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"Für einen Kommunismus der technischen Bilder" - Vilem
Flusser als Medientheoretiker und Utopist
von Timo Daum
Auszüge aus einem Vortrag auf dem KRISIS-Seminar im Waldschloß
Goehrde, 7. - 9. September 1996
(....)
Flussers Utopie
Im vierten Teil versuche ich, eine Interpretation seiner Utopie eines
Universums der technischen Bilder zu formulieren. Vergleich mit und Kritik an
den ueblichen kommunistischen Utopievorstellungen.Das soll es Euch ermoeglichen
, Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit bekannten klassisch kommunistischen bzw.
von der Krisis formulierten Utopievorstellungen ausmachen zu koennen.Flusser und
neue Medien. Medienpolitik der Linken angesichts neuer medialer Welten.
1. Die Schrift Die Kommunikation zwischen den
Menschen fand seit Urzeiten auf zwei Arten statt: Durch Laute und durch
Bilder.Der Informationsaustausch via Mund und Ohr, die "orale Kultur"
hat den Vorteil, keiner großen Anstrengung zu beduerfen und sehr flexibel
zu sein (laut, leise, schnell, langsam, etc.) Allerdings ist die mittels Lauten
uebertragene Information fluechtig und sie ist durch Geraeusche ueberlagert.
Dadurch ist sie von kurzer Dauer und oft undeutlich.Die zweite und historisch
juengere Technik ist die des Bildeinpraegens, zum Beispiel das Ritzen auf
Steinen. Der Stein setzt dem Einritzen allerdings erheblichen Widerstand
entgegen. Die "Einbildung" ist zwar von Dauer, dafuer aber weniger
flexibel und sehr muehsam. (Bild hat bei Flusser zwei hauptsaechliche
Bedeutungen: erstens Darstellung von realen Gegenstaenden im Sinne von Abbild
und zweitens Bild im Sinne von Bild, das sich die Menschen (die Gesellschaft)
von sich selber und ihrer Umwelt machen.)Die Erfindung der Schrift kommt einer
Synthese dieser beiden Methoden gleich. Die Vorteile beider Kulturen vereinigen
sich. Geschriebenes ist aehnlich dauerhaft wie der Stein und ebenso flexibel wie
die Sprache, was die Ausdrucksmoeglichkeiten angeht.
(Traditionelle Bilder) Das Alphabet wurde vor etwa 10.000 Jahren
entwickelt. Es hat die "traditionellen Bilder", die vorher das
bestimmende Medium, der beherrschende Code fuer die Selbstreflexion der
menschlichen Gemeinschaft gewesen waren, verdraengt. Diese Bilder (zum Beispiel
Hoehlenmalereien) waren zweidimensionale Darstellungen der Lebenswelt. In ihnen
wurden Szenen festgehalten, symbolisiert. Sie waren "subjektive
Abstraktionen von Phaenomenen". In dieser Phase entstanden z.B. die
Religionen, die kanonisierte Bilderwelten sind. Flusser bezeichnet diese Phase
als Phase des mythischen Denkens und Handelns.
(Geschichte) Schreiben ist linear.Wenn man schreibt, schreibt man
zeilenfoermig. Die Schrift rollt das Bild, das vorher der beherrschende Code
war, zu Zeilen und gibt damit eine Leserichtung vor (vgl. Hieroglyphen bei den
Aegyptern, die schon Schrift sind, aber noch nicht Alphabet, sondern noch wenig
abstrakte Bildsymbole).Die symbolisierende Szene im alten, traditionellen Bild
wird zu einer Folge von Symbolen, zu einer Erzaehlung, zu einer
Bildergeschichte. Die Informationen sind nun seriell (aufgereiht) angeordnet. "Mit
der Erfindung der Schrift beginnt die Geschichte, ... weil sie Szenen in
Prozesse verwandelt: Sie erzeugt das historische Bewußtsein." Erst
wenn man Zeilen schreibt und liest, kann man eindimensional (linear) denken,
fuehlen, handeln, wollen und werten. Erst als etwas aufgeschrieben wurde,
Ereignisse seriell notiert wurde, begann die Geschichte zu "laufen".
In vorschriftlichen Zeiten war das Denken ein sich in Kreisen drehendes,
mythisches Denken. Die Erfindung des Alphabets ersetzte das mythische Sprechen
durch logisches Sprechen und damit mythisches Denken durch logisches Denken. Das
Alphabet wurde erfunden, um ueberhaupt erst buchstaeblich denken zu koennen.
