wenig zu geben und möglichst viel von ihr zu erhalten.

Auf die Lösung der Verbrauchs- und Erwerbsfrage wird nicht weniger Energie und Erfindungsgeist verwandt als auf den sozialistischen Aufbau im eigentlichen Sinne des Wortes: hieraus ergibt sich im besonderen die äußerst niedrige Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit. Während sich der Staat in einem ununterbrochenen Kampf gegen die molekulare Aktivität der zentrifugalen Kräfte befindet, bildet die herrschende Schicht selbst das Hauptreservoir der gesetzlichen und ungesetzlichen privaten Akkumulation. Verborgen hinter neuen juristischen Normen lassen sich die kleinbürgerlichen Tendenzen allerdings statistisch nicht leicht erfassen. Aber ihr direktes Übergewicht im Wirtschaftsleben wird vor allem bewiesen durch die "sozialistische" Bürokratie selbst, diese himmelschreiende contradictio in adjecto, diese ständig wachsende monströse soziale Ausgeburt, die ihrerseits zur Quelle bösartiger Geschwüre der Gesellschaft wird.

Die neue Verfassung, die, wie wir später sehen werden, gänzlich auf der Gleichsetzung der Bürokratie mit dem Staat und des Staates mit dem Volk aufgebaut ist, spricht von "Staatseigentum, d.h. Besitz des ganzen Volkes .. ."*1 ‚ In dieser Identifizierung liegt der grundlegende Sophismus der offiziellen Doktrin. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Marxisten, angefangen mit Marx selbst, in bezug auf den Arbeiterstaat die Ausdrücke Staats-, Volks- oder sozialistisches Eigentum einfach als Synonyme gebrauchten. Im großen historischen Maßstab gesehen, führte dieser Gebrauch zu keinerlei besonderen Schwierigkeiten. Er wird aber dann zu einer Quelle grober Fehler und direkten Betrugs, wenn es sich um die ersten, noch nicht gesicherten Etappen in der Entwicklung einer neuen Gesellschaft handelt, die zudem isoliert und wirtschaftlich hinter den kapitalistischen Ländern zurückgeblieben ist.

Um gesellschaftliches Eigentum zu werden, muß das Privateigentum unvermeidlich das staatliche Stadium durchlaufen, sowie die Raupe durch das Stadium der Larve gehen muß, um ein Schmetterling zu werden. Aber die Larve ist noch kein Schmetterling. Myriaden von Larven kommen um, bevor sie Schmetterlinge werden. Das Staatseigentum wird nur in dem Maße "Volkseigentum", in dem die sozialen Privilegien und Unterschiede verschwinden, und folglich auch das Bedürfnis nach dem Staat. Mit anderen Worten: Das Staatseigentum verwandelt sich in sozialistisches Eigentum in dem Maße, wie es aufhört, Staatseigentum zu sein. Und umgekehrt: je höher sich der Sowjetstaat über das Volk erhebt, um so wütender stellt er sich als Hüter des Eigentums dem Volk, dessen Verschwender, gegenüber, um so krasser zeugt er selbst gegen den sozialistischen Charakter des Staatseigentums.

"Wir sind noch weit entfernt von der völligen Vernichtung der Klassen", gibt die offizielle Presse zu, wobei sie sich auf die noch bestehenden Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit beruft. Dies rein akademische Bekenntnis hat den Vorteil, daß es gestattet, die Einnahmen der Bürokratie unter dem Ehrentitel der "geistigen" Arbeit zu verbergen. Die "Freunde", denen Platon viel lieber ist als die Wahrheit*2 , beschränken sich ebenfalls auf die rein akademische Anerkennung der Überbleibsel der alten Ungleichheit. In Wirklichkeit reichen die für alles herangezogenen "Überbleibsel" keineswegs zur Erklärung der Sowjetwirklichkeit aus. Wenn sich der Unterschied zwischen Stadt und Land auch in mancher Beziehung linderte, so hat er sich in anderer Beziehung infolge des außergewöhnlich schnellen Wachstums der Städte und der städtischen Kultur, d.h. des Komforts der städtischen Minderheit, bedeutend verschärft. Die soziale Spanne zwischen körperlicher und geistiger Arbeit ist in den letzten Jahren größer und nicht kleiner geworden, trotz der Erweiterung des wissenschaftlichen Kaders durch Neuzugänge aus den Unterschichten. Die tausendjährigen Kastenschranken, die das Leben eines jeden Menschen nach allen Seiten abstecken - der geschliffene Städter und der ungehobelte Bauer, der Magier der Wissenschaft und der Handlanger -‚ haben sich nicht einfach in mehr oder weniger gemilderter Form aus der Vergangenheit hinübergerettet, sondern sind in erheblichem Maße neu entstanden und nehmen einen immer herausfordernderen Charakter an.

Die berüchtigte Parole "Die Kader entscheiden alles" charakterisiert viel offener, als Stalin es selbst möchte, die Natur der Sowjetgesellschaft.*3 Schon ihrem Wesen nach sind Kader ein Herrschafts- und Kommandoorgan. Der "Kader"kult bedeutet in erster Linie einen Kult der Bürokratie, der Administration, der technischen Aristokratie.*4 Hinsichtlich der Ausbildung, Entwicklung und Erziehung von Kadern hat das Sowjetregime, wie auch auf anderen Gebieten, noch die Aufgabe zu lösen, die die fortgeschrittene Bourgeoisie längst gelöst hat. Da aber die Sowjetkader unter Sozialistischem Banner antreten, beanspruchen sie fast göttliche Ehren und immer höheres Gehalt. Die Herausbildung der "sozialistischen" Kader ist somit von einer Wiedergeburt der bürgerlichen Ungleichheit begleitet.

Betrachtet man die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln, so scheint es zwischen dem Marschall und dem Dienstmädchen, dem Leiter eines Trusts und dem Handlanger, dem Sohn eines Volkskommissars und einem Besprisornyje keinen Unterschied zu geben. Indes, die einen verfügen über herrschaftliche Wohnungen und mehrere Sommervillen in verschiedenen Gegenden des Landes, fahren in erstklassigen Autos und haben längst vergessen, wie man seine Stiefel putzt; die anderen wohnen in Holzbaracken, oft ohne Zwischenwände, leiden ständig Hunger und putzen ihre Stiefel nur deshalb nicht, weil sie barfuß laufen. Für den Würdenträger verdient dieser Unterschied keine Aufmerksamkeit. Dem Handlanger hingegen scheint er nicht ohne Grund sehr wesentlich.

Oberflächliche "Theoretiker" können sich natürlich damit trösten, daß die Verteilung der Güter gegenüber ihrer Herstellung ein Faktor zweiter Ordnung ist. Die Dialektik der Wechselwirkung*5 bleibt jedoch auch hier voll in Kraft. Je nachdem, nach welcher Seite hin sich die Unterschiede in den persönlichen Daseinsbedingungen entwickeln werden, wird schließlich auch die Frage nach dem endgültigen Schicksal der verstaatlichten Produktionsmittel gelöst werden. Wenn ein Dampfer zum Kollektiveigentum erklärt wird, die Passagiere aber nach wie vor in erste, zweite und dritte Klasse eingeteilt werden, so ist offensichtlich, daß für die Passagiere der dritten Klasse der Unterschied in den Existenzbedingungen von weit größerer Bedeutung sein wird als der juristische Eigentumswechsel. Umgekehrt werden die Passagiere der ersten Klasse bei Kaffee und Zigarren dem Gedanken huldigen, das Kollektivgut sei alles, die bequeme Kajüte dagegen nichts. Die hieraus erwachsendcn Gegensätze können ein unstabiles Kollektiv sprengen.

Die Sowjetpresse berichtete mit Genugtuung, wie ein Junge im Moskauer Zoologischen Garten, nachdem man ihm auf seine Frage "Wem gehört dieser Elefant?" antwortete "Dem Staat" sofort daraus schloß: "Also ein bißchen auch mir". Allein, bei einer tatsächlichen Aufteilung des Elefanten würden auf die Auserwählten die kostbaren Stoßzähne entfallen, einige würden sich am Elefantenschinken laben, während die Mehrheit sich mit den Innereien oder den Haxen begnügen müßte. Die übervorteilten Jugendlichen werden das Staatseigentum kaum mit ihrem eigenen identifizieren. Die Besprisornyje betrachten als ihnen gehörig nur das, was sie dem Staate stehlen. Der kleine "Sozialist" im Zoologischen Garten war bestimmt der Sohn irgendeines bekannten Würdenträgers, gewohnt, nach der Formel zu urteilen: "Der Staat - das bin ich!"*6

Übersetzt man der Anschaulichkeit halber die sozialistischen Beziehungen in die Börsensprache, so mag man sich die Bürger als Teilhaber einer Aktiengesellschaft vorstellen, in deren Besitz sich der Reichtum des Landes befindet. Der allgemeine Volkscharakter des Eigentums setzt eine gleichmäßige Verteilung der "Aktien" und folglich ein Anrecht aller "Aktionäre" auf gleiche Dividenden voraus. Die Bürger sind jedoch am nationalen Unternehmen nicht nur als "Aktionäre" beteiligt, sondern auch als Produzenten. Auf der untersten Stufe des Kommunismus, die wir Sozialismus zu nennen pflegen, erfolgt die Bezahlung der Arbeit noch nach bürgerlichen Normen, d. h. nach Qualifikation, Intensität usw. Theoretisch würde sich das Einkommen eines jeden Bürgers somit aus zwei Teilen, a + b, d.h. Dividende plus Arbeitslohn, zusammensetzen. Je höher die Technik, je vollkommener die Organisation der Wirtschaft, einen um so größeren Platz wird a im Verhältnis zu b einnehmen, einen um so geringeren Einfluß wird der individuelle Unterschied in der Arbeit auf das Lebensniveau ausüben. Aus der Tatsache, daß die Lohnunterschiede in der UdSSR nicht kleiner, sondern größer sind als in den kapitalistischen Ländern, muß man den Schluß ziehen, daß die Aktien der Sowjetbürger nicht gleichmäßig verteilt sind, und daß das Einkommen der Bürger neben ungleichen Löhnen auch einen ungleichen Dividendenanteil enthält. Während der Handlanger nur b erhält, einen Minimallohn, den er, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, auch in einem kapitalistischen Unternehmen erhalten würde, bekommt ein Stachanowarbeiter oder ein Beamter 2a + B oder 3a + B usw., wobei B seinerseits mit 2 b, 3 b usw. angesetzt werden kann. Die Einkommensunterschiede sind, mit anderen Worten, nicht nur durch die Unterschiede im individuellen Arbeitsertrag bestimmt, sondern auch durch verschleierte Aneignung fremder Arbeit. Eine privilegierte Minderheit der Aktionäre lebt auf Kosten der übervorteilten Mehrheit.

Nimmt man an, daß ein durchschnittlicher Sowjetarbeiter mehr erhält, als er bei gleichem Stand der Technik und der Kultur in einem kapitalistischen Unternehmen erhalten würde, d.h. also doch ein kleiner Aktionär ist, so muß man seinen Arbeitslohn gleich a + b annehmen. Der Verdienst höherer Kategorien würde sich in Formeln wie 3a + 2b, l0a + l5b usw. ausdrücken. Das bedeutet: der Durchschnittsarbeiter hat eine Aktie, der Stachanowmann drei, der Spezialist zehn; darüber hinaus verhalten sich ihre Arbeitslöhne im eigentlichen Sinne des Wortes wie 1 : 2 : 15. Die Hymnen auf das heilige sozialistische Eigentum klingen unter diesen Umständen für einen Direktor oder Stachanowarbeiter viel überzeugender als für einen gewöhnlichen Arbeiter oder Kolchosbauern. Indessen stellen die einfachen Werktätigen die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft dar, und um sie ging es dem Sozialismus, nicht um die neue Aristokratie.

"Der Arbeiter in unserem Lande ist kein Lohnsklave, kein Verkäufer seiner Ware, der Arbeitskraft. Er ist ein freier Werktätiger." (Prawda.) Für die Gegenwart stellt diese pathetische Formel ein unstatthaftes Geprahle dar. Die Übernahme der Fabriken durch den Staat hat die Lage des Arbeiters nur juridisch verändert; in Wirklichkeit ist er, während er eine bestimmte Anzahl von Stunden für einen bestimmten Lohn arbeitet, gezwungen zu darben. Die Hoffnungen, die der Arbeiter früher auf die Partei und die Gewerkschaften setzte, hat er nach der Revolution auf den von ihm geschaffenen Staat übertragen. Aber die nützliche Arbeit dieses Werkzeugs fand ihre Grenze im Niveau von Technik und Kultur. Um dieses Niveau zu erhöhen, griff der Staat auf die alten Methoden des Drucks auf Muskeln und Nerven der Werktätigen zurück. Es entstand ein Korps von Antreibern. Die Verwaltung der Industrie wurde erzbürokratisch. Die Arbeiter verloren jeglichen Einfluß auf die Leitung der Betriebe. Bei Akkordlohn, schweren materiellen Daseinsbedingungen, fehlender Freizügigkeit*7 , einem fürchterlichen Polizeiapparat, der in das Leben jedes Betriebes eindringt, fühlt sich der Arbeiter schwerlich als "freier Werktätiger". Im Beamten sieht er den Vorgesetzten, im Staat den Herrn. Freie Arbeit ist unvereinbar mit der Existenz eines bürokratischen Staates.

Mit den notwendigen Einschränkungen läßt sich das Gesagte auch auf das flache Land übertragen. Laut der offiziellen Theorie ist das Kolchoseigentum eine besondere Form des sozialistischen Eigentums. Die Prawda schreibt, daß die Kolchosgüter "ihrem Wesen nach bereits zum Typus der staatlichen, folglich sozialistischen Unternehmungen gehören", man fügt aber sogleich hinzu: Garantie für die sozialistische Entwicklung der Landwirtschaft ist der Umstand, daß "die bolschewistische Partei die Kolchosen leitet"; d.h. sie verweist uns von der Wirtschaft auf die Politik. Das bedeutet im Grunde genommen, daß die sozialistischen Beziehungen bislang noch nicht auf realen Beziehungen zwischen den Menschen beruhen, sondern auf dem fürsorglichen Herzen der Obrigkeit. Die Werktätigen tun gut daran, diesem Herzen zu mißtrauen. In Wirklichkeit stellt die Kolchoswirtschaft ein Mittelding zwischen der einzelbäuerlichen und der staatlichen dar, wobei die kleinbürgerlichen Tendenzen innerhalb der Kolchosen durch die Entwicklung der Hausgarten- oder Privatwirtschaften der Kolchosbauern aufs beste ergänzt werden.

