| Die Ansicht, wonach unsere gesellschaftlichen 
    Lebensformen heute ihre strukturelle Gefügtheit verlieren, 
    das berechtigte Maß, auf das hin die Subjekte ihren Lebensentwurf, ihre 
    Biographie und Identität ausrichten können, kann man heute in jeder 
    Illustrierten nachlesen. Daß der Marxsche Begriff vom Klassenkampf irgendwie 
    die komplexe Realität in den westlichen Metropolen nicht mehr völlig erfaßt, 
    meinen heute selbst linientreue DKP-Theoretiker. Und das nicht nur, weil sie 
    zu oft und zu lange Gorbatschows Thesen von den alle Klassenfragen 
    zweitrangig machenden globalen Gefahren propagiert hatten. Gebildete Leute, 
    die seit zwanzig Jahren im selben Strickpullover herumlaufen, die gegen die 
    Wechsel der Mode, der Musik und der Lebensstile völlig immun sind, lassen 
    sich heute über den "postmodemen Diskurs" aus und konstatieren die 
    'Verbreitung eines lässigen Pluralismus, ein heterogenes Sortiment von 
    Lebensstilen und Sprachspielen, eine allgemeine ästhetische Aufheiterung." Die mit massivem Mitgliederschwund 
    kämpfenden, systemkonformen Jugendverbände geben Studien in Auftrag, um 
    etwas über die immer aufwendiger werdenden jugendlichen 
    Selbstdarstellungsstrategien, auch 'Identitätsarbeit" genannt, 
    herauszufinden. Auf der anderen Seite stehen jene, die dem bürgerlichen 
    Evergreen vom "Ende des Klassenkampfes" noch nie über den Weg trauten, die 
    wissen, daß Skepsis angebracht ist, wenn bekannte opportunistische Figuren 
    und Zeitgeistschreiber wohlfeile Worte für neue Phänomene anbieten, zumal 
    man ja seit E. P. Thompson und Pierre Bourdieu weiß. daß Soziologie und 
    Öffentlichkeit die von ihnen behaupteten Phänomene auch zur Realität machen 
    können. Edward P. Thompson hat in seinem Buch, "Die Entstehung der 
    englischen Arbeiterklasse" nachgewiesen, daß die Entwicklung des 
    Kapitalismus zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die 
    Entstehung der Arbeiterklasse war. Wie wenig Armut und Elend automatisch zu 
    revolutionärem Bewußtsein führen, zeigt er am Beispiel des "King and 
    Church"-Mobs, der in den Jahren der französischen Revolution Personen 
    angriff, die mit den Revolutionären in Frankreich sympathisierten. Nicht das 
    absolute Ausmaß der Armut, sondern deren Erfahrung und Interpretation als 
    "moralisches Unrecht" ist nach Thompson die Ursache für den Widerstand. 