Auch Wissenschaft und Philosophie sind erst moeglich, wenn in Zeilen gedacht
werden kann.Schrift ist also nicht einfach ein Instrument der Kommunikation,
sondern der Code, der Geschichte, Politik, moderne Subjekte, moderne
Gesellschaft erst ermoeglicht hat und diese strukturiert.
(Buchdruck) Der erkenntnistheoretische Sprung, den wir Gutenberg zu
verdanken haben, ist die Erfindung der Typen( im doppelten Sinne des Wortes).
Mit der Erfindung der gegossenen Druckbuchstaben fuer den Buchdruck (Typen)
wurde offensichtlich, daß es sich bei Schriftzeichen um Typen handelt
(Typen im Sinne von Modellen, Urformen immer gleicher Ausdruckseinheiten).Durch
die Einfuehrung des Buchdrucks wird deutlich, daß das Erzeugen von Texten
in zwei Bestimmungen zerfaellt: einmal die "Sinngebung", den Entwurf
neuer Aussagen durch Manipulation von Zeichen, und andererseits das repetitive
Herstellen von "Drucksachen", das Drucken. Also in das kreative
Entwerfen eines neuen Sinns einerseits und das Pressen dieses Entwurfs in Typen
andererseits. Das Zweite ist eine stupide, auf die Druckpressen abzuwaelzende
Beschaeftigung.Das Aneinanderreihen von Schriftzeichen ist etwas Geordnetes, das
kann man Maschinen ueberlassen. Das ununterbrochene Aufschreiben, das
ununterbrochene Fortschreiben wird Sache der Apparate werden. Deshalb kann man
den Fortschritt, das historische Denken und Handeln, den Apparaten ueberlassen.
Das Typisieren, das Manipulieren von Zeichen, die Sinngebung, das Informieren
werden angesichts der Drucksache als die des Menschen wuerdige Taetigkeit
evident. Und damit wird das Arbeiten, das Erzeugen von charakteristischen Sachen
ueberhaupt (nicht nur von Texten) als untermenschlich, als eine auf Maschinen
(bzw. Druckerpressen) abzuwaelzende Geste verachtet. Der Buchdruck ist Modell
und Keim der Industrierevolution. (Informieren heißt, den Dingen
Information Aufpraegen. Einbilden ist Informieren von Bildern, Arbeiten ist
Informierne von Gegenstaenden)
Fazit: Die Erfindung der Schrift hat uns aus dem Szenen symbolisierenden
Universum der traditionellen Bilder hinauskatapultiert. Mit der Schrift, dem
Laufen der Zeichen, fangen Geschichte, Philosophie, Politik, moderne
Subjektivitaet an zu laufen. Aehnlich wie Marshall McLuhan betrachtet Flusser
die Schrift als Disziplinierungsmechanismus. Dieser Mechanismus ermoeglicht den
Menschen und zwingt sie zugleich, Befehle zu geben und ihnen zu gehorchen,
linear zu denken und zu handeln, kurz: Geschichte zu machen. Die Erfindung des
Buchdrucks macht offensichtlich, daß das Schreiben mechanisierbar und
automatisierbar ist. Geschichte und Produktion werden zu einer Angelegenheit der
Apparate.
2. Technische Bilder Der alphanumerische Code ist im
Begriff, durch einen anderen abgeloest zu werden: durch den Code der technischen
Bilder. Technische Bilder sind im Gegensatz zu traditionellen Bildern solche,
die nicht flaechig sind, sondern aus Mosaiken von nulldimensionalen Punkten
bestehen und von Apparaten erzeugt werden. Das sind alle Bilder, die codifiziert
sind, die also aus einem Programmtext bestehen, dessen Kompilierung erst das
Bild liefert. Computerbilder, alle Bilder im Internet, aber auch Fernseh- und
Videobilder. Sie alle bestehen aus Listen von Nullen und Einsen, die dann zu
Pixeln umgerechnet werden. Pixel sind Bildpunkte und als solche nulldimensional,
ohne Ausdehnung.Das Alphabet hat die vorgeschichtlichen Piktogramme, die
traditionellen Bilder verdraengt, nun wird es selbst durch die technischen
Bilder verdraengt.Warum ist das so wichtig? Die Struktur der Informationstraeger
hat einen entscheidenden Einfluß auf unsere Lebensform, da wir im
Gegensatz zu den Tieren im Wesentlichen auf erworbenen Informationen beruhen.