Obwohl die individuelle Anbaufläche der Kolchosbauern insgesamt nur 4 Millionen Hektar beträgt, gegenüber 108 Millionen der kollektivwtrtschaftlichen Anbaufläche, d.h. weniger als 4 %, deckt sie doch dank intensiver Bearbeitung, besonders im Gemüseanbau, den Hauptbedarf der Bauernfamilie. Hornvieh, Schafe und Schweine sind größtenteils Eigentum der Kolchosbauern und nicht der Kolchosen selbst. Die Bauern machen ihre Nebenwirtschaft durchweg zur Hauptwirtschaft und drängen die unrentablen Kolchosen in den Hintergrund. Umgekehrt steigen die Kolchosen mit hohem Arbeitslohn auf eine höhere soziale Stufe und bilden eine Kategorie von wohlhabenden Bauern. Die zentrifugalen Tendenzen schwinden noch nicht, im Gegenteil, werden stärker und wachsen. Jedenfalls haben die Kolchosen bisher nur die juridischen Formen der ökonomischen Beziehungen auf dem Lande umzuwandeln vermocht, insbesondere die Art der Gewinnverteilung, die alte Kate aber, den Gemüsegarten, die Viehhaltung, den ganzen Rhythmus der Schwerarbeit des Muschiks haben sie fast unverändert gelassen, in bedeutendem Maße auch das alte Verhältnis zum Staat. Dieser dient zwar nicht mehr den Gutsbesitzern und den Bourgeois, aber er nimmt den Dörfern zum Besten der Städte zuviel fort und er unterhält übermäßig viele gefräßige Beamte.

Für die am 6. Januar 1937 stattfindende Sowjetvolkszählung ist ein Verzeichnis folgender sozialer Kategorien aufgestellt worden: Arbeiter, Angestellte, Kolchosbauern, Einzelbauern, Handwerker, freie Berufe, Bedienstete der Religionsgemeinschaften und sonstige nichtarbeitende Elemente. Laut offizieller Verlautbarung enthält diese Liste nur deshalb keine anderen sozialen Charakteristika, weil es in der UdSSR keine Klassen gibt. In Wirklichkeit wurde diese Einteilung zu dem Zweck vorgenommen, die Existenz der privilegierten Spitzen und der am stärksten benachteiligten unteren Schichten zu vertuschen. Die wahren Schichten der Sowjetgesellschaft, die man mit Hilfe einer ehrlichen Volkszählung mühelos feststellen könnte und müßte, sind folgende: die Oberschicht der Bürokratie, Spezialisten u. a., die in bürgerlichen Verhältnissen leben; die mittlere und untere Schicht, die sich auf dem Niveau des Kleinbürgertums befindet; die Arbeiter- und Kolchosaristokratie auf etwa demselben Niveau; die mittlere Schicht der Arbeitermasse; die Mittelschichten im Kolchos; die Einzelbauern und Kleingewerbetreibenden; die untersten Arbeiter- und Bauernschichten, die ins Lumpenproletariat übergehen; die Besprisornyje, Prostituierten usw.

Wenn die neue Verfassung verkündet, in der UdSSR sei "die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen"*8 erreicht, so spricht sie die Unwahrheit. Die neue soziale Schichtenbildung hat die Voraussetzungen für das Wiedererstehen der barbarischsten aller Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geschaffen, für seinen Ankauf als Sklave zur persönlichen Bedienung. Im Register der neuen Volkszählung ist die private Dienstmagd überhaupt nicht erwähnt; vermutlich soll sie in der Rubrik "Arbeiter" verschwinden. Es fehlen andererseits Fragen wie:
Hat der sozialistische Bürger Dienstboten und, wenn ja, wieviele (Stubenmädchen, Köchin, Amme, Kindermädchen, Chauffeur)? Verfügt er über ein Auto zur persönlichen Benutzung? Wie groß ist seine Wohnung? U. a. m. Nichts, überhaupt nichts über die Höhe des Verdienstes! Würde man das Gesetz wiedereinführen, wonach die Ausbeutung fremder Arbeitskraft den Verlust der politischen Rechte zur Folge hat, so würde sich plötzlich herausstellen, daß die Elite der herrschenden Schicht sich außerhalb der Sowjetverfassung gestellt hätte.*9 Zum Glück ist die volle Rechtsgleichheit eingeführt.., für die Dienstboten sowohl für die Herrschaften.

Das Sowjetregime läßt zwei entgegengesetzte Tendenzen wachsen. Soweit es im Gegensatz zum verfaulenden Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelt, bereitet es das ökonomische Fundament für den Sozialismus vor. Soweit es den Oberschichten zuliebe die bürgerlichen Verteilungsnormen ins Extreme steigert, bereitet es die kapitalistische Restauration vor. Der Widerspruch zwischen Eigentumsformen und Verteilungsnormen kann nicht endlos wachsen. Entweder werden die bürgerlichen Normen - so oder so - auch auf die Produktionsmittel übergreifen, oder umgekehrt die Verteilungsnormen mit dem sozialistischen Eigentum in Einklang gebracht werden müssen.

Die Bürokratie fürchtet die Aufdeckung dieser Alternative. Stets und überall - in Presse, Reden, Statistik, in den Romanen der Belletristen, in den Versen ihrer Dichter, schließlich im Text der neuen Verfassung - verbirgt sie sorgsam die wirklichen Verhältnisse in Stadt und Land hinter Abstraktionen aus dem sozialistischen Wörterbuch. Deshalb ist die ganze offizielle Ideologie so leblos, so falsch und so gekünstelt!

2. Staatskapitalismus?

Vor unbekannten Erscheinungen sucht man oft bei bekannten Begriffen Zuflucht. So hat man das Rätsel des Sowjetregimes hinter dem Etikett Staatskapitalismus*10 verschwinden lassen wollen. Dieser Ausdruck hat den Vorteil, daß niemand genau weiß, was er eigentlich bedeutet. Ursprünglich diente der Begriff "Staatskapitalismus" zur Bezeichnung der Fälle, in denen der bürgerliche Staat Transportmittel oder Industrieunternehmungen unmittelbar in eigene Regie nimmt. Die Notwendigkeit solcher Maßnahmen ist an sich schon ein Symptom dafür, daß die Produktivkräfte über den Kapitalismus hinausgewachsen sind und ihn in der Praxis zu partieller Selbstverneinung nötigen. Aber das überlebte System existiert mitsamt seinen Elementen von Selbstverneinung doch weiter als kapitalistisches System.

Theoretisch kann man sich zwar eine Situation vorstellen, in der die Bourgeoisie als ganze sich als Aktiengesellschaft etabliert, die vermittels ihres Staates die ganze Volkswirtschaft verwaltet. Die ökonomische Ordnung eines solchen Regimes birgt kein Geheimnis. Der Profit des Einzelkapitalisten entspricht bekanntermaßen nicht dem unmittelbar von den Arbeitern seines Betriebes erzeugten Teil des Mehrwerts, sondern stellt nur eine seinem Kapitalanteil entsprechende Rate des im ganzen Lande erzeugten Gesamtmehrwert dar. Bei einem integralen "Staatskapitalismus" käme das Gesetz der Durchschnittsprofitrate nicht auf Umwegen, d.h. durch die Konkurrenz der Kapitale zur Anwendung, sondern direkt und unmittelbar über die Staatsbuchhaltung. Ein solches Regime hat jedoch nie existiert und wird infolge der schweren Gegensätze unter den Besitzenden auch nie existieren - um so weniger, als der Staat als Universalvertreter des kapitalistischen Eigentums für die soziale Revolution ein allzu verlockendes Objekt wäre.

Seit dem Krieg und besonders seit den faschistischen Wirtschaftsexperimenten versteht man unter Staatskapitalismus meistens ein System staatlicher Einmischung und Regulierung. Die Franzosen benutzen in diesem Fall die viel treffendere Bezeichnung "Etatismus". Zwischen Staatskapitalismus und Etatismus gibt es zweifellos Berührungspunkte, doch als Systeme genommen, sind sie eher gegensätzlich als identisch. Staatskapitalismus bedeutet Ersetzung des Privateigentums durch Staatseigentum und bleibt eben deshalb die Ausnahme.

"Etatismus" bedeutet - gleichgültig, ob in Mussolini-Italien*11 , Hitler-Deutschland*12 , Roosevelt-Amerika*13 oder im Frankreich Leon Blums*14 - Einmischung des Staates auf der Grundlage des Privateigentums mit dem Ziel, es zu retten. Welches die Regierungsprogramme auch sein mögen, der Etatismus führt unweigerlich dazu, die Verluste des faulenden Systems von den Schultern der Starken auf die der Schwachen abzuwälzen. Er "rettet" die kleinen Eigentümer vor dem völligen Untergang nur, soweit ihre Existenz für die Erhaltung des Großbesitzes notwendig ist. Die Planmaßnahmen des Etatismus sind nicht von den Entwicklungsnotwendigkeiteen der Produktivkräfte diktiert, sondern von der Sorge um die Erhaltung des Privateigentums auf Kosten der sich gegen dieses auflehnenden Produktivkräfte. Etatismus bedeutet deshalb Bremsung des technischen Fortschritts, Aufrechterhaltung lebensunfähiger Betriebe, Verewigung der schmarotzenden Gesellschaftsschichten; er ist mit einem Wort durch und durch reaktionär.*15

Die Worte Mussolinis "Dreiviertel der italienischen Wirtschaft, sowohl im industriellen wie im landwirtschaftlichen Bereich, befinden sich in Händen des Staates" (26. Mai 1934)*16 , darf man nicht wörtlich nehmen. Der faschistische Staat ist nicht Eigentümer der Unternehmungen, sondern nur Vermittler zwischen den Unternehmern. Das ist nicht dasselbe. Der Popolo d‘Italia sagt darüber: "Der korporativ-faschistische Staat*17 leitet und vereinheitlicht die Wirtschaft, aber er führt sie nicht, er verwaltet nicht [die Produktion als Monopol] (dirige e porta alla unita l‘economia, ma non fa l‘economia, non gestisce [fascio in monopolio la produzione]), was Kollektivismus wäre."*18 (11. Juni 1936). Den Bauern und den Kleinbesitzern überhaupt tritt die faschistische Bürokratie als gestrenger Herr gegenüber, den kapitalistischen Magnaten als oberster Bevollmächtigter. "Der korporative Staat", schreibt der italienische Marxist Feroci*19 richtig, "ist nichts als ein Kommis des Monopolkapitals . . . Mussolini bürdet dem Staat das ganze Risiko der Unternehmungen auf und überläßt den Industriellen die Vorteile der Ausbeutung"*20 Hitler tritt auch in dieser Beziehung in Mussolinis Fußstapfen. Die Klassenabhängigkeit des faschistischen Staats legt die Grenzen des Planprinzips und dessen wirklichen Sinn fest: nicht um die Erhöhung der Macht des Menschen über die Natur im Interesse der Gesellschaft geht es, sondern um die Ausbeutung der Gesellschaft im Interesse Weniger. "Wenn ich", brüstete sich Mussolini, "in Italien - was wirklich nicht der Fall ist - Staatskapitalismus oder Staatssozialismus einführen wollte, alle dazu notwendigen objektiven Bedingungen stünden mir heute ausreichend zur Verfügung."*21 Außer einer: die Enteignung der Kapitalistenklasse. Um diese Bedingung zu erfüllen, müßte der Faschismus sich auf die andere Seite der Barrikade stellen, "was wirklich nicht der Fall ist", wie Mussolini schleunigst beteuert, und natürlich auch nie sein wird: die Enteignung der Kapitalisten erfordert andere Kräfte, andere Kader und andere Führer.

Die in der Geschichte erstmalige Konzentration der Produktionsmittel in den Händen des Staates wurde vom Proletariat mit der Methode der sozialen Revolution verwirklicht, und nicht von Kapitalisten mit der Methode der staatlichen "Vertrustung". Schon diese kurze Analyse zeigt, wie absurd die Versuche sind, den kapitalistischen Etatismus mit dem Sowjetsystem gleichzusetzen. Jener ist reaktionär, dieses fortschrittlich.

3. Ist die Bürokratie eine herrschende Klasse?

Klassen werden durch ihre Stellung im gesellschaftlichen System der Wirtschaft bestimmt, in erster Linie durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln. In zivilisierten Gesellschaftsordnungen sind die Besitzverhältnisse in Gesetzen verankert. Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bildet mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlage der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse definieren für uns im wesentlichen den Charakter der UdSSR als den eines proletarischen Staates.

In ihrer vermittelnden und regulierenden Funktion, ihrer Sorge um die Erhaltung der sozialen Rangstufen und der Ausnutzung des Staatsapparates zu Privatzwecken ähnelt die Sowjetbürokratie jeder anderen Bürokratie, besonders der faschistischen.*22 Aber es gibt auch enorme Unterschiede.

Unter keinem anderen Regime, mit Ausnahme der UdSSR, hat die Bürokratie einen solchen Grad der Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse erlangt. In der bürgerlichen Gesellschaft vertritt die Bürokratie die Interessen der besitzenden und gebildeten Klasse, die über unzählige Mittel verfügt, ihre Verwaltung zu kontrollieren. Die Sowjetbürokratie jedoch erhob sich über eine Klasse, die, eben erst aus Elend und Dunkel befreit, im Herrschen und Kommandieren keine Tradition besitzt. Während die Faschisten, nachdem sie die Futterkrippe erreicht haben, mit der Großbourgeoisie gemeinsame Interessen-, Freundschafts-, Ehebande usw. knüpfen*23 , macht sich die Bürokratie der UdSSR die bürgerlichen Sitten zueigen, ohne eine nationale Bourgeoisie als Partner zu haben. In diesem Sinne muß man zugeben, daß sie etwas mehr ist als eine Bürokratie. Sie ist die einzige im vollen Sinne des Wortes privilegierte und Kommandogewalt ausübende Schicht der Sowjetgesellschaft.

Nicht minder wichtig ist ein anderer Unterschied. Die Sowjetbürokratie expropriierte das Proletariat politisch, um seine sozialen Eroberungen mit ihren Methoden zu verteidigen. Aber alleine der Umstand, daß sie in einem Lande, in dem sich die Hauptproduktionsmittel in Staatshänden befinden, die politische Macht an sich riß, schafft ein neues, noch nie dagewesenes Verhältnis zwischen der Bürokratie und den Reichtümern der Nation. Die Produktionsmittel gehören dem Staat. Aber der Staat "gehört" gewissermaßen der Bürokratie. Wenn diese noch ganz neuen Verhältnisse gegen oder ohne den Widerstand der Werktätigen sich verfestigten, zur Norm und legalisiert würden, so würden sie letzten Endes zur völligen Liquidierung der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution führen. Doch heute davon zu reden, ist zumindest verfrüht. Das Proletariat hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Die Bürokratie hat für ihre Herrschaft noch keine sozialen Stützpunkte, d.h. besondere Eigentumsformen, geschaffen. Sie ist gezwungen, das Staatseigentum als die Quelle ihrer Macht und ihrer Einkünfte zu verteidigen. Geht man von dieser Seite ihres Wirkens aus, so bleibt sie immer noch ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats.

Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von "Staatskapitalisten" hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche besonderen, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der einzelne Beamte kann seine Anrechte auf die Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien in mißbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe. Die Aneignung eines enormen Anteils des Volkseinkommens durch die Bürokratie ist soziales Schmarotzertum. All das macht die Lage der komniandierenden Sowjetschicht trotz ihrer Machtfülle und trotz des sie umgebenden Dunstschleiers der Schmeichelei im höchsten Grade widersprüchlich, zweideutig und würdelos.*24

Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern. Gegen eine Wiederherstellung der Leibeigenschaft und des Zunftwesens schützte sie die Überlegenheit ihrer Produktionsweise. Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf der Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk selbständig. Hingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger, gebunden. Die Vorherrschaft sozialistischer Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist keineswegs durch den Automatismus der Wirtschaft gesichert - bis dahin ist es noch weit -‚ sondern durch politische Maßnahmen der Diktatur. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völlig von dem der Staatsmacht ab.

Ein Zusammenbruch des Sowjetregimes würde unweigerlich einen Zusammenbruch der Planwirtschaft und damit die Abschaffung des staatlichen Eigentums nach sich ziehen. Die Zwangsbindung der Trusts untereinander und zwischen den Fabriken eines Trusts würde sich lockern. Die erfolgreichsten Unternehmen würden sich beeilen, eigene Wege zu gehen. Sie könnten sich in Aktiengesellschaften umwandeln oder eine andere transitorische Form des Eigentums finden, etwa eine mit Gewinnbeteiligung der Arbeiter. Gleichzeitig und noch leichter würden die Kolchosen zerfallen. Der Sturz der heutigen bürokratischen Diktatur wäre also, wenn keine neue sozialistische Macht diese ersetzt, gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur.

Ist aber die sozialistische Macht für die Erhaltung und Entwicklung der Planwirtschaft noch unbedingt nötig, so wird die Frage, auf wen sich die heutige Sowjetmacht stützt und in welchem Maße der sozialistische Charakter ihrer Politik als gesichert angesehen werden kann, um so wichtiger. Auf dem 11. Parteitag im März 1922 sagte Lenin gleichsam zum Abschied von der Partei, an die führende Schicht gerichtet: "Die Geschichte kennt alle möglichen Sorten von Metamorphosen; sich auf Überzeugungstreue, Ergebenheit und sonstige prächtige seelische Eigenschaften verlassen - das sollte man in der Politik ganz und gar nicht ernst nehmen."*25 Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat die Macht die soziale Zusammensetzung ihrer führenden Kreise noch gründlicher verändert als ihre Ideen. Da die Bürokratie von allen Schichten der Sowjetgesellschaft ihre eigene soziale Frage am besten gelöst hat und mit dem Bestehenden vollauf zufrieden ist, bietet sie keinerlei subjektive Garantien mehr für eine sozialistische Ausrichtung ihrer Politik. Sie verteidigt das Staatseigentum nur in dem Maße, in dem sie das Proletariat fürchtet. Diese heilsame Furcht wird aufrechterhalten und genährt durch die illegale Partei der Bolschewiki-Leninisten*26 , die den bewußtesten Ausdruck der sozialistischen Tendenz gegen die bürgerliche Reaktion darstellt, von der die thermidorianische Bürokratie ganz und gar durchdrungen ist. Als bewußte politische Kraft hat die Bürokratie die Revolution verraten. Aber die siegreiche Revolution ist zum Glück nicht nur ein Programm und ein Banner, nicht nur ein Ensemble politischer Institutionen, sondern auch ein System sozialer Beziehungen. Es zu verraten, ist wenig, man muß es auch noch stürzen. Die Oktoberrevolution ist von der herrschenden Schicht verraten, aber noch nicht gestürzt. Sie besitzt eine große Widerstandskraft, die zusammenfällt mit den neuen Eigentunisverhältnissen, der lebendigen Kraft des Proletariats, dem Bewußtsein seiner besten Elemente, der ausweglosen Lage des Weltkapitalismus und der Unvermeidlichkeit der Weltrevolution.

4. Die Geschichte hat die Frage des Charakters der UdSSR noch nicht entschieden

Um den Charakter der heutigen UdSSR besser zu verstehen, stellen wir zwei Hypothesen über ihre Zukunft auf. Stellen wir uns vor, die Sowjetbürokratie sei von einer revolutionären Partei gestürzt, die alle Eigenschaften des alten Bolschewismus besitzt, zugleich aber auch um die Welterfahrung der letzten Periode reicher ist. Eine derartige Partei würde zunächst die Demokratie in den Gewerkschaften und den Sowjets wiederherstellen. Sie könnte und müßte den Sowjetparteien die Freiheit wiedergeben. Gemeinsam mit den Massen und an ihrer Spitze würde sie den Staatsapparat schonungslos säubern. Sie würde Titel und Orden, überhaupt alle Privilegien abschaffen und die Ungleichheit in der Entlohnung auf das Maß des für Wirtschaft und Staatsapparat Lebensnotwendigen beschränken. Sie würde der Jugend Gelegenheit geben, selbständig zu denken, zu lernen, zu kritisieren und sich zu formen. Sie würde entsprechend den Interessen und dem Willen der Arbeiter- und Bauernmassen tiefgehende Änderungen in der Verteilung des Volkseinkommens vornehmen. Doch was die Eigentumsverhältnisse betrifft, bräuchte die neue Macht keine revolutionären Maßnahmen zu ergreifen. Sie würde das Planwirtschaftsexperiment fortsetzen und weiterentwickeln. Nach der politischen Revolution, d.h. nach dem Sturz der Bürokratie, hätte das Proletariat in der Wirtschaft eine Reihe höchst wichtiger Reformen, doch keine neue soziale Revolution durchzuführen.

Würde dagegen die herrschende Sowjetkaste von einer bürgerlichen Partei gestürzt, so fände letztere unter den heutigen Bürokraten, Administratoren, Technikern, Direktoren, Parteisekretären, den privilegierten Spitzen überhaupt, nicht wenige willfährige Diener. Eine Säuberung des Staatsapparates wäre natürlich auch in diesem Falle erforderlich, doch hätte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als eine revolutionäre Partei. Die Hauptaufgabe der neuen Staatsmacht wäre jedoch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherzustellen. Vor allen Dingen gälte es, die Vorbedingungen zur Absonderung von Großbauern aus den schwachen Kolchosen und zur Umwandlung der starken Kolchosen in Produktionsgenossenschaften bürgerlichen Typs, in landwirtschaftliche Aktiengesellschaften, zu schaffen. Auf dem Gebiete der Industrie würde die Entnationalisierung bei den Betrieben der Leicht- und Nahrungsmittelindustrie beginnen. Das Planprinzip würde während einer Übergangszeit auf eine Reihe von Kompromissen hinauslaufen, die zwischen der Staatsmacht und den einzelnen "Genossenschaften", d.h. den potentiellen Eigentümern (Sowjetindustriekapitalisten, ehemaligen, emigrierten Besitzern und ausländischen Kapitalisten), geschlossen würden. Obwohl die Sowjetbürokratie einer bürgerlichen Restauration gut vorgearbeitet hat, müßte das neue Regime auf dem Gebiete der Eigentumsformen und der Wirtschaftsmethoden nicht Reformen, sondern eine soziale Umwälzung durchführen.

Nehmen wir jedoch an, daß weder die revolutionäre noch die konterrevolutionäre Partei die Macht erobert und die Bürokratie nach wie vor an der Spitze des Staates bliebe. Selbst unter diesen Bedingungen werden die sozialen Beziehungen nicht gerinnen, d.h. feste Form annehmen. Keinesfalls kann man damit rechnen, daß die Bürokratie friedlich und freiwillig zum Besten der sozialistischen Gleichheit ihrer selbst entsage. Hält sie es heute für möglich, trotz der offensichtlichen Peinlichkeit einer solchen Maßnahme, Titeln und Orden wiedereinzuführen, so wird sie sich auf einer weiteren Stufe unvermeidlich nach Stützen in den Eigentumsverhältnissen umsehen müssen. Man mag einwenden, es sei dem großen Bürokraten gleichgültig, welche Eigentumsformen vorherrschen, solange sie ihm nur das nötige Einkommen garantieren. Dieser Einwand übersieht nicht nur, wie unsicher die Rechte des Bürokraten sind, sondern auch die Frage der Nachkommenschaft. Vom Himmel ist der neuerstandene Familienkult nicht gefallen. Die Privilegien sind nur halb soviel wert, wenn man sie nicht den Kindern vermachen kann. Doch das Erbrecht ist vom Eigentumsrecht nicht zu trennen. Es genügt nicht, Direktor eines Trusts zu sein, man muß Teilhaber sein. Ein Sieg der Bürokratie auf diesem entscheidenden Gebiet würde bedeuten, daß sie sich in eine neue besitzende Klasse verwandelt hat. Umgekehrt würde ein Sieg des Proletariats über die Bürokratie die Wiedergeburt der sozialistischen Revolution gewährleisten. Die dritte Variante führt uns folglich zurück zu den beiden ersten, mit denen wir der Einfachheit und Klarheit halber begannen.

Das Sowjetregime als Übergangs- oder Zwischenregime zu bezeichnen heißt, abgeschlossene soziale Kategorien wie Kapitalismus (darunter der "Staatskapitalismus") oder auch Sozialismus auszuschalten. Aber diese an sich schon ganz ungenügende Bezeichnung kann die falsche Vorstellung erwecken, als sei vom heutigen Sowjetregime ein Übergang nur zum Sozialismus möglich. Tatsächlich ist auch ein Zurückgleiten zum Kapitalismus durchaus möglich. Eine vollständigere Definition wird notwendigerweise komplizierter und schwerfälliger sein.

Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der Doktrinäre werden zweifellos mit solch fakultativen Bestimmungen nicht zufrieden sein. Sie möchten kategorische Formulierungen: ja ja, nein nein.*27 Soziologische Fragen wären ohne Zweifel einfacher, wären die sozialen Erscheinungen immer vollendet. Nichts ist jedoch gefährlicher, als auf der Suche nach logischer Vollendung aus der Wirklichkeit die Elemente auszumerzen, die bereits heute das Schema verletzen, morgen aber es vollends über den Haufen werfen können. In unserer Analyse hüten wir uns am meisten davor, der Dynamik des gesellschaftlichen Werdens, das keine Vorläufer und keine Analogien kennt, Gewalt anzutun. Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nicht darin, einen unvollendeten Prozeß mit einer vollendeten Definition zu versehen, sondern darin, ihn in all seinen Etappen zu verfolgen, seine fortschrittlichen und seine reaktionären Tendenzen herauszuschälen, deren Wechselwirkung aufzuzeigen, die möglichen Entwicklungsvarianten vorauszusehen und in dieser Voraussicht eine Stütze für das Handeln zu finden.


Anmerkungen von Seminar-AG des KB Nord:
*1
"Das sozialistische Eigentum in der Sowjetunion hat entweder die Form von Staatseigentum (allgemeines Volkseigentum) oder die Form von genossenschaftlich-kollektivwirtschaftlichem Eigentum (Eigentum einzelner Kollektivwirtschaften, Eigentum genossenschaftlicher Vereinigungen)." (Entwurf der Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vorgelegt von der Verfassungskommission des ZEK der UdSSR und vom Präsidium des ZEK der UdSSR gebilligt zur Einreichung zwecks Behandlung durch den Unionskongreß der Sowjets, in: Rundschau, Nr. 28, 18.6.1936, S. 1093 - 1100, hier S. 1093.)

*2
"Platon ist mir ein Freund, doch höher steht mir die Wahrheit" (lat. amicus Plato, sed magis amica veritas) - Das Sprichwort geht auf eine Stelle in Platons Phaidon zurück, an der Sokrates sagt: "Ihr aber, wenn ihr mir folgen wollt, kümmert euch wenig um den Sokrates, sondern weit mehr um die Wahrheit." (Phaidon, Kap. 49,91.) Die sprichwörtliche Form findet sich bei dem alexandrinischen Philosophen Ammonios Hermeiou (um 385 n.u.Z.) und bei dem englischen Theologen Roger Bacon (um 1219 - um 1292). Schon Martin Luther ersetzte den Namen Sokrates durch den Platons; doch scheint die endgültige Form des geflügelten Wortes auf Miguel Cervantes de Saavedra (1547 - 1616) zurückzugehen. Nach Ansicht Trotzkis ist den "Freunden der Sowjetunion" Stalin (bzw. die Bürokratie) teurer als die Wahrheit.

*3
"Wenn in unseren erstklassigen Fabriken und Werken, in unseren Sowjetgütern und Kollektivwirtschaften, in unserer Roten Armee eine genügende Anzahl von Kadern vorhanden wäre, die fähig sind, diese Technik zu meistern, dann würde unser Land einen drei- und viermal größeren Nutzeffekt erzielen, als es jetzt erzielt. Deshalb muß jetzt das Schwergewicht auf die Menschen, auf die Kader, auf die Mitarbeiter gelegt werden, die die Technik beherrschen. Deshalb muß die alte Losung - ‚die Technik entscheidet alles‘ -‚ die die bereits zurückgelegte Periode widerspiegelt, als es bei uns Hunger nach der Technik gab - durch eine neue Losung ersetzt werden, durch die Losung ‚die Kader entscheiden alles‘. Das ist jetzt die Hauptsache." (Rede des Genossen Stalin gehalten am 4. Mai 1935 im Kremlpalast anläßlich der Abschlußfeier der Akademieabsolventen der Roten Armee, in: Rundschau, Nr. 22, 16.5.1935, S. 1127 f., hier S. 1128.)

*4
"Kader" (frz. "cadre": Rahmen): Stamm (meist Offiziere und Unteroffiziere) eines Heeres; im stalinistischen Jargon eine die Massen aktivierende Schicht qualifizierter und politisch geschulter Funktionäre, Manager und Bestarbeiter. Die Große Sovjetenzyklopädie, ross., 3. Ausg., Bd. 11, S. 132 f., definiert: "Grundlegender (permanenter) Stab geübter, qualifizierter Arbeiter in Unternehmungen, Institutionen, Partei, Gewerkschaft und öffentlichen Organisationen, der in einigen Arbeitsgebieten beschäftigt ist. Im weiten Sinne alle permanenten Mitglieder eines Stabs."

*5
"Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumption identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion, als über die andren Momente. Von ihr beginnt der Prozeß immer wieder von neuem. Daß Austausch und Konsumption nicht das Übergreifende sein können, ist von selbst klar. Ebenso von der Distribution als Distribution der Produkte. Als Distribution der Produktionsagenten aber ist sie selbst ein Moment der Produktion . . . Es findet Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Momenten statt. Dies der Fall bei jedem organischen Ganzen." (Marx, Einleitung zu den ‚Grundrissen‘ [1857], MEW 42, S. 19 - 45, hier S. 34.)