    Demnach kann eine Klasse nur in sozialen Kämpfen sichtbar werden. Umgekehrt 
    zeugen soziale Stabilität und fehlende Empörung nicht unbedingt von der 
    Abwesenheit materiellen und psychischen Elends, sondern von der 
    moralisch-politischen Übereinstimmung der Betroffenen mit normativen 
    Vorstellungen von einem sozial adäquaten Leben. Pierre Bourdieu wiederum 
    zeigt in "Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen 
    Urteilskraft", wie öffentliche Vorstellungen von Interessensidentitäten und 
    Distanzen zur realen Ausbildung von sozialen Gruppierungen führen können. Er 
    spricht von der "Klasse als Wille und Vorstellung" und zeigt, wie die 
    marxistische Arbeiterbewegung erst die Arbeiterklasse "machte", indem sie 
    die verschiedenen Ansatzpunkte für die Auflösung von Gruppenzusammenhängen 
    durch identitätsschaffende Losungen wie "Solidarität" relativierte: 
    "Wie heute in vielen Ländern die sogenannte 
    Arbeiterklasse existiert, ist absolut paradox: es ist dies eine gedankliche 
    Existenz, eine Existenz in den Köpfen eines Gutteils derjenigen, die der 
    Arbeiterschaft zugeordnet werden, zugleich auch in den Köpfen derer, die in 
    der anderen Ecke des sozialen Raumes angesiedelt sind".  Die Existenz einer Arbeiterklasse verdankt 
    sich demnach "dem Vorhandensein einer repräsentierten Arbeiterklasse, daß 
    heißt politisch-gewerkschaftlicher Apparate und bestallter Wortführer, 
    Funktionäre, die nicht allein ein vitales Interesse daran haben, an den 
    Bestand dieser Klasse zu glauben wie glauben zu machen, sondern die darüber 
    hinaus imstande sind, die "Arbeiterklasse" zum Sprechen zu bringen." Auch 
    hier gilt dann der umgekehrte Schluß: Nach der Zerschlagung der 
    Arbeiterklasse durch den Faschismus wurde die "Arbeiterklasse" von einer auf 
    Neutralisierung von Klassengegensätzen ausgerichteten Öffentlichkeit und .kompromißlerischen 
    Funktionären "derealisiert". Die vierzigjährige Propaganda vom "Ende des 
    Klassenkampfes" im deutschen Frontstaat blieb also nicht ohne Wirkung. Erst 
    vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die - die Vorarbeit des 
    Faschismus meist ausblendende -Diskussion über die Individualisierung 
    sozialer Lagen in Deutschland so populär ist. So wie weiße Rassisten 
    Afro-Amerikaner durch Ausgrenzung als "ethnische Gruppe" erst schaffen, also 
    schwarze Menschen verschiedener Herkunft "rassifizieren", so wurde die 
    deutsche "Arbeiterklasse" im Land nach dem Faschismus in der willentlichen 
    Vorstellung der Öffentlichkeit "ent-rassifiziert" und derealisiert. Dieser 
    Zustand von dessen Genesis bürgerliche Soziologen und 
    marxistisch-fundamentalistische Werttheoretiker gleichermaßen nichts wissen 
    wollen, ermöglichte in Deutschland die raschere Durchsetzung von dem 
    Kapitalismus immanenten 'Tendenzen", um die es in dem nachfolgenden Text 
    gehen soll: Die Herauslösung des einzelnen aus historisch vorgegebenen 
    Sozialformen im Sinne traditioneller Herrschafts- und 
    Versorgungszusammenhänge, der Verlust von traditionellen Sicherheiten im 
    Hinblick auf Handlungsweise, Glauben und leitende Normen und - 
    möglicherweise - die Entstehung neuer Formen sozialer Einbindung. Wo Kollektivschicksale wie Arbeitslosigkeit 
    zu individualisierten persönlichen Schicksalen werden, Ungleichheiten also 
    sozial anders gedeutet werden als früher, ist eine klassenanalytische 
    Erklärung nicht mehr gefragt und in ihrer traditionellen Gestalt auch nicht 
    mehr haltbar. Dieser Text versucht demgegenüber zu zeigen, 
    daß für Marx Individualisierungstendenzen in die Bewegung der 
    Kapitalakkumulation eingebunden bleiben. Mehr noch: 
    Es wird der Nachweis versucht, daß sich in Marx' Kritik der politischen 
    Ökonomie die Elemente einer Theorie und Kritik der bürgerlichen 
    Individualität finden, die sich mit einer Klassentheorie nicht nur 
    vereinbaren lassen, sondern ohne die eine Individualitätstheorie gar nicht 
    durchgehalten werden kann. Ist diese Einsicht erst einmal gegeben, so 
    braucht man um den aktuellen Forschungsstand zeitgenössischer Soziologen 
    (einige davon werden in den letzten Kapiteln dieses Textes vorgestellt) auch 
    keinen Bogen mehr zu machen. Dann kann man zum Beispiel Bourdieus 
    Habitus-Theorie und Norbert Elias' Zivilisationstheorie, (insbesondere seine 
    Ausführungen über den modernen Zwang zum Selbstzwang) für eine dringend 
    notwendige Aktualisierung des Marxschen Ansatzes fruchtbar machen und sich 
    der historischen und empirischen Forschung der Individualitätsformen 
    zuwenden. Ohne diese Einsicht bleiben nur zwei Alternativen - entweder die 
    heroische Verteidigung eines prinzipienfesten "Klassenstandpunktes", bei der 
    Beurteilung von HipHop, Ikeamöbeln und Scheidungsstatistiken oder aber der 
    lebenslange Zwang zur Orientierung an den "In/ Out"-Listen der 
    Zeitgeistblätter. Für Hektik und leichtfertige Polarisierung gibt es heute 
    weniger Gründe als je zuvor. Erst recht nicht für eine theoretische 
    Überrumpelung, die in diversen Kleinstgruppierungen heute erneut zur 
    altbekannten Einteilung in die "Linie" vorgebende Genossen und ein 
    verzweifelt um angemessene "Einsicht" ringendes Fußvolk führt. Die 
    Entfaltung der Kategorien erfolgt in diesem Papier schrittweise und ist m.E. 