Wenn Texte von Bildern verdraengt werden, dann erleben, erkennen und werten wir
die Welt und uns selbst anders als vorher: nicht mehr eindimensional, linear,
prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Flaeche, als Kontext, als
Szene. Und wir handeln auch anders als vorher: nicht mehr dramatisch, sondern in
Beziehungsfeldern eingebettet.
(Was bedeuten technische Bilder?) Traditionelle Bilder sind subjektive
Abstraktionen von Phaenomenen, technische Bilder sind Konkretionen von
objektiven Abstraktionen. Apparatische Bilder sind also im Vergleich zu alten
Bildern umgekehrt eingestellt. In den technischen Bildern sind keine objektiven
Bilder der Umwelt enthalten, sondern reine, geschichtslose "Einbildungen".
Die Listen aus Einsen und Nullen, die den technischen Bildern zugrundeliegen,
haben kein Gedaechnis, keine Geschichte, keine Gestalt. Das hat zur Folge, daß
produktive und reproduktive Bildernicht mehr unterscheidbar sind. Sie sind von
der gleichen Struktur. Es macht keinen Sinn, zwischen originalen Bildern und
Reproduktionen zu unterscheiden. Es ist unmoeglich, zwischen einem Abbild und
einem Bild als Modell unterscheiden zu wollen (Beipiel Quarks: sind sie Abbilder
der Realitaet oder Modelle, die Frage ist sinnlos).Beispiel: Gibt es einen
Unterschied zwischen der Photographie eines Hauses und dem Entwurf eines
Flugzeugs im Computer? Kann man sagen, daß im einen Fall das Haus die
Ursache fuer die chemischen Veraenderungen in der Photoemulsion ist? Und daß
die Photographie eine getreue Abbildung des Hauses ist? Daß das Haus nicht
erfunden ist, wie das Flugzeug, sondern vom Photographen entdeckt wurde? Das
Haus ist doch aber nicht die Ursache der Photographie, so wie eine Hundepfote
Ursache fuer die Spur im Schnee ist! Und das Haus sieht doch nicht wirklich so
aus, wie ich es auf dem Photo sehe! Und der Photograph hat das Haus doch nicht
entdeckt, wie etwa ein Spaziergaenger entdeckt, daß er vor einem Haus
steht! Damit ist nicht gesagt, daß es unmoeglich ist, zwischen der
Seinsebene eines Hauses direkt auf der Straße und jener eines noch zu
bauenden Flugzeugs zu unterscheiden. Sondern daß es unmoeglich ist,
zwischen einem Abbild und einem Bild als Modell unterscheiden zu wollen.
(Telematik) Telematik bezeichnet einerseits die Technik, mit deren Hilfe
die Menschen technische Bilder erzeugen und betrachten koennen. Das Wort ist
zusammengesetzt aus Telekommunikation + Informatik bzw. Automatik (Tele: die
Ferne naeherbringen, Teleskop, Telefon; Automatik, Automation = selbsttaetige,
programmierte Technologie). Telematik bedeutet im Gegensatz zur Telefonie, daß
maschinell verarbeitbare Daten ausgetauscht werden. Andererseits beschreibt
Telematik einen Zustand, in dem informatische Telekommunikation die Gesellschaft
bestimmt. Die Telematik uebernimmt eine Funktion, welche bislang von linearen
Texten eingenommen wurde, die Funktion naemlich, die fuer die Gesellschaft und
den Einzelnen lebenswichtigen Informationen zu tragen.Die spezifische
menschliche Taetigkeit des telematischen Zeitalters ist das Programmierens.