*6
Wahlspruch des absolutistischen "Sonnenkönigs" Ludwig XIV. von Frankreich (1638-1715). "Die höchste Macht erlangte der Absolutismus, als die Bourgeoisie, die sich auf den Schultern des dritten Standes erhoben hatte, den Kräften des Feudaladels das Gleichgewicht halten konnte. Eine solche Situation, in der die herrschenden Klassen sich politisch die Waage hielten, sicherte der Staatsorganisation die größte Unabhängigkeit. Ludwig XIV. pflegte zu sagen: L‘etat c‘est moi (Der Staat bin ich)." (Trotzki, Die Russische Revolution 1905, S. 18.)

*7
Im Juni 1931 erklärte Stalin, die Fluktuation der Arbeiter sei "zu einer Geißel der Produktion geworden, die unsere Betriebe desorganisiert." ("Neue Verhältnisse - Neue Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus" [23.Juni 1931], SW 13, S. 51). Am 27.12.1932 wurde - unter Rückgriff auf Kontrollmaßnahmen des zaristischen Polizeistaates - ein Inlandspaß eingeführt, der, ebenso wie das "Arbeitsbuch" die Freizügigkeit für Arbeiter und Kolchosbauern praktisch aufhob.

*8
"Entwurf der Verfassung..."‚ Art. 4, (Anm. 1), S. 1093.

*9
Entsprechend hieß es dann im Programm der antibürokratischen Revolution in der UdSSR: "So wie früher weder Bourgeoisie, noch Kulakentum zu den Sowjets zugelassen waren, so müssen auch heute die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets vertrieben werden." (Trotzki, "Das Übergangsprogramm" [1938], in: Schriften, Bd. 3.)

*10
In den ersten Jahren der Revolution wurde als "Staatskapitalismus" die Fortexistenz des Privateigentums in bestimmten Wirtschaftssektoren unter Kontrolle des Arbeiterstaats verstanden. (Zu Lenins Konzeption vgl. LW 23, Anm. 30.) Die "Linken Kommunisten" (Bucharin, Ossinski, Radek, W. Smirnow) attackierten 1918 Lenins Industriepolitik als "Staatskapita1ismus". Verschiedenartige ultralinke Strömungen (die "Demokratischen Zentralisten", vgl. Text 21 Anm. 31; die Gruppe um Hugo Urbahns, vgl. Text 23) haben die politische Ökonomie der UdSSR als "staatskapitalistisch" charakterisiert.
Menschewistische Theoretiker, so etwa Theodor Dan ("Das dritte, entscheidende Jahr", in: RSD, Mitteilungsblatt der Russischen Sozial-Demokratie, Nr. 50, 30.12.31, S. 1) sprachen vom "Staatskapitalismus einer terroristischen Diktatur, nicht eines demokratischen Staates";
entsprechend war 1932 bei Solomots Schwarz die Rede vom "Überwiegen staatskapitalistischer Züge im russischen Wirtschaftssystem" (zitiert nach: Simon Wollin, "The Menshewiks under the NEP and in Emigration", in: Haimson [Hg.], The Mensheviks, S. 327).
(Vgl. zu einigen neueren Interpretationen der UdSSR als «staatskapitalistisches« Land:
Paul Mattick, "Marxismus und die Unzulänglichkeiten der Arbeiterbewegung. Über den Zusammenhang von kapitalistischer Entwicklung und sozialer Revolution", in: Claudio Pozzoli [Hg.], Jahrbuch Arbeiterbewegung, Bd. 1, Über Karl Korsch, Frankfurt [Fischer] 1973, S. 189 - 216;
Werner Olle, "Zur Problematik der mao-strukturalistischen Theorie des Staatskapitalismus", in: Peter W. Schulze [Hg.], Übergangsgesellschaft: Herrschaftsform und Praxis am Beispiel der Sowjetunion, Frankfurt [Fischer] 1974, S. 17-28;
Werner Olle, "Zur Theorie des Staatskapitalismus - Probleme von Theorie und Geschichte in Theorien der Übergangsgesellschaft", in: Probleme des Klassenkampfs, Nr. 11/12, 1974, S. 91 - 144;
Tony Cliff, Staatskapitalismus in Rußland, Eine marxistische Analyse, Frankfurt [SAG] 1975;
Amadeo Bordiga, Struttura economica e sociale della Russia d‘oggi, Mailand [il programma comunista] 1976.)

*11
Durch Staatsinterventionen versuchten die Regierungen der kapitalistischen Länder die Folgen der Wirtschaftskrise seit 1929 einzudämmen.
In Italien wurden zunächst die drei vom Zusammenbruch bedrohten Großbanken gestützt und in das Institut für industriellen Wiederaufbau (IRI) überführt. Damit gerieten die von den Kreditinstituten kontrollierten Wirtschaftszweige unter staatliche Aufsicht. Es handelte sich um die Kohlengruben, zwei Drittel des übrigen Bergbaus und der Stahlbranche, 43,9 % der Telefonindustrie und 36,8 % des Transportwesens
(vgl. Karin Priester, Der italienische Faschismus, Ökonomische und ideologische Grundlagen, Köln [Pahl-Rugenstein] 1972, S. 264 f.;
Jens Petersen, »Faschismus und Industrie in Italien 1919 - 1929«, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 7, Frankfurt [Suhrkamp] 1976, S. 133 - 190).

*12
In Deutschland intervenierte der Staat mit Hilfe von öffentlichen Aufträgen, Rohstoff-, Preis- und Gewinnkontrollen. Im Rahmen der "totalitären Monopolwirtschaft" (Neumann) kooperierten von der NSDAP kontrollierte staatliche Planungsinstanzen und Industrielle bei der Vorbereitung und Durchführung des imperialistischen Krieges.
(Vgl. Franz Neumann, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 - 1944, Frankfurt [EVA] 1977, Teil 2 und zweiter Teil des Anhangs;
Charles Bettelheim, Die deutsche Wirtschaft unter dem Nationalsozialismus, München [Trikont] 1974.)

*13
Nachdem 1929 das Hauptwerk des englischen Ökonomen John Maynard Keynes erschienen war, das für eine staatsinterventionistische Politik eintrat, wurden in den USA 1933 - 1938 die ersten Versuche mit keynesianischer Wirtschaftssteuerung unternommen. Über Arbeitsbeschaffungs-Programme, sozialstaatliche Hilfsmaßnahmen für Industriearbeiter, Pächter und Landarbeiter sollte die Wirtschaftskrise eingedämmt werden. Die Finanzierung erfolgte durch eine defizitäre Haushaltspolitik. Der "New Deal" war konjunkturpolitisch ein Fehlschlag; die Arbeitslosigkeit wurde auch in den USA erst durch die Aufrüstungskonjunktur und den Zweiten Weltkrieg beseitigt.
(Vgl. Arthur Alphonse Ekirch, Ideologies and Utopias, The Impact of the New Deal on American Thought, 3 Bde., Chicago [Quadrangle Books] 1971;
Wilhelm Kreiner, Der New Deal im amerikanischen politischen Denken, Dissertation Universität Mainz 1971;
Heinrich August Winkler [Hg.], Die große Krise in Amerika, Vergleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929 - 1939, Göttingen [Vandenhoeck und Ruprecht] 1973.)

*14
Das Programm der in der französischen "Volksfront" zusammengeschlossenen Parteien beschränkte sich auf die Verstaatlichung der Kriegsindustrie und weniger anderer Unternehmungen; faktisch wurden schließlich zehn Rüstungsunternehmen gegen hohe Entschädigungszahlungen nationalisiert. Die Bank von Frankreich blieb in privater Hand; allerdings standen nun den 200 Großaktionären auch Vertreter von 4.000 Kleinaktionären, Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Genossenschaften im Aufsichtsrat gegenüber.(Georges Lefranc, Le Front Populaire [1934 - 1938], Paris [Presses Universitaires] 1974, S. 79; Jacques Kergoat, La France du Front Populaire, Paris [La Douverte] 1986, S. 343 - 346.)

*15
Die systematische staatliche Förderung des technischen Fortschritts durch Aufträge, Subventionen und Beteiligungen datiert aus dem Zweiten Weltkrieg. Die eigentliche Domäne der mit öffentlichen Mitteln betriebenen privaten und staatlichen Forschung war zunächst der Rüstungssektor (Flugzeuge, Raketen, Atomenergie, elektronische Datenverarbeitung). Nach und nach wurde die staatliche Finanzierung aber zu einem unentbehrlichen Schrittmacher für die Steigerung der naturwissenschaftlich-technischen Kapazität der nationalen Wirtschaften überhaupt, und das heißt zur Steigerung ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. (Vgl. Mandel, Spätkapitalismus, Kapitel VII.)

*16
Benito Mussolini, "La situazione economica (Discorso pronunciato alla Camera dei Deputati nella seconda tornata del 26 maggio 1934)", jetzt in: ders., Opera Omnia, Bd. 26, S. 233 - 259, hier S. 256.

*17
"Korporativer Staat" ("Ständestaat"): Von "korporativistischen" Ideologien geprägte Ordnung von Gesellschaft und Staat auf der Basis von Berufsverbänden (statt Territorialeinheiten). Korporativistische Zwangsvereinigungen von Kapital und Arbeit in hierarchisch-zentralistischen Organisationen richteten sich gegen freie Konkurrenz, Klassenkampf, Koalitions- und Meinungsfreiheit. Etatistische Nationalisten und nationalistische Syndikalisten traten in Italien gemeinsam für den Kolonialkrieg in Nordafrika (1911) und eine Beteiligung am Ersten Weltkrieg (1914) ein. Beide Strömungen trafen sich dann im korporativistischen Faschismus. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entwickelten neben den Faschisten auch katholische Bewegungen korporative Programme. Die Politik des Mussolini-Regimes war seit 1925 vom Korporativismus geprägt:
1926 entstand ein Ministerium, 1930 ein Nationalrat der Korporationen; der formell noch existierende Parlamentarismus wurde abgeschafft und ein korporativistisches Wahlsystem eingeführt. Schließlich wurde auch die Abgeordnetenkammer in «Kammer der Fasci und Korporationen» umbenannt. Am italienischen Vorbild orientierten sich die korporativen Systeme und Verfassungen Spaniens, Portugals und einiger lateinamerikanischer Staaten. In der Regel hatten die korporativistischen Institutionen, die als Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus propagiert wurden, nur beratende Funktion. Ihre Hauptaufgabe war es, eine dekorative Fassade für faschistische und reaktionäre Diktaturen bereitzustellen.
(Vgl. Priester, Der italienische Faschismus;
Enzo Santarelli, Storia del fascismo, Bd. 2, Rom [Editori Riunitij 1973;
Alexander De Grand, Bottai cia culturafascista, Bari [Laterza] 1978.)

*18
Rosario Sottilaro, "L‘economia mista‘, Dal sindacalismo giuridico al sindacalismo economico", in: Il Popolo d‘Italia, 11.6.36 (Rezension von Sergio Panunzro, L‘economia mista, Mailand [Hoepli] 1936). (Die von uns in eckige Klammern gesetzte Textpassage fehlt bei Trotzki.)

*19
"Feroci" - einer der Decknamen von Alfonso Leonetti (1895 - 1984), der in den dreißiger Jahren dem Sekretariat der Internationalen Linken Opposition angehörte. Aus Andria (Süditalien) stammend, arbeitete Leonetti seit 1918 in Turin als Redakteur der sozialistischen Parteizeitung Avanti! (Vorwärts!) unter Leitung von Serrati. Gehörte zur Gruppe des Ordine nuovo ("Neue Ordnung") um Antonio Gramsci und Angelo Tasca, die 1921 zusammen mit den Anhängern Amadeo Bordigas die Kommunistische Partei Italiens (KPI) gründeten. Als Journalist verschiedener Parteizeitungen, Mitglied des ZK und des PB war Leonetti zunächst illegal in Italien, dann im Pariser Exil tätig. Als er gemeinsam mit den Politbüro-Mitgliedern Paolo Ravazzoli und Pictro Tresso gegen die Kominternpolitik der sogenannten "3. Periode" protestierte, wurde er 1930 aus der KPI ausgeschlossen. Nach der Kontaktaufnahme mit Trotzki gab die "Neue Italienische Opposition" um Leonetti (NO! in Abgrenzung von der alten, bordighistischen Oppositionsströmung) von April 1931 bis Juli 1933 ein eigenes Bulletin heraus. Da Leonetti Trotzkis Kritik an der Volksfront-Politik der Komintern ablehnte, trennte er sich von der Linken Opposition. Als antifaschistischer Widerstandskämpfer wurde er 1945 Mitglied der französischen KP. 1960 schloß er sich nach seiner Rückkehr nach Italien der KPI an. Er setzte sich für die Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus ein und war Mitarbeiter von Publikationen der revolutionären Linken. In seinem Testament von 1982 bekannte er sich "zum Banner Trotzkis und der IV. Internationale, der Utopie, die aus dieser barbarischen Gesellschaft die Cite communiste der freien Menschheit machen wird." («Alfonso Leonetti [1895 - 1984]«, in: Cahiers Leon Trotsky Nr. 21, 1985, S. 122 - 124, hier S.124.)
(Alfonso Leonetti, Da Andria contadina a Torino operaia, Urbino Argalia] 1974; Un comunista. 1895 - 1930, hg. v. Ugo Dotti, Milano [Feltrinelli] 1977.
Zur Geschichte der NO! vgl. Roberto Massari [Hg.], A l‘opposizione ne PCI enn Trotsky e Gramsci [Bullettino del l‘Opposizione Communista Italiana, 1931 - 19331, eingeleitet v. Alfonso Leonetti, Romia i Controcorrente J 1, S. 77.)

*20
Das Zitat stammt aus einem undatierten Brief Leonettis an Trotzki (Trotzki Archiv, Nr. 2724), der Informationen über die Wirtschaftspolitik des italienischen Faschismus enthielt, auf die Trotzki sich in einem Antwortschreiben (vom 7.6.1936, frz. in: TIE 10, S. 65 f.) bezog, in dem er Leonetti um ergänzende Angaben zur italienischen Wirtschaftssituation bat.
*21
Mussolini, "La situazione..." (Anm. 17), S. 256.