    auf jeder Stufe nachvollziehbar und daher kontrollierbar und kritisierbar. Daß der Marxismus allgemein für untauglich 
    gehalten wird, die modernen Verhältnisse zu begreifen, geht in erster Linie 
    auf die vom Kapitalismus selbst produzierten Verkehrungen und Trennungen 
    zurück. Gemeint sind erstens die Verkehrung von Subjekt und Objekt, durch 
    die alle zivi-lisatorischen Tendenzen als Leistung von Kapital und Staat 
    erscheinen und zweitens die widersprüchliche Weise der Herausbildung von 
    Individualität, die sich im Kapitalismus als schroffe Gegenüberstellung der 
    Lebenspläne des vereinzelten Einzelnen und der Gesellschaft darstellt. (Die 
    Ursachen solcher Mystifikationen werden noch zur Sprache kommen.) Es ist 
    allerdings auch nicht zu übersehen, daß die Assoziation von "Ktassenkampf" 
    und "Ausbeutung" (der letzte Begriff wird bevorzugt im Sinne von 
    Ungerechtigkeit, mangelnder Fairneß etc. gebraucht) mit dem Marxschen Werk 
    durch eine ganz bestimmte Rezeption der Marxschen Kritik der politischen
    Ökonomie Vorschub geleistet wurde und wird, die m.E. selbst in den 
    kapitalistischen Verdi nglichungen befangen bleibt. Es ist richtig, daß Marx 
    alle Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen bezeichnete und es 
    ist auch richtig, daß nach Marx der ganze kapitalistische 
    Gesellschaftsaufbau auf der Ausbeutung der Mehrarbeitszeit der produktiven 
    Arbeiter beruht. Damit ist das Ergebnis der Marxschen Untersuchungen jedoch 
    weder verstanden noch erschöpfend wiedergegeben. Die Essentials der 
    Marxschen Theorie sind nämlich, kurz gefaßt, folgende: 1. Beruht alle kapitalistische Zivilisation 
    auf der Abpressung von Mehrarbeitszeit, aber dies vollzieht sich im Rahmen 
    eines Äquivalententausches: "Arbeit" gegen Geldlohn. 2. Der Mehrwert wird kapitalistisch 
    akkumuliert, in Kapital zurückverwandelt und dies ohne Rücksicht auf die 
    Schranken der zahlungsfähigen Bedürfnisse. Deshalb werden periodisch zu 
    viele Produktions- und Lebensmittel produziert: Arbeitskräfte werden 
    überschüssig und Kapital wird entwertet. 3. Der Akkumulationsprozeß stellt sich dar 
    als permanente Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und diese als 
    Vertiefung der Arbeitsteilung, folglich als Ausdifferenzierung der 
    Arbeitsarten und Produkte, folglich aus Ausdifferenzierung und Erweiterung 
    der Bedürfnisse. Der Anteil der Lohnarbeiter an der größeren Warenmasse und 
    dem größeren Umfang der gesellschaftlich disponiblen (da eingesparten) Zeit 
    wird normalerweise fallen, obwohl die absolute Verfügung über Lebensmittel 
    und Lebenszeit steigen kann. Die konkrete Entwicklung hängt wesentlich (wenn 
    auch nicht nur) von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und 
    Auseinandersetzungen ab.  4. Geht dies alles einher mit einer 
    systematischen Verdunkelung der wirklichen Entstehungsweise des 
    kapitalistisch produzierten Reichtums. Spätestens mit dem Zins erscheint 
    Reichtum als Resultat von geldheckendem Geld. Auf der Oberfläche der 
    Gesellschaft erscheinen die wirklichen Zusammenhänge verkehrt. Die Subjekte 