Alles Redundante, Wiederholbare wird von Maschinen erledigt. Programmieren
bedeutet also also kreativ taetig sein. "Die hinter dem Programmieren
verborgene Absicht ist, den Menschen fuer eine Sinngebung der Welt und seines
Lebens darin frei zu machen. " (Dazu spaeter mehr im Kapitel ueber
Kommunismus der technischen Bilder)
(Telekratie) Flusser sieht allerdings eine wenig reizvolle
Realisierungsform der Telematik: die einer zentral programmierten, totalitaeren
Gesellschaft von Bildempfaengern und Bildfunktionaeren. Wenn man sich die
herrschenden Strukturen in den Medien anschaut, dann ist von telematischer
Befreiung wenig zu sehen. Woran liegt es, daß die ueberwiegende Mehrzahl
der Medien unbefriedigend sind (z.B. das SAT.1-Programm?) Wie paßt eine
Kohl-Kirch-Connection ins Bild der Segnungen durch die telematischen
Techniken?Flusser versucht diesem Umstand mit dem Begriff der Telekratie gerecht
zu werden. Telekratie (tele = fern, kratie= Herrschaft) ist die Herrschaft des
(einen, zentralen) Senders ueber die (vielen, vereinzelten) Empfaenger. Die
telekratische Gesellschaft, auf die wir nach der Auffassung Flussers
gegenwaertig offenbar zusteuern, ist gekennzeichnet durch eine "fascistische"
(verbuendelte) Medienstruktur: Wenige Sender strahlen gebuendelte Informationen
aus. Diese werden von isolierten, stummen Empfaengern aufgenommen, die keine
Verbindung untereinander aufbauen koennen.Diese Struktur ist fascistisch nicht
aus irgendwelchen ideologischen, sondern aus technischen Gruenden. In der von
den Sendern zentral kontrollierten Gesellschaft zerfallen die hergebrachten
Strukturen und die Menschen werden zerstreut. Die Bilder dienen dieser
Zerstreuung im doppelten Wortsinne, die Menschen werden unterhalten, bei Laune
gehalten und dadurch auch voneinander isoliert.Die Bilder werden in Apparaten
erzeugt und automatisch durch Kanaele an die Empfaenger geleitet. In diesen
Apparaten werden einige Funktionen durch Menschen (Funktionaere) und andere
durch nichtmenschliche Automaten vollzogen. Die Funktionaere (z. B. Politiker)
entscheiden nicht, sondern funktionieren (der Praesident, der den roten Knopf
drueckt, wenn die Apparate es ihm nahelegen).Der Diskurs in der telekratischen
Gesellschaft ist ein automatischer. Es ist ein apparatischer Totalitarismus. Die
Sender sind nichts als jene nulldimensionalen Punkte, von denen die
Strahlenbuendel der Medien ausgehen. (und nicht irgendwelche Hintermaenner) Die
Frage ist: Kann der Mensch diese Kontrolle wiedergewinnen und so das Gegenteil
von Apparat-Totalitarismus erreichen? Der Mensch hat als Einzelwesen, als
einzelner und zerstreuter Funktionaer und Empfaenger die Kontrolle ueber die
Apparate definitiv verloren. Die Logik der verknuepften Tasten ist eigentlich
dialogisch, diese Logik kann aber nur entfaltet werden, wenn auch die
Verbindungen selbst netzwerkartig sind. Es muß also darum gehen, die
Netzstruktur der neuen Medien zu entfalten als Gegenmodell zum telekratischen
Schaltungsmodus. (Dazu spaeter mehr im Kapitel ueber Medienpolitik)
Fazit: Technische Bilder bestehen aus Bildpunkten, die durch Komputation von
Programmtexten entstehen. Sie loesen die linearen Texte ab in ihrer Funktion als
Transportmittel der lebensbestimmenden Informationen. Originale und Kopien,
Abbilder von Realitaet und Imaginationen sind ununterscheidbar geworden.
Telematik ist einerseits die Technik fuer Erzeugung und Austausch technischer
Bilder und andererseits ein Zustand, in dem technische Bilder die wesentliche
Quelle der Selbstrefektion der Gesellschaft bilden. Telekratie, Fernherrschaft
ist die verbuendelte, fascistische Anwendungsform der Telematik, die die
Menschen voneinander isoliert.
3. Telematische Gesellschaft Ist es moeglich, den "fascistischen",
totalitaeren Schaltplan der Bilder umzuschalten? Die Telematik ist eigentlich
eine Technik des Dialogisierens, wenn die Bilder dialogisch geschaltet sind,
kann der Totalitarismus einer demokratischen Struktur weichen. Die
netzwerkfoermige Schaltungsmethode ist die der Telematik angemessene Alternative
zur verbuendelten Schaltungsmethode: Die Post, das Telefon, die Telegraphie sind
solche Netzwerke. In der reversiblen, bidirektionalen Vernetzung von
Computerterminals findet diese Schaltungsmethode ihre Vollendung.