*22
In den Jahren 1938 - 41 erschienen eine Reihe von politisch-soziologischen Publikationen, deren Autoren in den politisch-ökonomischen Systemen des italienischen und deutschen Faschismus, des Stalinismus und sogar des amerikanischen "New Deal" verwandte Züge zu entdecken glaubten, die das Aufkommen einer neuen Gesellschaftsformation zwischen Kapitalismus und Sozialismus anzeigten. Bruno Rizzi nannte sie "bürokratischen Kollektivismus", James Burnham sprach von der "Revolution der Manager", Rudolf Hilferding von "totalitärer Staatswirtschaft".
(Vgl. Bruno Rizzi, La bureaucratisation du monde, Paris [Presses modernes] 1939 [vgl. dazu Text 61, Anm. 4.];
Rudolf Hilferding, «Staatskapitalismus oder totalitäre Staatswirtschaft?« [1940], in: Cora Stephan [Hg.], Zwischen den Stühlen oder Über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis, Schriften Rudolf Hilferdings 1904 - 1940, Berlin - Bonn [Dietz], S. 288 - 296;
James Burnham, Das Regime der Manager [1941], Stuttgart [Union] 1948;
Franz Neumann, Behemoth;
Antonio Carlo, Politische und ökonomische Struktur der UdSSR [1917-1975], Diktatur des Proletariats oder bürokratischer Kollektivismus?, Berlin [Wagenbach] 1972.)

*23
Vgl. das Kapitel "Die herrschende Klasse" in: Neumann, Behemoth, S. 425 - 463.

*24
Die Bürokratie wurde Herr einer herrenlosen Wirtschaft; sie etablierte sich als politischer und kultureller Vormund der Nation. "Was die oberen Schichten der Bürokratie, der Parteihierarchie, der Managergruppen und des Militärs mit jeder Ausbeuterklasse gemein haben, ... ist, daß ihre Einkünfte zumindest teilweise dem von den Arbeitern produzierten ‚Mehrwert‘ entstammen. Ferner beherrschen sie die Sowjetgesellschaft wirtschaftlich, politisch und kulturell. Aber was dieser sogenannten neuen Klasse fehlt, ist Eigentum. Sie besitzen weder Produktionsmittel noch Boden. Ihre materiellen Privilegien sind auf die Sphäre des Verbrauchs beschränkt. .. Sie können ihren Nachkommen keinen Reichtum hinterlassen, das heißt, sie können sich nicht als Klasse verewigen." (Isaac Deutscher, Die unvollendete Revolution [1967], Frankfurt [Fischer] 1970, S. 70 und 67 f.)

*25
Vgl. Lenin, "Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B)", (27.3.1922), LW 33, S. 274.

*26
Vgl. Trotzki, "Über die Sowjetische Sektion der Vierten Internationale" (11.1.1936), engl. in: TWr 1935 - 36, S. 235 - 241, auch Schriften, Bd. 3;
Pierre Broue "Les trotskystes en Union sovjetque [1929 - 1938]", in: Cahiers Leon Trotsky, Nr. 6 [1980], S. 5 - 66.

*27
"Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem anderen zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen; seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: Ein Ding kann ebenso wenig zugleich es selbst und ein andres sein." (Engels, "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" [1880], MEW 19,S. 189 - 228, hier S. 203. Vgl. auch Trotzki, "ABC der materialistischen Dialektik" (1939), in: Ders., Denkzettel, S. 412 - 416.)


66. Die jugoslawische Position

Die Bedeutung der jugoslawischen Kritik am Stalinismus liegt darin, daß sie - noch zu Lebzeiten Stalins - Kurz zu einigen theoretischen Grundlagen der jugoslawischen Kritiker: Die sozialistische Übergangsgesellschaft sie kann und muß aber die objektiven Voraussetzungen dafür schaffen um diese Gefahr unter Kontrolle zu halten.

Und damit kommen wir zur konkreten Kritik am sowjetischen Weg: Laut Tito kam es zur bürokratischen Entartung der SU, Für den Cheftheoretiker der KPJ, Kardelij, begann der Prozeß der Bürokratisierung mit der Wandlung der KPdSU:
"Die Geschichte der Sowjetmacht hat uns gezeigt, daß eine aus der Revolution hervorgewachsene Arbeiterpartei zu einem Organ der Bürokratenkaste in dem Augenblick zu werden begann, als sie anfing, ‚an Stelle‘ oder ‚im Namen‘ der Arbeiterklasse zu regieren. Indem sie sich mit dem Apparat der staatlichen Vollzugsmacht verknüpfte und sich mit ihm identifizierte, (indem sie die absolute Macht über das gesamte Gesellschaftsleben in diesem Apparat, also in ihren eigenen Händen, konzentrierte), wurde sie zu einer Macht über die Arbeiterklasse und die Werktätigen überhaupt. Damit hörte sie auf, eine Arbeiterpartei zu sein, und die Arbeiterklasse hörte auf, die herrschende Klasse zu sein."
Zur Ausrichtung der Partei meint Tito 1952:
"Stalin liquidierte nach und nach alle verdienten Bolschewiken... Auf diese Art konnte er die Partei völlig unterwerfen und sie zu einem gehorsamen Instrument für die Erreichung seiner Ziele machen. Was ist heute die Partei in der Sowjetunion? Nichts anderes als ein gewöhnliches Anhängsel des NKWD. Sie ist zu einem gewöhnlichen bürokratischen Apparat für die Unterwerfung und Unterdrückung der Völker nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch außerhalb ihrer Grenzen geworden."
Die objektiven Gründe für die "bürokratische Entartung sowjetischen Typs" sieht Kardelij ebenso wie die anderen Kritiker in der allgemeinen Rückständigkeit der SU,
"in der ungewöhnlich großen allgemeinen Rückständigkeit der sozial-wirtschaftlichen Struktur Rußlands. Ungewöhnlich rückständig war v.a. das russische Dorf ... das kleine Produzentenelement, aus dem ‚täglich der Kapitalismus geboren wird‘. Dieses Element hat zwar nicht als solches gesiegt und auch nicht zur Restaurierung des alten Systems geführt, aber es hat dennoch die Macht der Arbeiterklasse untergraben. Indem die Revolution einen gewaltigen Bürokratenmechanismus schaffen mußte, um dieses Element zu unterdrücken und zu unterwerfen, schuf sie zugleich auch die Kraft, die sich sowohl die Revolution selbst als auch die Arbeiterklasse unterwarf ... In folge der rückständigen Klassenstruktur und der Schwäche des Proletariats ... erhielt der Vollzugsapparat eine außergewöhnliche Stärke und Macht und begann eine selbständige Bürokratenkaste mit eigenen Gesellschaftsinteressen herauszubllden, die an das Weiterbestehen staatskapitalistischer Verhältnisse gebunden war. ... Dieses System kann sich aufrechterhalten, indem es wechselseitig Arbeiter und Bauern gegeneinander ausspielt und indem es ‚die Gefahr eines äußeren Angriffs‘ übertreibt."
Branco Horvat, maßgeblicher jugoslawischer Ökonom, geht sogar so weit - soweit sind bisher nur die jugoslawischen Marxisten gegangen - die zentrale Wirtschaftsplanung als eine Ursache der bürokratischen Deformation anzuprangern und zum Beweis seiner These auf die Forschungsergebnisse der liberalen Wirtschaftswissenschaftler hinzuweisen.
"Seine endgültige Bestätigung hat dieses System während des ersten Fünfjahresplans erreicht. ... Für die Durchführung dieses Plans war eine gewaltige Machtkonzentration in den Vollzugsorganen der Regierung notwendig"
- und zu diesen rechnet Kardelij auch den führenden Kern der KPdSU -
"also in den Organen, die bereits bürokratisch geworden waren und die daher die absolute Macht unvermeidlich zu einer geschlossenen künstlichen Kaste machen mußte."
Laut Kardelij wurde mit den beiden ersten Fünfjahresplänen ein gewaltiger wirtschaftlicher Sieg erreicht, gleichzeitig damit aber auch ein "Sieg der staatskapitalistischen Bürokratendespotie".
"Aus dem Apparat der Sowjets in den Republiken, Provinzen und Kreisen wurde der Vollzugsapparat der zentralen Organe, und die Sowjets selbst wurden zu einer reinen Paradedekoration ohne Rechte und ohne Macht."
Zur Charakterisierung der SU zieht Tito 1952 das Resümee: Die SU
"ist von der sozialistischen Entwicklung auf den Weg des Staatskapitalismus mit einem bisher noch nicht dagewesenen Bürokratensystem abgewichen. Immer mehr wird er [der Bürokratismus] zu einer ausbeuterischen Macht, die sich über die Gesellschaft gesetzt hat, die nicht nur jede Weiterentwicklung der Revolution und revolutionären Denkens hemmt, sondern schrittweise die Errungenschaften der Oktoberrevolution liquidiert und immer mehr einen konterrevolutionären Charakter annimmt."
Die stalinistische Behauptung von der Verwirklichung des Sozialismus in der SU bezeichnet Tito als "Phrasendrescherei": Die Sowjetpraxis
"zeigt, daß in der Sowjetunion die Ausbeutung des Arbeiters nicht beseitigt ist, denn sie leiten die Produktion nicht, sondern sind nur schlechtbezahlte Lohnarbeiter, sie haben keinen Anteil an der Verteilung der Mehrarbeit, die nimmt vielmehr die Staatsbürokratie vollständig in der Form von Riesengehältern und Prämien. Die Praxis zeigt, daß es dort sehr wenig sozialistische Formen in der Wirtschaft gibt, daß sich vielmehr die staatskapitalistischen Formen immer stärker entwickeln und immer mehr die scheußliche Form eines staatskapitalistischen Bürokratensystems annehmen."
Dieser Staatskapitalismus wird charakterisiert durch einen neuerlichen antagonistischen Widerspruch
"zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion mit gesellschaftlichen Produktionsmitteln einerseits, und dem Monopol des Staates als selbständige wirtschaftliche Macht auf dem Gebiet der Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung andererseits."
Laut Kardelij hat
"noch nie in der Geschichte eine herrschende Klasse - sowohl auf politischem als auch auf wirtschaftlichem Gebiet - soviel Macht in ihren Händen gehalten, und unbestritten hat noch nie eine herrschende Kaste solche Macht auch auf ideologischem Gebiet besessen wie die sowjetische Bürokratenkaste..."
Das führte dazu,
"daß die sozialistische, politische und wissenschaftliche Kritik der Gesellschaftsverhältnisse in der SU verboten oder unmöglich gemacht ist. Die sozialistische wissenschaftliche Theorie aber wurde durch bürokratischen Praktizismus und sterile Götzenanbetung ersetzt."
Die stalinistische "Weiterentwicklung" bezeichnet er als reine Rechtfertigungsideologie für die bestehenden staatskapitalistischen Verhältnisse und die Bürokratenkaste, v.a. in der Theorie von der Stärkung des Staats in der Übergangsgesellschaft.

Für das jugoslawische Sozialismusverständnis reicht aber nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und ein zentraler Plan, sondern gerade die Aufhebung des Staats,
"die Überwindung des Etatismus durch die Stärkung der Selbstorganisation der Arbeiterklasse"
(Vranicki), gehört untrennbar zum Sozialismus.

Weitere elementare Bestandteile im jugoslawischen Sozialismusverständnis sind: Ausgehend von diesem Sozialismusbegriff können wir die jugoslawische Kritik am Stalinismus zusammenfassen: Juni 1989, flo.

Zitate aus:

Broz-Tito, Josip: Kampf der Kommunisten Jugoslawiens für die sozialistische Demokratie, in: Der VI. Kongreß der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Bonn 1952. - Dieser Text enthält - ebenso wie der von Kardelij - die wohl weitestgehende Kritik am Stalinismus in der Höchstphase der Auseinandersetzung zwischen Jugoslawien und der UdSSR. Nach Stalins Tod wurde die Kritik moderater.
Horvat, Branco: Die Arbeiterselbstverwaltung. Das jugoslawische Wirtschaftsmodell, München 1972.
Kardelij, Edvard: Zu den Grundlagen der sozialistischen Demokratie in Jugoslawien, Bad-Godesberg 1952.
Vranicki, Pedrag: Sozialismus und Krise; in: Ihlau/Nuckic (Hrsg.): Jugoslawien - Modell im Wandel, Frankfurt/M. 1973.

67. Dokument 45: Edvard Kardelij: Zu den Grundlagen der sozialistischen Demokratie in Jugoslawien

[aus dem gleichnamigen Buch; Bad-Godesberg 1952, S. 7 - 17]

2. Die Lehren aus der sowjetischen Entwicklung

In der Regel tauchte die Bürokratie als Schicht, als selbständiger Faktor in der Geschichte stets in einer von zwei möglichen Rollen auf, entweder als Diener oder als Despot. Sie war der gehorsame Vollstrecker, wenn die herrschende Klasse stark genug war und unbestritten die Übermacht besaß, aber sie wurde in größerem oder geringerem Maße zu einem selbständigen Faktor über der Gesellschaft, sobald das Kräfteverhältnis zwischen den gegnerischen Hauptklasssen ein gewisses "Gleichgewicht" erreicht hatte, das die unteilbare Herrschaft der einen oder anderen ausschloß.

In unserer Zeit taucht die bürokratische Despotie als selbständiger Gesellschaftsfaktor in der Hauptsache in zwei Formen auf: In der faschistischen Diktatur und in där Diktatur Stalinschen Typs. Einfach ausgedrückt, könnte man sagen, daß sich die erstere vor allem aus der Schwäche einer vorhandenen bürgerlichen, und die letzte aus der Schwäche einer vorhandelien proletarischen Macht ergibt.

Die faschistische Diktatur entsteht, wenn die Bourgeoisie als Klasse nicht mehr die Macht halten kann, das Proletariat aber politisch zu schwach ist, um sie erobern zu können. Die herrschende Bürokratenkaste wächst mit den Spitzen der Finanzoligarchie zusammen und schützt einerseits deren Privilegien, andererseits aber muß sie die staatskapitalistischen Elemente im Wirtschaftssystem und in den Gesellschattsverbänden stärken.

Die bürokratische Despotie sowjetischen Typs dagegen entsteht dort, wo das Proletariat unter Ausnützung günstiger gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in einer siegreichen Revolution die Macht übernommen hat, aber infolge der allgemeinen Rückständigkeit des Landes oder aus anderen objektiven oder subjektiven Gründen zu schwach war, um sie halten zu können. Der unumgängliche Begleiter eines jeden Staatssystems, der bürokratische Praktizismus, wird unter solchen Verhältnissen zum Hauptkanal für das Vordringen und Erstarken antisozialistischer Tendenzen in den neuen Formen, die die Revolution geschaffen und für die sie das Feld vorbereitet hat. Dieser Praktizismus wird zur Hauptform für die schrittweise Unterhöhlung und endgültige Beseitigung des entscheidenden Einflusses der Arbeiterklasse auf die Staatsleitung.