    des Produktionsprozesses erscheinen als Objekte und das Kapital stellt sich 
    als aktives, alle Verhältnisse stets revolutionierendes Subjekt dar. Das 
    Bewußtsein der Beteiligten ist falsch, weil ihr Sein falsch ist. Diese 
    Umkehrungen sind jedoch analysierbar, daher auch 
    weitgehend durchschaubar, obgleich sie erst verschwinden, wenn ihre Ursachen 
    beseitigt sind. 5. Der Kapitalismus ist die erste 
    Produktionsweise, in der die Arbeitskräfte allein Sachzwängen gehorchen und 
    nicht patriarchalischer Willkür unterworfen sind. Da sie Geld erhalten und 
    über den Verkauf ihrer Arbeitskraft ebenso frei bestimmen können wie über 
    die Verausgabung ihrer Revenue, findet historisch erstmals eine 
    Individualisierung der Personen statt. Gründe wie auch Grenzen (bzw. 
    widersprüchliche Verlaufsform) dieser Individualisierung sind einer 
    theoretischen Analyse zugänglich. Beides ist vorzugsweise in der 
    Produktionsweise selbst zu suchen. Die konkreten Formen und die historische 
    Genesis dieser Individualitätsformen sind aber Sache selbständiger 
    materialistischer Untersuchungen. Das sind also - sehr gedrängt - die wohl 
    wichtigsten Entdeckungen von Marx.  Der Klassenantagonismus (das 
    Kapitalverhältnis) und der "Diebstahl fremder Arbeitszeit" (Marx) sind 
    zentrale Strukturmerkmale der kapitalistischen Realität, was jedoch an der 
    Oberfläche der Gesellschaft nicht unbedingt sichtbar ist. Man sieht nun. daß 
    die Reduktion der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf 
    "Klassenkampf" und "Ausbeutung" eine unzulässige 
    Vereinfachung darstellt. Historisch gab es einmal Verhältnisse, die solche 
    Vereinfachungen als plausibler erscheinen ließen, als dies heute der Fall 
    ist. Als es noch politische Massenkämpfe organisierter Arbeiter gab und das 
    Elend der Lohnarbeit sich anschaulicher als physisches und psychisches Elend 
    darstellte als heute, als sich zudem die gesellschaftlichen Verhältnisse 
    weitaus weniger differenziert darstellten als gegenwärtig, 
    da konnte man mit solchen Vereinfachungen sogar Politik machen. Falsch waren 
    sie trotzdem und daher mußte eine solchermaßen fundierte Politik mit jedem 
    kapitalistischen Modernisierungsschub, aber auch mit jedem wirklich 
    erkämpften Erfolg in krisenhafte Situationen geraten. Marx selbst hat sich 
    wiederholt gegen populistische Verkürzungen seiner Theorie aussprechen 
    müssen; seine Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratischen Partei 
    ist nur der bekannteste Fall. Die lange Tradition einer reduktionistischen 
    Marxinterpretation (die auch heute noch ihre Fortsetzer findet) blieb nicht 
    ohne Folgen. Der gegenwärtige Zustand der auf Marx aufbauenden Theorie ist 
    etwa so zu beschreiben: 1. Nach wie vor ist eine zutreffende 
    Rekonstruktion des Marxschen Werkes in Kritik der genannten Verkürzungen zu 
    leisten. Hierbei gibt es immerhin einige Erfolge. 2. Marx ist mit seinen Ausarbeitungen nicht 
    fertig geworden; manches hat er nur angedeutet. Das System seiner Kategorien 
    ist also zu vervollständigen (z.B. Kredit, Konkurrenz der Lohnarbeiter, 
    Weltmarkt). 3. Manches von Marx ist auch fehlerhaft, z.B. 