(Politik im telematischen Zeitalter) In vortelematischen Gesellschaften
mußten die Menschen politisch sein, d. h. sie mußten in den
oeffentlichen Raum (agora) hinausgehen. Dort besorgten sie die fuer ihr Leben
relevanten Informationen und knuepften die lebensnotwendigen Kontakte. Sie mußten
in die Schule gehen, Konzerte besuchen, Vortraege anhoeren. Heute werden die
Informationen (und andere Lebensmittel) zunehmend frei Haus geliefert. Wer
informiert sein will, muß zu Hause bleiben. Wer kommunizieren will, sich
ins Vehaeltnis setzen mit anderen, muß zusehends sein Terminal benutzen.
Somit erscheint die sogenannte Politikverdrossenheit, das politische
Desengagement in ganz anderem Licht. "Die Tasten haben unsere Vorstellungen
von "Politik" und "Privatraum" gesprengt, und sie zwingen
uns, in anderen Kategorien zu denken."In neuem Sinn sozialisierte Menschen,
Computerfreaks und Netzsurfer betreten die geschichtliche Buehne. Die scheinbar
kontaktarmen, schuechternen Stubenhocker und Tueftler (nerds) werden von den
traditionellen politischen Menschen belaechelt. Voellig zu unrecht.Das
Politische ist tot und Geschichte wird zur Nachgeschichte. Networking ist das
Schlagwort einer nachpolitischen Informationverteilung. Die lineare Geschichte,
das Fortschreiten und Fortschreiben, der Fortschritt kommen zu ihrem Ende.
Posthistoire ist der Name fuer eine Welt, wo nichts fortschreitet und alles bloß
passiert. Die Leitfaeden zerfallen nicht, weil wir uns entschlossen haetten, sie
zu verwerfen, sondern das passiert spontan. Die technischen Bilder fuehren
zwangslaeufig zu einer solchen Weltwahrnehmung.
(Krise der Autoritaet) Die Telematik evoziert die Krise der Autoritaet,
der Autoren und der "großen Maenner". Einfach deshalb, weil der
Diskurs in seiner Bedeutung zurueckgedraengt wird. Es gibt beispielsweise im
Internet, das einem telematischen Netzwerk schon ziemlich nahekommt, fuer alle
gleichermaßen die Moeglichkeit zu publizieren bzw. Bilder zu produzieren.
Die Krise des Autors wird besiegelt durch die technische Aufloesung des
Copyrights. Jede Information, sei sie Bild, Text, Ton oder Gegenstand kann
beliebig oft kopiert werden. Es gibt keine Originale mehr, als auch keine
Autoren: "Jede Autoritaet wird verschwinden, weil sie angesichts der
Kopierbarkeit redundant ist."Alle Menschen koennen alle Menschen, alle
Geschichte, alles Wissen, alles Erdenkliche auf ihr Terminal bringen (wenn sie
es wollen) Alle Theorien, alle Geschichte, alle Bilder, Vergangenheit und
Zukunft werden sich in einem Netz ohne Anfang und Ende finden.
(Automatische Produktion) Das Informieren von Objekten (Arbeit), wie
auch das Zubringen der informierten (bearbeiteten) Objekte an den
Menschenkoerper (Verteilung), wird robotisiert werden. Handeln und Handel sind
robotisierbar. In diesem Sinne wird der Mensch aus der Produktion von Guetern
ausgeschaltet werden, sowohl Produktion als auch Distribution von "Guetern"
werden im Ruecken der bilderbetrachtenden Menschen automatisch vor sich
gehen.Dazu Flusser: "Wenn in der bisherigen vortelematischen Lage nur
wenige Leute Genies waren, so deshalb, weil sich die meisten Menschen nicht am
Dialog beteiligen konnten, sondern die im Dialog ausgearbeiteten Informationen
auf materielle Unterlagen druecken mußten, "arbeiten" mußten.
Die Telematik und die Robotik werden die Menschheit fuer die Kompetenz befreien,
Redundantes in Informatives zu verwandeln, indem sie von der Notwendigkeit zu
arbeiten befreit werden. Die Robotik verleiht die noetige Muße (schole),
um aus der Telematik eine Schule fuer Kompetenzen zu machen, eine Schule der
Freiheit."Die Telematische Gesellschaft ist ein aus individuellen Gehirnen
zusammengesetztes Uebergehirn . Eine Gesellschaft der simultanen konsensuellen
Entscheidung, eine Art kosmisches Gehirn. Die dialogische Erzeugung von
Information wird zentral in der telematischen Gesellschaft. Das Bild MacLuhans
vom kosmischem Dorf ist schief: Es gibt keinen oeffentlichen Dorfplatz, dem der
private Bereich des Bauernhauses gegnueberstuende. Statt vom "kosmischen
Dorf" ist vom "kosmischen Gehirn" zu sprechen.