Die Schwäche der revolutionären Macht lag bei der sowjetischen Arbeiterklasse nicht in der Stärke der enteigneten Klassen der zaristischen Großbesitzer und der Bourgeoisie, sondern in der ungewöhnlich großen allgemeinen Rückständigkeit der sozial-wirtschaftlichen Struktur Rußlands. Ungewöhnlich rückständig war vor allem das sowjetische Dorf. Lenin erkannte diese Lage klar und warnte das sowjetische Proletariat, sein bewaffneter Sieg bedeute keineswegs, daß seine Macht und der Sozialismus in Rußland gesichert seien. Als Lenin die Frage stellte, "wer wird wen", dachte er vor allem an den gewaltigen elementaren Druck des kleinen Produzentenelementes, aus dem "täglich der Kapitalismus geboren wird". Dieses Element hat zwar nicht als solches gesiegt und auch nicht zur Restaurierung des alten Systems geführt, aber es hat dennoch die Macht der Arbeiterklasse untergraben. Indem die Revolution einen gewaltigen Bürokratenmechanismus schaffen mußte, um dieses Element zu unterdrücken und zu unterwerfen, schuf sich zugleich auch die Kraft, die sich sowohl die Revolution selbst als auch die Arbeiterklasse unterwarf. Infolge der rückständigen Klassenstruktur und der Schwäche des Proletariats, die die Kräfte der gegnerischen Klassen wechselseitig lähmte, wovon Marx spricht, erhielt der Vollzugsapparat eine außergewöhnliche Stärke und Macht und begann eine selbständige Bürokratenkaste mit eigenen Gesellschaftsinteressen herauszubilden, mit Interessen, die an das Weiterbestehen staatskapitalistischer Verhältnisse gebunden waren. Nachdem sie das politische Monopol erhalten hatte, strebte diese Kaste nach dem Wirtschaftsmonopol, denn das politische Monopol ließ sich nur auf der Grundlage des Wlrtschaftsmonopols aufrechterhalten. Und nachdem sie das innere Wirtschaftsmonopol erobert hatte, begann sie, wie jedes Monopol, zur imperialistischen Politik äußerer Eroberungen und der Hegemonie über die Welt überzugehen.

In politischer Hinsicht ist die bürokratische Despotie Stalinschen Typs, wie wir gesehen haben, ein Produkt des rückständigen sowjetischen Dorfes. Wenn ich sage, daß der Stalinismus ein Produkt des Sowjetdorfes ist, dann will ich damit nicht sagen, daß er auch die Interessen eines Dorfes vertritt, sondern daß es zu ihm nicht kommen konnte oder nur sehr schwer hätte kommen können, wäre Rußland nicht ein rückständiges, überwiegend bäuerliches Land gewesen. Im Gegenteil, wir alle wissen, daß die sowjetische Bürokratenkaste mit dem Bauerntum blutig abgerechnet hat und noch heute abrechnet, und das nicht nur mit den Kulaken, sondern mit dem Bauerntum überhaupt. Aber gerade die Existenz dieses starken Besitzerelementes, das die revolutionären sozialistischen Tendenzen der Arbeiterklasse lähmte, hat das Auftauchen und die Entwicklung der Stalinschen Despotie eigentlich erst ermöglicht. Indem sie geschickt bald die Bauern und bald die Arbeiter, entweder durch Losungen über ein Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern oder durch Aufforderungen zum Kampf gegen die Kulakengefahr ausspielt, hält sie sich an der Macht und unterwirft sich das gesamte Gesellschaftsleben. Indem sie ebenso die Gefahr eines äußeren Angriffs übertreibt, rechtfertigt sie vor dem ganzen Volke die Notwendigkeit zu einer Aufrechterhaltung ihres despotischen Systems im Inland als auch zu einer Expansion nach außen.

Seine endgültige Bestätigung hat dieses System während des ersten Fünfjahresplanes erreicht, und zwar durchaus nicht zufällig gerade damals. Für die Durchführung dieses Planes war im Sowjetsystem eine gewaltige Machtkonzentration in den Vollzugsorganen der Regierung notwendg - und zu diesen rechne ich auch den führenden Kern der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - also in den Organen, die bereits bürokratisch geworden waren und die daher die absolute Macht unvermeidlich zu einer geschlossenen künstlichen Kaste machen mußte.

Der erste und der zweite Fünfjahresplan sind zwar, wirtschaftlich gesehen, im wesentlichen gelungen. Erreicht wurde ein für russische Verhältnisse gewaltiger Wlrtschaftssieg, der die Sowjetunion in beachtlichem Maße aus den Fesseln der Rückständigkeit befreite. Diesen Erfolg begleitete aber noch ein anderer Sieg, der Sieg der staatskapltalistischen Bürokratendespotie. Und dieser Sieg trug nicht nur die poltische Reaktion, sondern auch den Kern des künftigen wirtschaftlichen Stillstands und der künftigen Gesellschaftskrise in sich. Es ist nämlich vollkommen klar, daß sich die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte nicht auf lange Sicht mit den staatskapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen zufrieden geben kann, die von der Bürokratenkaste künstlich und gewaltsam aufrechterhalten werden.

Ich halte es für keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß Stalins Rede aus dem Jahre 1931 "Die neue Lage und die neuen Aufgaben des Wirtschaftsaufbaues", die "Magna Charta" der Sowjetbürokratle ist. Hauptziel und auch Auswirkung dieser Rede war die Umwandlung der Fabrikdirektorexi und der Wirtschaftsleiter überhaupt in eine absolute Macht über den Arbeiter. Beseitigt wurden die letzten Überreste der Demokratie in der Wlrtschaftsleitung. Es folgte eine Reihe arbeiterfeindlicher Gesetze, die den Arbeiter in seinem Verhältnis zum Direktor so völlig entrechteten, daß dieser den Arbeiter wegen "Disziplinlosigkeit" sogar mit Gefängnis bestrafen kann. Er tritt dem Arbeiter gegenüber offen als politische Staatsmacht auf, die er in Wahrheit ja auch ist.

Ähnliche Prozesse spielten sich auch in den Organen der Staatsmacht ab. Aus dem Apparat der Sowjets in den Republiken, Provinzen und Kreisen wurde der Vollzugsapparat der zentralen Organe, und die Sowjets selbst wurden zu einer reinen Paradedekoration ohne Rechte und ohne Macht. In der Fabrik völlig der Direktion und der wirtschaftlichen Hauptverwaltung, im Kolchos dem von oben eingesetzten hauptamtlichen Vorsitzenden und im Sowjet dem Beamtenapparat unterworfen, der selbst ohne Recht ist oder, nur "das Recht besitzt", blind die Befehle der zentralen Verwaltungsmacht auszuführen, hat der sowjetische Werktätige jede Möglichkeit verloren, auf die Staatsmacht einen Einfluß auszuüben. Mit Orden behängt und durch Privilegien korrumpiert, aber bis in die Knochen von Furcht vor den pharaonischen Höhen der zentralen Vollzugsgewait durchdrungen, hat die Sowjetbürokratie, natürlich auf Kosten der Arbeiter und der werktätigen Bauern, eine immer bessere wirtschaftliche Entschädigung für diese Rolle halten.

Es geht dort nicht mehr um eine Entlohnung nach der geleisteten Arbeit oder nach der Fähigkeit, sondern um besondere ausbeuterische Privilegien der Bürokratenkaste, um eine Belohnung für den der Arbeiterklasse herausgepreßten und geraubten Betrag des Mehrproduktes. Diese Privilegien sind in Wahrheit nur eine der Formen kapitalistischer Aneignung unter staatskapitalistischen Verhältnissen.

Die sogenannte Stalinsche Verfassung ist die Krone des sowjetischen Bürokratensystems.. Diese Verfassung verläßt, wie ich schon gesagt habe, auch formell Lenins Grundsätze von der Sowjetmacht, die sich im wesentlichen auf die Erfahrungen der Pariser Kommune und die theoretischen Schlüsse von Marx stützten. In erster Linie aber verläßt sie das Prinzip der Einheit zwischen gesetzgebender und vollziehender Macht und kehrt zu den äußeren Formen der bürgerlichen Demokratie zurück. Ich betone noch einmal, zu den äußeren Formen der bürgerlichen Demokratie. Und es ist vollkommen verständlich, daß die Trennung zwischen vollziehender und gesetzgebender Macht unter dem Staatskapitalismus weit schwerere Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung und die Gesellschaftsbeziehungen haben mußte als in den Ländern dcr bürgerlichen Demokratie. Auf den ersten Blick schien es, als bedeute diese Verfassung einen weiteren Schritt in der Entwicklung politischer demokratischer Formen im Sowjetsystem. In Wahrheit aber handelte es sich um einen gewaltigen Rückschritt. Das wahre Wesen dieser Änderungen lag darin, daß endgültig und formell jedes wirklich demokratische Verhältnis zwischen dem Zentralsowjet und den lokalen Sowjets als Vertretungsorganen abgeschafft wurde, während nur die Bindung zwischen einem höheren, befehlsgebenden und einem niedrigeren, vollziehenden Apparat übrigblleb. Damit hat der örtliche Sowjet, über den allein die Werktätigen unmittelbar ihren Willen vollziehen könnten, auch die letzten Möglichkeiten zur Selbstverwaltung verloren, und die gesamte, unbegrenzte Macht ist auf die zentrale Vollzugsmacht und die ihr unterstellten Verwaltungsorgane übergegangen.

Formell hat diese Konstruktion alle Sowjetbürger "gleichgemacht", das heißt sie hat die angeblichen Privilegien der Arbeiterklasse im System der Staatsleitung beseitigt und den Arbeiter mit den Bauern gleichgestellt. In Wahrheit aber hat sie sie nur insofern gleichgestellt, als sie dem einen wie dem anderen auch die letzten Möglichkeiten genommen hat, irgendeinen ernsteren Einfluß auf die Staats- und Wirtschaftsleitung auszuüben. Eine solche "Gleichmachung" der Staatsbürger brauchte aber Stalin, um sich bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse auf die wirtschaftliche, politische und kulturelle Rückständigkeit des Dorfes stützen und im Kampf gegen die Forderungen der werktätigen Bauern wlederum mit der Arbeiterklasse manövrieren zu können. Daher war die sogenannte Stalinsche Verfassung auch kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Hinter formellen bürgerlich-demokratischen Kulissen sicherte sich die herrschende sowjetische Bürokratenkaste die absolute Macht. Daher mußte sie auch die Überreste des demokratischen Organisationssystems, wie es in der Revolution entstanden war, ausmerzen.

Damit ist das Sowjetsystem im wahren Sinne zu einem "Einparteiensystem" im negativen Sinne des Wortes geworden. Solange die Werktätigen ihre Grundorgane der Selbstverwaltung besitzen, die lokalen Sowjets, oder bei uns die Volksausschüsse, über die sie ihren Willen und ihren entscheidenden Einfluß auf die höheren Staatsorgane ausüben können, garantiert ihnen das Einparteiensystem ein größeres Maß an Demokratie als irgendein Mehrparteiensystem. Wird aber ein solches System und mit ihm jegliche Selbstverwaltung der Werktätigen beiseitigt und ein zentralisiertes bürgerliches Staatssystem, aber ohne dessen Mehraprteiensystem, eingeführt, dann wird jedes Gerede von Demokratie zu einer reinen Farce. . Und so liegen die Dinge heute in der sogenannten "Sowjetdemokratie."

Und in der Tat hat noch nie in der Geschichte eine herrschende Klasse - sowohl auf politischem als auch vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet - soviel Macht in ihren Händen gehalten, und unbestritten hat noch nie eine herrschende Kaste solche Macht auch auf ideologischem Gebiet besessen wie die sowjetische Bürokratenkaste. In dieser Lage ging sie zur Expansion nach außen über, in erster Linie unter dem Vorwand einer "Hilfe für die sozialistischen Kräfte". Am Beispiel ihres Verhaltens gegenüber Jugoslawien begann sich indessen sehr schnell und mit voller Klarheit abzuzeichnen, daß die Hilfe für die sozialistischen Kräfte eine Maske war, die imperialistischen Tendenzen nach Hegemonie über die anderen Völker und über die Welt dagegen das wahre Gesicht der sowjetischen Außenpolitik. (...)

3. Ideologische Ausdrucksformen der Bürokratie

Die Erfahrungen aus der Sowjetunion, besonders aus der heutigen Sowjetunion, bezeugen indessen vor allem, wie fremd dem Sozialismus und wie gefährlich für seinen Fortschritt die Tendenz ist, die die stalinistische Bürokratie in den Internationalen Sozialismus hineingetragen hat, nämlich die Tendenz, daß eine Gruppe praktischer Politiker, zum Beispiel das Politbüro des ZK der KPdSU (B), sich das Recht anmaßt zu bestimmen, was sozialistisch ist und was nicht, wobei sie sich natürlich von den Zielen ihrer eigenen undemokratischen Hegemoniepolitik leiten läßt. Die angeführten Erfahrungen bezeugen uns weiter, wie falsch es ist, die Rolle einzelner Menschen statisch zu sehen, das heißt nicht zu erkennen, daß auch sie sich ändern, wenn sich ihre Stellung in den Gesellschaftsbeziehungen geändert hat. Wenn sich eine Bürokratentkaste, mögen an ihrer Spitze auch ehemalige Revolutionäre stehen, aus irgendwelchen objektiven gesellschaftlich-wirtschatlichen und subjektiven Gründen als selbständige Kraft herauslöst und festigt, dann erhält sie, gleichgültig wie sich ihre führenden Männer nennen, zu welcher Ideologie sie sich rechnen und wie sehr sie sich ihrer wahren Rolle bewußt sein mögen, auch ihre eigenen gesellschaftlich-wirtschaftiichen Bewegungsgesetze, die auf eine Erhaltung und Erweiterung der staatskapitalistischen Beziehungen ausgerichtet sind. Als solche muß sie notwendigerweise zum Gegner des sozialistischen Fortschritts werden.

Die Hohen Priester des Stalinkults der Kominform können bis zur Erschöpfung Marx und Lenin zitieren und werden doch mit jedem Tage immer deutlicher enthüllen, welchen Göttern und Zielen sie dienen, wenn sie die heute schon sagenhaften Erzählungen über die Herkunft ihrer Macht, die angeblich aus dem Feuer der Revolution wie der Phönix aus der Asche erstanden sein soll, zu einem modernen göttlich-metaphysischen und spießbürgerlich-spekulantenhaften stalinistischen Kauderwelsch machen und behaupten, das Feuer der russischen Revolution habe der heutigen sowjetischen Staatsführung nicht nur ihre Unfehlbarkeit verliehen, sondern sie auch mit Recht auserwählt und verpflichtet, die "ewigen Wahrheiten" des Sozialismus und des "dialektischen Materialismus" zu verkünden. Indem sie die unhaltbaren materiellen und politischen Privilegien einer Kaste stützen, die ein schicksalhaftes Hindernis auf dem Wege des Sozialismus geworden sind, müssen sie in Wahrheit als "einzig sozialistisch" gerade das verkünden, was nicht sozialistisch ist, ja was sogar zum größten Hindernis für die weitere Entwicklung des Sozialismus geworden ist. Indem sie aber das System der zentralisierten bürokratischen Despotie als das "einzige sozialistische" und als das "fortschrittlichste" System bezeichnen und indem sie zugleich für dIe Sowjetunion die Priorität in jeder Hinsicht gegenüber den anderen Völkern usurpieren, tun die sowjetischen Machthaber eigentlich nichts Neues, sondern nur das, was immer in der Geschichte überlebte Systeme getan haben, die zu einer Störung des gesellschaftlichen Fortschrittes geworden waren und ihr Vorhandensein nicht mehr mit einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen unbedingten Notwendigkeit rechtfertigen konnten: Sie erklären ihr eigenes System als göttlich, alle anderen aber als Schöpfungen des Teufels.