    seine Schriften "Lohnarbeit und Kapital" oder die mit Engels verfaßte 
    "Deutsche Ideologie". Solche Fehler wurden schon 
    kritisiert, aber diese Kritik ist noch nicht durchgesetzt. 4. An dem so häufigen wie banalen Argument, 
    daß Marx schon lange tot und seine Theorie daher veraltet ist, ist so viel 
    richtig, daß die Leistungen der theoretischen Marxisten bei der Analyse 
    neuerer Erscheinungen entweder bescheiden oder sogar falsch sind. Letzteres 
    gilt m.E. etwa für die Analyse des "sozialen Rechtsstaates" als 
    "staatsmonopolistischer Kapitalismus". Bescheiden sind die Erfolge 
    insbesondere auf dem Gebiet der Erforschung von Alltagsleben und 
    Alltagsdenken. (Genaueres dazu im Text.) Macht es unter diesen 
    Voraussetzungen überhaupt einen Sinn, die moderne Welt und den modernen 
    Menschen mit Hilfe von Marx erklären zu wollen? Ich denke ja, und das soll 
    in dieser Arbeit begründet werden. Analyse des bürgerlichen Individuums in 
    einer Kritik der politischen Ökonomie? Marx' Hauptwerk ist das "Kapital". Wenn wir 
    also wissen wollen, was Marx über das bürgerliche Individuum zu sagen hat, 
    dann müssen wir uns in erster Linie an dieses Werk halten und nicht etwa an 
    verschiedene frühere mehr "philosophische" Texte. Es geht ja gerade darum, 
    ob in einem "ökonomischen" Werk überhaupt Individuen vorkommen und falls ja, 
    wie? Genauer gesagt, geht es darum herauszufinden, wie bei Marx die 
    "objektive Struktur" der Gesellschaft mit dem offensichtlich relativ 
    autonomen Handeln selbstbewußter Individuen zusammenpaßt. Was wir hier zunächst wissen wollen, ist, ob 
    Marx davon ausging, diese prinzipiell als notwendig erkannte Aufgabe 
    innerhalb eines der Kritik der politischen Ökonomie gewidmeten Werkes 
    leisten zu können und falls ja, wieweit er sie verwirklichen konnte. Von 
    einem zutreffenden Urteil über diesen Sachverhalt hängt ganz einfach ab, was 
    man von Marx Werk mit gutem Grund erwarten kann und was nicht. Wer dort z.B. 
    eine ausgearbeitete Psychologie bürgerlicher Individuen suchen würde, müßte 
    enttäuscht feststellen, daß er seine Zeit vertan hat. Wir können die Sache 
    kurz halten: Das erste Buch des "Kapital" handelt vom Produktionsprozeß des 
    Kapitals, das zweite Buch vom Zirkulationsprozeß und das dritte Buch vom 
    Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Der Gegenstand des Marxschen Kapitals ist 
    nicht der gleiche wie der der "Volkswirtschaftslehre". Während diese unter 
    Kapital "alle bei der Erzeugung beteiligten Produktionsmittel wie Werkzeug, 
    Maschinen und Anlagen" versteht und sich nicht so recht darüber im klaren 
    ist, ob man auch das Geld dazu zählen soll (1), stellt Marx sich eine ganz 
    andere Aufgabe: "Was ich in diesem Werk zu erforschen 
    habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden 
    Produktions- und Verkehrsverhällnisse." (2) Marx' Ausgangspunkt ist die für 
    die Menschen bestehende Notwendigkeit der Erhaltung ihres Lebens, die sie 
    zwingt, die äußere Natur entsprechend den eigenen Bedürfnissen zu verändern, 
    was sie nur können, wenn sie sich zueinander verhalten, d. h. 