(Das Verschwinden der Koerper) Die Stimmung des Menschen im
Universum der Telematik beschreibt Flusser folgendermaßen: "... eine
zugleich fieberhaft taetige und leidenschaftliche Stimmung, etwas wie eine
Synthese jener Stimmungen, wie sie beim kuenstlerischen und wissenschaftlichen
Schaffen, im politischen Engagement, auf revolutionaeren Massenkundgebungen,
beim Schach und beim Roulette, an der Boerse und in libidinoesen Traeumen
mitschwingen. Eine Stimmung freilich, die nicht wie beim Orgasmus sich steigert,
um abzuflauen, sondern die den orgastischen Hoehepunkt ohne Unterbrechung, das
ganze Leben lang, aufrechterhaelt. Denn diese Stimmung ist nicht koerperlich,
sie ist zerebral. Ein ununterbrochener zerebraler Orgasmus: das ist die Form, in
der die Bilder die telematische Gesellschaft steuern werden." Ist das noch
Leben zu nennen? Flusser ist der Meinung, daß ueberhaupt erst dies ein
menschliches Leben zu nennen ist. Alle vorangegangenen Lebensformen sind im
Vergleich dazu nicht mehr als vormenschliche Annaeherungsversuche. Die Frage
nach dem Zweck einer spielerischen Bildproduktion ist falsch: "Eine solche
Fragestellung ist typisch vortelematisch, naemlich aus dem zweckbedingten
historischen Denken geboren. Gerade die Mueßigkeit der Bildherstellung,
dieses Jenseits von jedem "Wozu", diese Motivlosigkeit ist, wenn ich
richtig voraussehe, die Lebensstimmung des kuenftigen Menschen. Er wird
problemlos leben, nicht mehr gegen Gegenstaende und Widerstaende stoßen,
sondern in der reinen Einbildung, in der Muße leben."Abschreckende
Vorstellung, auf Cerebralitaet reduziert zu sein, Schnittstellen mit den
Datennetzen ersetzen den Koerper, etc? Zunaecht kann die Libido von der
Fortpflanzung getrennt werden, den Sex von der Biologie. Fortpflanzung der
menschlichen Gattung wird automatisiert, apparatische Inkubation neuer Menschen
befreit zunoechst mal die Frauen vom Fluch des Gebaerenmuessens. Außerdem
wird deutlich, daß der Orgasmus nicht im Geschlechtsorgan, sondern im
Gehirn seinen Sitz hat. Die tatsaechlich befreite Libido ist eine nicht nur von
der Fortpflanzung, sondern vom Koerperlichen schlechthin befreite. Flussers
radikale Koerperpolitik laeuft auf die Abschaffung der Koerper hinaus. Diese
Abschaffung wird durch automatisierte Reproduktion der Art, neue
Reproduktionstechniken, automatische Inkubation erzielt.
Telematische oder tribalistische Utopie
(Kommunistischer Tribalismus) Die z.B. in der Krisis ueblichen
Kommunismusvorstellungen stehen auf dem Stand des 19ten Jahrhunderts. Die immer
wieder auftauchenden Kommunen und gutnachbarschaftlichen Beziehungskisten, deren
Mitglieder gemeinsam ihre Haeuser bauen, die Kindererziehung organisieren und
sich ueber den Abwasch streiten, koennen hoechstens als Manufaktur-Kommunismus
durchgehen. Gedanken zum selbstorganisierten Hausbau im Freundeskreis (man kann
ja viel selber machen) erinnern an Werbebroschueren von Bausparkasen. Bei der
Diskussion ueber Utopievorstellungen und Modelle einer Organisation des
Zusammenlebens in einer nicht mehr fetischistischen Gesellschaft ist man auf dem
Arbeiterbewegungsstandpunkt stehengeblieben. Ein Fourier, Engels oder Bebel
faende sich gut zurecht mit dem Stand der Diskussion.Daß man die hundert
Jahre alten Vorstellungen ueber Bord werfen muß und der Verbreitung neuer
Technologien und neuer Medien Rechung tragen muß, kann man bei Flusser
lernen. Erst mit der Telematik wird ueberhaupt eine menschenwuerdige
Post-Wertgesellschaft denkbar, die die Fesseln entfremdeter Arbeit nicht nur in
Sonntagsreden ueberwindet, sondern real den Maschinen das Wiederholbare ueberlaeßt.