Das Ergebnis einer solchen ideologischen Entwicklung führte dazu, daß die sozialistische, politische und wissenschaftliche Kritik der Gesellschaftsverhältnisse in der Sowjetunion verboten und unmöglich gemacht, ist. DIe sozialistische wissenschaftliche Theorie aber wurde durch bürokratischen Praktizismus und sterile Götzenanbetung ersetzt. Und gerade, eine solche "Ideologie" braucht ein herrschende Bürokratenkaste unbedinngt.

Für den bewußten sozialistischen Kämpfer, der mit der marxistischen Theorie bewaffnet ist, gilt nichts, was in den Gesellschaftsverhältnissen geschaffen wurde, als vollendet, und daher darf auch nichts von dem nicht einmal in einem sozialistischen Lande, von einer echten sozialistischen Kritik ausgenommen sein. Nur eine solche Kritik vermag dem sozialistischen Fortschritt den kürzesten Weg zu sichern.

Keinerlei Verbindung haben daher mit dem Marxismus die vorgeblichcn "Marxisten", die ihre revolutionär—realistische und kritische Einstellung zu den Ergebnissen der einen oder anderen siegreichen proletarischen Revolution oder Partei verloren haben, die einfach diese Ergebnisse idealisieren, sie statisch verallgemeinern und unkritisch in ein unveränderliches sozialistisches Prinzip für alle und für jeden verwandeln. Die Erfahrungen, besonders aber jene, die der ganzen internationalen Arbeiterbewegung die Entwicklung der russischen Revolution gegeben hat, zeigen uns, daß sich solche Tendenzen und Methoden sehr schnell enthüllen, und zwar nicht als Verteidigung des Sozialismus, sondern leider als Verteidigung der Überreste aus der Vergangenheit, die sich in den neuen Formen als Tendenz veralteter Übergangsformen erhalten wollen, die sich unter dem Schutz des reaktionären politischen Druckes in einem Regime bürokratischen Despotentums halten wollen. Alle diese Tendenzen sind nur ideologische Kundgebungen der Bürokratie.

Die Revolution kann nicht auf halbem Wege stehenbleiben, sie kann nicht in den gleichen Formen und Verhältnissen auf der Stelle treten. Sie muß sich ständig weiterentwickeln, zur Verwirklichung jener Ziele und Aufgaben, für die sie hlstorisch notwendig und gerechtfertigt war, sonst werden sowohl ihr historischer Sinn als auch ihre Kraft untergraben. Dabei taucht eine außerordentlich große Gefahr auf, wenn gewisse ihrer Anfangsformen zu ihrem Ziel und zu ihrer ständigen Methode werden. Gerade dies trägt am meisten zu ihrer unvermeidlichen inneren Degeneration bei. In dieser Richtung wird die Revolution, wie wir in der Praxis gesehen haben, auch vom bürokratischen Element getrieben, das vom Staatsapparat, von der Herrschaft über die Menschen lebt, aber Änderung und Bewegung nicht liebt. Die sozialistische Revolution ist aber nur solange sozialistisch, als sie die Dinge weitertreibt und ständig das Gelände für einen neuen menschlichen Fortschritt vorbereitet.

68. ´Verdienste und Fehler´: Die chinesische Kritik am sowjetischen Modell und an Stalin

Die chinesischen Äußerungen (und Nicht-Äußerungen) zum Thema sind stets deutlich taktisch bestimmt: Um so höher ist die praktische Stalinkritik zu bewerten, die die KPCh beispielsweise mit der Kampagne
"Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Schulen miteinander wetteifern"
oder mit der Kulturrevolution leistete.

Juni 1989, J0.

69. Dokument 46: Mao Zedong: Über die zehn großen Beziehungen

[Rede auf der erweiterten Plenartagung des Politbüros des ZK der KP Chinas vom 25. April 1956; aus: Ausgewählte Werke, Bd. V, Peking 1978, S. 320 -346]

(gekürzt)

Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß kürzlich gewisse Mängel und Fehler der Sowjetunion ans Tageslicht gekommen sind, die im Laufe ihres Aufbaus des Sozialismus auftraten. ... Dadurch, daß wir Lehren aus ihren Erfahrungen gezogen haben, konnten wir früher bestimmte Umwege vermeiden. Wir haben allen Grund, jetzt erst recht so zu verfahren.


I. Die Beziehung zwischen der Schwerindustrie auf der einen und der Leichtindustrie und der Landwirtschaft auf der anderen Seite

Beim Aufbau unseres Landes liegt das Hauptgewicht auf der Schwerindustrie. Aber daraus folgt auf gar keinen Fall, daß die Produktion der Konsumgüter, insbesondere von Getreide, vernachlässigt werden ....... Bei der Behandlung dieser Beziehung haben wir keine prinzipiellen Fehler begangen. Das haben wir besser gemacht als die Sowjetunion und einige osteuropäische Länder. Solche Probleme wie in der Sowjetunion, die lange Zeit nicht imstande war, beim Getreideertrag den höchsten vorrevolutionären Stand zu erreichen, und solche ernsten Probleme, wie sie sich aus der allzu ungleichmäßigen Entwicklung von Leichtindustrie und Schwerindustrie in einigen osteuropäischen Ländern ergeben haben, existieren bei uns nicht. Ihre einseitige Betonung der Schwerindustrie und die Vernachlässigung der Landwirtschaft und der Leichtindustrie haben Warenknappheit auf den Märkten und Unstabiität der Währungen zur Folge. Wir dagegen messen der Landwirtschaft und der Leichtindustrie größere Bedeutung bei. Wir haben uns schon immer der Landwirtschaft angenommen und sie entwickelt, und wir konnten daher die für die Entwicklung der Industrie notwendige Menge von Getreide und Rohstoffen in beträchtlichem Ausmaß sicherstellen. Güter des täglichen Bedarfs sind bei uns verhältnismäßig reichlich vorhanden, und die Preise und die Währung sind stabil.

[Mao plädiert im folgenden für eine Erhöhung des Anteils der Leichtindustrie und Landwirtschaft an den Investitionen.]

Was wird sich aus dieser Steigerung ergeben? Erstens wird die Bevölkerung noch besser versorgt; zweitens wird rascher Geld akkumuliert, wodurch wir die Schwerindustrie mit größeren und besseren Resultaten entwickeln können. Auch die Schwerindustrie kann zur Akkumulation beitragen, aber unter unseren gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen können Leichtindustrie und Landwirtschaft mehr und schneller akkumulieren....

II.

III.

IV. Die Beziehung zwischen Staat, Produktionseinheiten und Produzenten

Die Beziehung zwischen Staat einerseits und Fabriken und landwirtschaftlichen Genossenschaften andererseits, die Beziehung zwischen Fabriken und landwirtschaftlichen Genossenschaften einerseits und einzelnen Produzenten andererseits, beide müssen gut geregelt werden. Darum dürfen wir nicht nur eine Seite berücksichtigen, sondern müssen alle drei Seiten, den Staat, das Kollektiv und die Einzelpersonen, in Betracht ziehen. ... Angesichts der Erfahrungen der Sowjetunion und auch unserer eigenen müssen wir von nun an diese Frage noch besser lösen.
Nehmen wir die Arbeiter als Beispiel. Mit der Erhöhung ihrer Arbeitsproduktivität sollte eine schrittweise Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und ihrer kollektiven Wohlfahrt einhergehen. Seit je befürworten wir ein einfaches Leben und harte Arbeit, sind wir dagegen, daß die persönlichen materiellen Interessen über alles gestellt werden. Gleichzeitig sind wir auch stets dafür eingetreten, daß für das tägliche Leben der Massen Sorge getragen wird, und wir bekämpfen den Bürokratismus, der ihrem Wohl und Wehe gegenüber gleichgültig ist. Mit der Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft müssen auch die Löhne entsprechend geändert werden. Wir haben kürzlich beschlossen, die Löhne etwas zu erhöhen, vor allem die niedrigen, die Löhne der Arbeiter, damit der Unterschied zwischen diesen und den höheren verringert wird....
Hier möchte ich auf die Frage der Selbständigkeit der Fabriken unter zentralisierter Leitung eingehen. Es ist wohl nicht richtig, alles in den Händen der zentralen Ebene bzw. der Provinz- und Stadtebenen zu konzentrieren, den Fabriken aber keine Befugnisse, keine Bewegungsfreiheit und keine Erträge zuzugestehen.
Jeder Produktionseinheit muß eine mit der Zentralisation in Wechselbeziehung stehende Selbständigkeit eingeräumt werden, nur so kann sie sich noch kraftvoller entwickeln.
Nun zu den Bauern. Unsere Beziehungen zu den Bauern waren immer gut, aber in der Getreidefrage haben wir einmal einen Fehler begangen.... Die Sowjetunion hat mit ihren Maßnahmen die Bauern zu sehr geschröpft. Mit ihrer sogenannten Getreideablieferrungspflicht und anderen Maßnahmen wird den Bauern zu viel weggenommen und zu wenig dafür gezahlt. Diese Methode der Akkumulation von Geldmitteln hat die Begeisterung der Bauern für die Produktion sehr gedämpft....
Beim Austausch von industriellen und landwirtschaftlichen Produkten verfolgen wir eine Politik der Verkleinerrung der Preisschere, eine Politik des gleichwertigen oder fast gleichwertigen Austausches. Der Staat kauft landwirtschaftliche Produkte zu angemessenen Preisen. Die Bauern erleiden dabei keinen Schaden. Mehr noch, unsere Ankaufspreise werden schrittweise erhöht. Bei der Versorgung der Bauern mit Industriewaren verfolgen wir eine Politik der Vergrößerung des Absatzes bei niedriger Gewinnspanne, der Stabilisierung oder angemessenen Herabsetzung der Preise. Bei der Getreidebelieferung der Bauern in den getreidearmen Gebieten gewähren wir im allgemeinen gewisse Zuschüsse. Angesichts der schweren Fehler der Sowjetunion in dieser Frage müssen wir noch sorgfältiger sein und die Beziehungen zwischen Staat und Bauern gut regeln.
Ebenso muß die Beziehung zwischen Genossenschaften und Bauern gut geregelt werden. Wieviel von den Einnahmen einer Genossenschaft jeweils an den Staat, an die Genossenschaft selbst und an die Bauern gehen soll und in welcher Form, über all das müssen geeignete Bestimmungen festgelegt werden. Der an die Genossenschaft gehende Anteil dient unmittelbar den Bauern. Die Produktionskosten brauchen nicht erklärt zu werden, auch die Verwaltungskosten sind notwendig. Der Akkumulationsfonds dient der erweiterten Reproduktion und der Wohlfahrtsfond dem Wohl der Bauern. Jedoch sollten wir gemeinsam mit den Bauern einen vernünftigen Verteilungsschlüssel für diese Ausgaben ausarbeiten. Die Produktions- und Verwaltungskosten müssen möglichst niedrig gehalten werden. Auch der Akkumulations- und der Woblfahrtsfonds müssen in Grenzen gehalten werden. Man kann nicht hoffen, in nur einem Jahr alle guten Dinge zu vollenden.
Außer im Fall besonders schwerer Naturkatastrophen müssen wir auf der Grundlage einer erhöhten landwirtschaftlichen Produktion dafür sorgen, daß 90 Prozent der Genossenschaftsmitglieder Jahr für Jahr ein etwas höheres Einkommen haben. Bei den übrigen 10 Prozent soll das Einkommen nicht geringer werden.


V. Die Beziehung zwischen der zentralen Ebene und den lokalen Ebenen

Die Beziehung zwischen der zentralen Ebene und den lokalen Ebenen stellt ebenfalls einen Widerspruch dar. Um diesen Widerspruch zu lösen, ist gegenwärtig darauf zu achten, die Befugnisse der lokalen Ebenen etwas zu erweitern, ihre Selbständigkeit zu erhöhen und ihnen einen größeren Handlungsspielraum zu geben, immer unter der Voraussetzung, daß die einheitliche zentrale Führung gefestigt werden muß. ... Unser Land ist so ausgedehnt, unsere Bevölkerung so groß, und die Verhältnisse bei uns sind so komplex, daß es weit besser ist, wenn die Initiative von beiden Seiten - der zentralen und den lokalen Ebenen - kommt, statt nur von einer. Wir dürfen nicht dem Beispiel der Sowjetunion folgen und alles in den Händen der Zentralbehörden konzentrieren, die lokalen Organe fesseln und ihnen jedes Recht auf Bewegungsfreiheit nehmen.

VI.

VII. Die Beziehung zwischen der kommunistischen Partei und den nichtkommunistischen Parteien

Was ist besser, nur eine einzige Partei oder mehrere Parteien zu haben? Wie die Dinge heute liegen, scheint es wohl besser, wenn mehrere Parteien bestehen. Das war nicht nur in der Vergangenheit richtig, sondern mag auch für die Zukunft gelten. Es bedeutet Koexistenz auf lange Sicht und gegenseitige Kontrolle.
Die vielen demokratischen Parteien in unserem Land, die sich hauptsächlich aus Leuten der nationalen Bourgeoisie und ihren Intellektuellen zusammensetzen, sind im Widerstand gegen die japanische Aggression und im Kampf gegen Tschiang Kai-schek entstanden und existieren bis auf den heutigen Tag. In dieser Hinsicht ist es bei uns anders als in der Sowjetunion. Wir haben die demokratischen Parteien mit voller Absicht weiterbestehen lassen, geben ihnen die Möglichkeit, ihre Ansichten zu äußern, und verfolgen ihnen gegenüber die Politik von "sowohl Einheit als auch Kampf". Wir müssen uns mit all jenen demokratischen Persönlichkeiten zusammenschließen, die uns in guter Absicht kritisieren.
Sogar solchen Leuten ...‚ die uns beschimpfen, sollten wir ein Auskommen geben, und wir sollten ihnen erlauben, über uns herzuziehen; den Unsinn, den sie verzapfen, müssen wir widerlegen, die berechtigten Vorwürfe jedoch akzeptieren. Das ist besser für die Partei, für das Volk und für den Sozialismus.
Da in China weiter Klassen und Klassenkampf existieren, muß es in der einen oder anderen Form Opposition geben.
Die Kommunistische Partei und die demokratischen Parteien sind Produkte der Geschichte. ... Deshalb wird die Kommunistische Partei unvermeidlich eines Tages verschwinden, und mit den demokratischen Parteien wird es nicht anders sein. Ist dieses Verschwinden so unangenehm? Meiner Meinung nach wird es sehr angenehm sein. Ich halte es für wirklich gut, wenn wir die Kommunistische Partei und die Diktatur des Proletariats eines Tages nicht mehr brauchen. Unsere Aufgabe ist, ihr Verschwinden zu beschleunigen. Darüber haben wir schon sehr oft gesprochen.
Gegenwärtig aber sind die proletarische Partei und die Diktatur des Proletariats absolut notwendig, und sie müssen sogar unbedingt stärker gemacht werden.
Aber der Bürokratismus und der aufgeblasene Verwaltungsapparat müssen bekämpft werden. Ich schlage vor, daß der Partei- und Staatsapparat bedeutend vereinfacht, um zwei Drittel verkleinert wird, unter der Bedingung, daß dabei erstens niemand zu Tode kommt und zweitens keine Arbeit ins Stocken gerät.