    gesellschaftliche Beziehungen eingehen. Diese jeweiligen historisch-sozialen 
    Verhältnisse korrespondieren mit bestimmten Niveaus der Produktivkräfte der 
    gemeinschaftlichen Arbeit und beides zusammengenommen stellt eine jeweils 
    spezifische Strukturierung einer Gesellschaft dar, die Marx 
    "Produktionsverhältnisse" nennt und die er für den gesamten Lebensprozeß der 
    darin sich bewegenden Individuen als bestimmend ansieht. Die kapitalistische 
    Produktionsweise gilt ihm dabei nur als eine - wie jede andere auch - 
    geschichtlich gewordene und besondere Form der Auseinandersetzung mit der 
    äußeren Natur. Sie ist vor allem durch zwei Merkmale von den vorangegangenen 
    Formen zu unterscheiden: Erstens dadurch, daß die Produktion von Waren 
    (als zusammen mit der Geldzirkulation entscheidende Voraussetzung der 
    Kapitalbildung) die vorherrschende Produktion ist, wozu auch gehört, daß die 
    menschliche Kraftpotenz (deren Tauschwert zu bezahlen ist, wenn ihr 
    Gebrauchswert genutzt werden soll) selbst zur Ware wird. Zum zweiten ist die 
    "differentia specifica" der kapitalistischen Produktion zu nennen:
    Der Zweck des Kaufs der Arbeitskraft besteht nicht nur nicht in der 
    Produktion von Gebrauchswerten - das gilt für jede Warenproduktion - , 
    sondern überhaupt nicht in der Befriedigung der privaten Bedürfnisse des 
    Käufers: "Sein Zweck ist Verwertung seines Kapitals. Produktion von Waren, 
    die mehr Arbeit enthalten, als er zahlt, also einen Wertteil enthalten, der 
    Ihn nichts kostet und dennoch durch den Warenverkauf realisiert wird. 
    Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser 
    Produktionsweise." (3) Hierbei entscheidend ist die Form der Lohn-Arbeit, 
    die auch die Mehrarbeit als bezahlt erscheinen läßt, in der also das 
    Äquivalenzprinzip der Warenproduktion garantiert ist und die es möglich 
    macht, daß Ausbeutung erstmals an von persönlichen 
    Abhängigkeitsverhältnissen freien Arbeitern vollzogen werden kann: der Zwang 
    liegt nun allgemein in den Verhältnissen und konkret in der Kontrolle des 
    Kapitalisten über den Produktionsprozeß. Das jedesmalige Ergebnis des 
    Produktionsprozesses besteht nicht nur in der Schaffung der materiellen 
    Lebensbedingungen, sondern auch in der Reproduktion der darin
    eingcschlossenen Verhältnisse der Menschen 
    zueinander. Jede Produktion ist zugleich Reproduktion, d.h. die materiellen 
    Produkte, wie auch die gesellschaftlichen Beziehungen sind immer zugleich 
    Voraussetzungen und wiederkehrende Resultate des kapitalistischen 
    Produktionsprozesses. Diese Beständigkeit muß dort 
    als naturnotwendig erscheinen, wo die Reproduktion 
    kein selbstbewußter Akt der Gesellschaft ist. Hierdurch werden Produktion 
    und gesellschaftliche Beziehungen mystifiziert, - letztere stellen sich als 
    unmittelbare Eigenschaften von Dingen ("Geld macht glücklich" etc.) und als 
    Verhältnis der Personen zu den sozialen Eigenschaften dieser Dinge dar. Auf 
    diese Weise wird das Wesen des Kapitalismus in den erscheinenden Formen 
    verleugnet. Die Träger dieser Produktionsweise leben in diesem Sinne in 
    einer "verzauberten und verkehrten Welt" (4). Die kapitalistische Weit ist 
    jedoch nicht die erste sich als verzaubert darstellende; sie weist jedoch 
    spezifische Verkehrungen auf, die sich von denen vorangegangener oder 
    anderer (z.B. asiatischer) Welten qualitativ unterscheiden. Darauf werden 
    wir unten genauer eingehen. Die erwähnte Vorstellung der VWL, wonach Kapital 
    Maschinerie oder Geld wäre, bestätigt im übrigen nur die Marxsche Analyse 
    der Verdinglichung: "Kapital ist kein Ding, sowenig wie Geld ein Ding ist. 