(Telematische Utopie) Abschaffung der Arbeit muß zum einen
bedeuten, daß das Leben unter der Aegide der abstrakten Arbeit (Arbeit
ohne Inhalt, Arbeit insofern sie wertproduzierende ist) aufhoeren muß. Das
Universumd er abstrakten Arbeit ist historisch und logisch verknuepft mit der
industriellen Produktion und der Taylorisierung der Arbeitsablaeufe. Die
konkrete Seite der abstrakten Arbeit ist die wiederholte Ausfuehrung eines
standardisierten Handgriffs, die ihr Modell moeglichst genau imitieren soll.
Entfremdete und repetitive Betaetigung und abstrakte Arbeit sind zwei Seiten
einer Medaille. Die Abschaffung der abstrakten Arbeit kann nur erfolgreich sein,
wenn auf stofflicher Ebene alles Wiederholbare ausgemerzt wird. Denn zu stupider
Taetigkeit laeßt sich der Mensch auf Dauer nur ueberreden durch Lohn,
Zwang oder Moral. Das alles soll ja aber im Kommunismus aufhoeren, zu
existieren.Informatik, Robotik, Automatik, Telematik sind die Techniken, die
offensichtlicher als alle vorangegangenen den Kapitalismus an seine Grenzen
treiben. Der Ausschluß des Menschen aus der Produktion, den diese
Techniken unerbittlich betreiben, drueckt dem Mehrwert die Gurgel zu. Arbeiten
wird durch Programmieren ersetzt.Anders ausgedrueckt: Die unmittelbare Arbeit
und ihre Quantitaet als das bestimmende Prinzip der Produktion verschwindet. Sie
wird subalternes Moment gegen die allgemeine wissenschaftliche Arbeit,
technologische Anwendung der Naturwissenschaften nach der einen Seite, wie gegen
die aus der gesellschaftlichen Gliederung in der Gesamtproduktion hervorgehende
allgemeine Produktivkraft nach der anderen Seite. (Grundrisse, 596)Konkrete
arbeit verschwindet gegenueber Naturwissenschaft, Informatik einerseits und der
Vernetzung von programmierenden Individuen andererseits.Produktiver Mueßiggang
heißt Programmieren und Bilderproduktion. Die unmittelbare
Vergesellschaftung wird durch Datenleitungen zwischen bidirektional allen
Erdbewohnern hergestellt. Ein globale Netzwerk ermoeglicht die Kommunikation,
die Priduktion und die Reproduktion der Gesellschft mittels technischer Bilder.
(Beispiel Internet) Parallelen zum Internet draengen sich auf:
Dort existiert bereits in Keimform gemeinsames Programmieren von entfernten
Programmierern, die sich ueber Datenetze verstaendigen, wissenschaftliche
Kongresse, und chirurgische Oprationen, an denen Spezialisten teilnehmen, die
telepraesent sind. Das Internet ist ein riesiges Kopierwerk fuer Software und
alle moeglichen Texte. Jedes Bild, jeder Text, jede Handlung im Internet ist
beliebig oft kopierbar und allen zugaenglich. Das Hypertext-Prinzip, nach dem
das Internet organisiert ist, ueberwindet die linearen Texte, das Surfen im
Internet ueberwindet die lineare Geschichte. Internetbenutzer bewegen sich in
einem dialogischen Netzwerk, es gibt keine Hierarchien, alle koennen mit allen
kommunizieren, es gibt keine Vorzugsrichtung der Information (die Realitaet
sieht nicht immer so rosig aus). In virtuellen Diskussionsgruppen, Chat-Lounges
und MUDs treffen sich Menschen mit selbstgewaehlten Identitaeten und
Charakteren.(Ich wiederhole: Keimform und Modell)
Zusammenfassung und Kritik an Vilem Flusser
Zwei Mißverstaendnisse: Erstens koennte es so aussehen, als ob
die revolutionaere Praxis zur Vermeidung der telekratischen Senderherrschaft
darin bestehen mueßte, sich einen Internetanschluß zu besorgen. So
einfach ist es natuerlich nicht. Zur Ueberwindung der Politik ist leider schon
noch eine Menge Politik noetig. Die technischen und Bildungsvoraussetzungegn
beispielsweise fuer ein selbstbestimmtes Programmieren der Bilder sind ein
Politikfeld, das ganz klassisch bearbeitet werden muß.Es kann außerdem
nicht darum gehen den oekonomistischen Attentismus durch einen Attentismus der