VIII. Die Beziehung zwischen Revolution und Konterrevolution

Bei der Hinaussäuberung von Konterrevolutionären aus den Partei- und Staatsorganen, Lehranstalten und Armee-Einheiten muß man an der in Yenan begonnenen Politik "Keinen einzigen hinrichten, die meisten nicht verhaften" festhalten. Mit überführten Konterrevolutionären sollen sich die jeweiligen Organisationen selbst befassen. Aber die Sicherheitsorgane verhaften sie nicht, die Staatsanwaltschaften erheben keine Anklage gegen sie, und die Gerichtshöfe verurteilen sie nicht. Von hundert Konterrevolutionären sollten über neunzig so behandelt werden. Das meinen wir mit "die meisten nicht verhaften". Was Hinrichtung anlangt: Keinen einzigen hinrichten....
Aber diese Richtlinie wird uns davor bewahren, nicht wiedergutzumachende Fehler zu begehen. Und wenn Fehler begangen worden sind, gibt sie uns die Möglichkeit, sie zu korrigieren. Auf diese Weise können viele Menschen beruhigt, kann Mißtrauen von Genossen innerhalb der Partei gegeneinander vermieden werden. Wenn Konterrevolutionäre nicht hingerichtet werden, so heißt das, wir müssen ihnen zu essen geben. Allen Konterrevolutionären muß ein Ausweg für ihre weitere Existenz offengelassen werden, damit sie ein neues Leben beginnen können. Das wird der Sache des Volkes nützen und auch im Ausland gut aufgenommen werden.


IX. Die Beziehung zwischen richtig und falsch

Was mit jenen geschehen soll, die Fehler begangen haben, ist eine wichtige Frage. Die richtige Haltung gegenüber diesen Genossen ist es, durch Anwendung der Richtlinien "Aus früheren Fehlern lernen, um künftige zu vermeiden; die Krankheit bekämpfen, um den Patienten zu retten" ihnen bei der Korrektur ihrer Fehler zu helfen und ihnen zu erlauben, weiter an der Revolution teilzunehmen. Zu jener Zeit, als die von Wang Ming angeführten Dogmatiker im Sattel saßen, hat unsere Partei in dieser Frage geirrt, indem sie sich die schlechte Seite von Stalins Arbeitsstil zu eigen machte.
[Manche] schließen diejenigen, die in Irrtümer verfallen sind, von der Revolution aus und ziehen zwischen Irrtum und Konterrevolution keine Grenze. Sie sind sogar so weit gegangen, eine Reihe von Leuten hinzurichten, deren Schuld nur Fehler waren. Diese Lektion müssen wir uns zu Herzen nehmen. Menschen außerhalb der Partei von der Revolution auszuschließen oder irrenden Genossen in der Partei nicht zu erlauben, ihre Fehler zu berichtigen - beides ist schlecht.




X. Die Beziehung zwischen China und anderen Ländern

Unsere Politik ist es, von den Vorzügen aller Nationen und aller Länder zu lernen und uns alles anzueignen, was in ihrer Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Literatur und Kunst wirklich gut ist. Aber unsere Einstellung beim Lernen muß analytisch und kritisch sein, nicht blind, wir dürfen nicht wahllos alles nachahmen oder mechanisch übertragen. Ihre Mängel und Schwächen dürfen wir uns natürlich nicht aneignen.
Die gleiche Haltung sollten wir zu den Erfahrungen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder einnehmen. Manche von uns waren sich früher darüber nicht im klaren und haben sogar ihre Schwächen übernommen. Als sie noch voller Stolz glaubten, etwas Großartiges aufgelesen zu haben, da war das in diesen Ländern bereits längst über Bord geworfen.... Manche Leute machen sich niemals die Mühe der Analyse, sie drehen sich so, wie gerade der "Wind" weht. Wenn heute der Nordwind bläst, sind sie Anhänger des Nordwinds; ist morgen Westwind, werfen sie sich dem Westwind in die Arme; kommt wieder Nordwind auf, lassen sie sich wieder vom Nordwind treiben. Eine eigene Meinung haben sie nicht, und sie fallen häufig von einem Extrem ins andere.
Jene in der Sowjetunion, die einst Stalin zehntausend Klafter hoch in den Himmel hoben, haben ihn nun mit einem Tritt neuntausend Klafter tief in die Hölle befördert. Auch in unserem Land gibt es Leute, die diesem Beispiel folgen. Das Zentralkomitee ist der Ansicht, Fehler und Leistungen Stalins stehen im Verhältnis von 30 zu 70, alles in allem war er ein großer .... Stalin hat China gegenüber einiges falsch gemacht. Das "linke" Abenteurertum Wang Mings in der letzten Periode des Zweiten Revolutionären Bürgerkriegs und sein Rechtsopportunismus in der Anfangsperiode des Widerstandskriegs gegen die japanische Aggression gehen auf Stalin zurück. Zur Zeit des Befreiungskrieges wollte Stalin uns erst die Revolution verbieten. Er sagte, wenn der Bürgerkrieg ausbreche, sei die chinesische Nation in Gefahr, sich selbst zugrunde zurichten. Als dann gekämpft wurde, hat er halb an uns geglaubt und halb an uns gezweifelt. Als wir gesiegt hatten, hatte er den Verdacht, unser Sieg sei ein Sieg von der Tito-Art, und in den Jahren 1949 und 1950 waren wir wirklich einem starken Druck ausgesetzt. Trotzdem sind wir der Meinung, daß das Verhältnis seiner Fehler zu seinen Leistungen 30 zu 70 ist. Diese Bewertung ist nur gerecht.

70. Dokument 47: Zur Stalinfrage

[Zweiter Kommentar zum Offenen Brief des ZK der KPdSU. Von den Redaktionen der Renmin Ribao und der Zeitschrift Hongqi, 13. September 1963; aus: Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, Berlin 1970, S. 137 - 138 und 148 - 149]

(Auszüge)

Das ganze Leben Stalins war das Leben eines großen Marxisten-Leninisten, eines großen proletarischen Revolutionärs. Während sich Stalin als großer Marxist-Leninist und proletarischer Revolutionär große Verdienste um das Sowjetvolk und die internationale kommunistische Bewegung erwarb, beging er auch in der Tat einige Fehler. Unter diesen Fehlern Stalins waren solche grundsätzlicher Natur, andere wurden im Zug der praktischen Arbeit begangen; einige dieser Fehler hätten vermieden werden können, andere waren zu einer Zeit, da die Diktatur des Proletariats kein Vorbild hatte, kaum zu vermeiden.

In seiner Denkweise wich Stalin in einigen Fragen vom dialektischen Materialismus ab und verfiel in Metaphysik und Subjektivismus. Dadurch entfernte er sich manchmal von der Wirklichkeit und von den Massen. Im inner- und außerparteilichen Kampf verwechselte er zu gewissen Zeiten und in gewissen Fragen die zwei verschiedenen Arten von Widersprüchen - Widersprüche zwischen dem Feind und uns und Widersprüche im Volke - sowie die verschiedenen Methoden zur Lösung dieser zwei Arten von Widersprüchen. Als er die Unterdrückung der Konterrevolution leitete, wurden viele Konterrevolutionäre, die bestraft werden mußten, in gerechter Weise bestraft, aber zur gleichen Zeit wurden auch manche unschuldige Leute zu Unrecht verurteilt. So ist man 1937 und 1938 bei der Unterdrückung der Konterrevolution zu weit gegangen. In Partei- und Staatsorganisationen befolgte Stalin nicht in vollem Maß den proletarischen demokratischen Zentralismus, oder verletzte ihn in gewissem Grad. Auch in der Behandlung der Beziehungen zwischen Bruderparteien und Bruderländern beging er manche Fehler. In der internationalen kommunistischen Bewegung gab er ebenfalls einige falsche Ratschläge. All diese Fehler haben der Sowjetunion und der internationalen kommunistischen Bewegung gewissen Schaden zugefügt.
Die Verdienste und Fehler im Leben Stalins sind objektive historische Tatsachen. Doch sind seine Verdienste im Vergleich mit seinen Fehlern größer. In der Hauptsache hatte Stalin recht, seine Fehler sind sekundär. Jeder aufrechte Kommunist, der die Geschichte achtet, wird bei der Einschätzung der Ideen und der Tätigkeit Stalins bestimmt zuerst Stalins Hauptseite sehen. Deshalb muß man, während man die Fehler von Stalin korrekt erkennt, kritisiert und überwindet, zu gleicher Zeit die Hauptsache im Leben Stalins verteidigen, um den Marxismus-Leninismus zu verteidigen, den er verteidigt und weiterentwickelt hatte.
Es ist von Vorteil, wenn man die Fehler Stalins, die nur sekundär waren, als Lehren der Geschichte auffaßt, um die Kommunisten der Sowjetunion und die aller anderen Länder zu warnen, diese Fehler zu wiederholen, beziehungsweise sie zu veranlassen, weniger Fehler zu begehen. Positive und negative historische Erfahrungen sind für alle Kommunisten von Nutzen, wenn sie auf korrekte Art und Weise gewonnen werden, den historischen Tatsachen entsprechen und in keiner Weise verdreht werden.

Die Motive der Führung der KPdSU bei ihrer gänzlichen Verneinung Stalins sind solche, die das Tageslicht scheuen.
Stalin starb 1953. Drei Jahre später griff ihn die Führung der KPdSU auf dem XX. Parteitag aufs heftigste an und wiederholte diesen Angriff acht Jahre nach Stalins Tod auf dem XXII. Parteitag, entfernte seine sterblichen Überreste aus dem Mausoleum und verbrannte sie. Die wiederholten scharfen Attacken der Führung der KPdSU gegen Stalin zielten darauf ab, den unauslöschbaren Einfluß dieses großen proletarischen Revolutionärs unter dem Sowjetvolk und den Völkern der ganzen Welt zu beseitigen, den Marxismus-Leninismus, den Stalin verteidigt und weiterentwickelt hatte, zu verneinen und damit der revisionistischen Linie auf allen Gebieten den Weg zu bahnen. Die revisionistische Linie der Führung der KPdSU begann gerade mit dem XX. Parteitag und entwickelte sich auf dem XXII. Parteitag zu einem ganzen System. Die Tatsachen zeigen immer deutlicher, daß die Revision der Lehren des Marxismus-Leninismus über den Imperialismus, über Krieg und Frieden, über die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats, über die Revolution in den Kolonien und Halbkolonien, über die Partei des Proletariats usw. durch die Führung der KPdSU untrennbar mit ihrer Verleugnung Stalins verbunden ist.

71. ´Staatskapitalismus´: Die Thesen Charles Bettelheims

Charles Bettelheims Kritik am sowjetischen Sozialismus erstreckt sich auf das gesamte ideologische Gebäude, auf dem dieser ruht. Er beruht im wesentlichen auf folgenden - nicht mehr hinterfragten - Prämissen: durch die sich die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR reproduzieren, deuten für Bettelheim auf die Vorherrschaft kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse hin. Sie haben mit den Zielen, unter denen die Bolschewiki 1917 auf eine Umwälzung des Kapitalismus orientierten, wenig gemein.

Dennoch ist die Entwicklung des Kapitalismus in der UdSSR mit Tendenzen der bolschewistischen Ideologie verknüpft, die dazu beigetragen haben, daß die Grundsteine einer klassenlosen Gesellschaft, die 1917 gelegt wurden, verkümmert sind oder schnell verschwanden.
"Wenn die Sowjetunion sozialistische Strukturen herausgebildet hat, dann nicht wegen der Transformation ihrer ökonomischen Basis, sondern - unmittelbar nach der Oktoberrevolution - aufgrund der Besonderheit einer politischen Macht, die den Kampf für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufnahm und die Arbeiter im Hinblick auf diese Veränderung vereinte. Als dieser Kampf aufgegeben wurde, vor allem als die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als ‚abgeschlossen‘ verkündet wurde, obwohl sie es nicht war, verlor die sowjetische Gesellschaftsformation ihren sozialistischen Charakter. Die Preisgabe des Kampfes machte offenbar, daß sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen eine Wende vollzogen hatte, die die Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse zuließ und sicherte."
Mit der Kollektivierung und der beschleunigten Industrialisierung des 1. Fünfjahresplans beginnt nach Bettelheim ein Prozeß der Unterdrückung der Massen in nie dagewesener Form, der die keimhaft erst entstandenen Tendenzen kommunistischer gesellschaftlicher Verhältnisse radikal abtötet. Die wesentlichen Inhalte dieser Ideologie sind - im Bruch mit der bolschewistischen Ideologie:
"Der Staatskapitalismus, wie er in der UdSSR vorliegt ist ein tief widersprüchliches Phänomen. Einerseits sichert er die Reproduktion des Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, andererseits erzeugt er eine permanente Krise - sie artikuliert sich in der übermäßigen Ausbeutung der Bevölkerung und in der Unzufriedenheit all jener, die den Widerspruch zwischen der Sprache der Macht und der Realität wahrnehmen. Deshalb ist diese Macht notwendigerweise repressiv. Allein der Kampf zur Überwindung dieses Staates und der kapitalistischen Arbeitsteilung ist mit der Entwicklung der Demokratie für die Massen vereinbar." ()*71.6
Im Juni 1989, ak.


Anmerkungen von Seminar-AG des KB Nord:
*71.1
Charles Bettelheim: Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft, in: Bettelheim, Meszaros, Rossanda u.a.: Zurückforderung der Zukunft, 1979, S. 105.

*71.2
Interview mit Charles Bettelheim, in: Berliner Hefte, Zeitschrift für Kultur und Politik, 3. 1977, S. 43.

*71.3
Erler, Süß (Hrsg.): Stalinismus. Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Krieg. Ffm/New York 1982, S. 504.

*71.4
ebd., S. 505.

*71.5
ebd., S. 496.

*71.6
Charles Bettelheim: Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft, a.a.O., S. 106.



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last update : Tue Sep 28 22:07:59 CEST 2004 Seminar-AG - KB (Nord)
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