neuen Medien zu ersetzen. Allerdings weiß man, daß bei jeder
ordentlich organisierten Revolution, zunaechst versucht wird, Radiosender und
Telegrafenamt einzunehmen. Es ist fuer das Gelingen jeder Revolution
entscheidend, die Schalthebel der Informationskanaele zu besetzen. Und das ist
keine Phantasma von der Allmacht der Medien, sondern seit hundert Jahren
Praxis.Zweitens koennte der Eindruck entstehen, daß die Kommunikationsform
der Menschen untereinander das Entscheidende fuer eine Gesellschaft ist. Daß
das, was bei Flusser "Schaltung der Tasten" heißt, also die Art
und Weise in der Medien aufgebaut sind, Kommunikation moeglich ist, das
entscheidende Kriterium fuer eine Gesellschaftsordnung ist. Als Wertkritiker
wissen wir natuerlich, daß Information kein Vergesellschaftungsprinzip
sein kann. Und daß eine Gesellschaft nicht erschoepfend damit
charakterisiert werden kann, ob sie eher dialogisch oder eher diskursiv sich
reproduziert. Gesellschaften als Organismus zu begreifen, der nach
kybernetischen Kriterien funtioniert, blendet eben Entscheidendes aus, Ideologie
und Fetischismus etc.Und doch ist es so, daß die Struktur der
Informationstraeger - wie ich vorhin versucht habe darzustellen - eng verknuepft
ist mit der technischen Entwicklung der Produktionsmittel einerseits und mit dem
Selbstverstaendnis einer Gesellschaftsordnung andererseits. Das haben wir am
Beispiel typisierendem Buchdruck und Industrierevolution gesehen. Ein zweiter
Aspekt kommt hinzu, naemlich der der Konvergenz von Information und
Produktionsmitteln. Die Differenz zwischen Apparaten, die Lebenmittel herstellen
und Apparaten, die Informationen verarbeiten oder der Kommunikation dienen,
verschwindet (Ist ein Computerprogramm, das ein Maschine steuert reine
Information oder Produktionsmittel? Kommunikationnetze innerhalb von Betrieben -
sind sie Teil des Produktionsaggregats oder faux frais der Produktion? Ist ein
Textverarbeitungsprogramm nur eine Datenmenge oder Produktionsmittel von
Autoren?) Kommunizieren und Produzieren werden in der telematischen Gesellschaft
eins. Produzieren heißt fuer den Menschen nun Programmieren und das
wiederum ist nichts als das Manipulieren (oder besser Cerebrieren) von
Information.
(Mediendiskussion) Welche Haltung soll die Linke gegenueber
technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bei den neuen Medien einnehmen?
Zwei hauptsaechliche Defizite muessen ausgeglichen werden: Erstens muß sie
ihre Haltung gegenueber neuen Technologien ueberdenken und aus ihrer
technikkonservativen ML-Lebenswelt herauskommen. Ein kritisches Medienbewußsein
ist noetig, das nicht von Kulturpessimismus und Technikablehnung bestimmt ist.
Sie darf sich nicht an den reaktionaeren Abwehrkaempfen des Alphabets
beteiligen.Der Trugschluß muß ueberwunden werden, es handle sich bei
technischen Bilder wie bei traditionellen Bildern um "objektive Abbildungen
der Umwelt. Zweitens muß sich die Linke in den Diskussionen um konkrete
Aspekte der Medienentwicklung beteiligen. Die Krisis sollte sich nicht zu schade
dafuer sein, medienpolitische Forderungen zu diskutieren. Freiheit der
Information, freier Informationszugang, eine weltweite Medienalphabetisierung
und elektronische Vernetzung aller Menschen der Erde muß sich die Linke
auf ihre Fahnen schreiben. Die "fascistische" Alternative der
Telematik muß verhindert werden, demokratische Medienstrukturen gefordert
bzw. gefoerdert werden. Die Versuche, am Copyright, an den Autoren und
Autoritaeten festzuhalten, muessen kritisiert werden. Die Kommerzialisierung des
Internet, das Verbot von CD-Verleihen muß kritisiert werden.
(....)
Quelle: http://www.magnet.at/krisis/
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