    Im Kapital, wie im Geld, stellen sich bestimmte gesellschaftliche 
    Produktionsverhältnisse der Personen als Verhältnis von Dingen zu Personen 
    dar, oder erscheinen bestimmte gesellschaftliche Beziehungen als 
    gesellschaftliche Natureigenschaften von Dingen." (5) Marx handelt also 
    nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen. Diese kurze 
    Zusammenfassung umreißt in etwa den Gegenstand der Marxschen Theorie. Es 
    geht Marx also um die Produktions- und um die (zwischenmenschlichen, 
    innergesellschaftlichen) Verkehrsverhältnisse der kapitalistischen 
    Produktionsweise, wobei er u.a. zu dem Resultat gelangte, daß auf der 
    sichtbaren Oberfläche vieles anders erscheint, als es "in Wirklichkeit" 
    zusammenhängt, "ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskörper nur dem 
    verständlich (ist), der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare 
    Bewegung kennt." (6) Um diese Verdinglichung dechiffrieren zu können, mußte 
    Marx seine gefundenen Bestimmungen zu einem spezifischen Kategorien-System 
    verbinden, innerhalb dessen ein "Auf- oder Abstieg" zwischen den 
    abstraktesten und den konkretesien Kategorien möglich bleibt. Es soll hier 
    nicht viel über die häufig zitierte Marxsche Methode des "Aufsteigens vom 
    Abstrakten zum Konkreten" gesagt werden. Sie besagt nur, daß das "Konkrete", 
    mit dem wir täglich umgehen, bereits die Zusammenfassung vieler Bestimmungen 
    enthält. Die Unterscheidung zwischen Erscheinungen 
    und Wesen "Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die 
    Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen." (7)
    Diese bekannte Marxsche Formulierung steht nicht zufällig im 
    Zusammenhang mit der Analyse der sogenannten "trinitarischen Formel" am Ende 
    des dritten Bandes des "Kapital". Sie richtet sich dort speziell gegen Marx' 
    Lieblingsfeinde - die "Vulgärökonomen"- die nach 
    seiner Auffassung einen Teil der 'lebensweltlichen Erfahrungen" der 
    bürgerlichen Individuen doktrinär verdolmetschen, systematisieren und 
    apologetisieren. Sie tun das - so Marx -, weil sie sich selbst in den 
    "entfremdeten Erscheinungsformen der ökonomischen Verhältnisse ... 
    vollkommen bei sich" fühlen. Die Fragen nach dem "Wesen" der Dinge (odernach 
    ihrer 'Inneren Logik", ihrem "inneren Zusammenhang", nach den 
    "Gesetzmäßigkeiten" etc.) und nach der Beziehung zwischen ihm und den 
    Erscheinungen bilden von jeher Kernpunkte wissenschaftstheoretischer 
    Auseinandersetzungen. Für den Positivisten Popper - der sich ausdrücklich 
    gegen Marx wendet - ist die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung schon 
    deshalb unerheblich, weil sich der Wesensbegriff der sinnlichen Erfahrung 
    angeblich verschließt und für diese daher kein Gegenstand sein kann. Eine 
    Wissenschaft, die sich mit dem Faktischen und Regelmäßigen zu befassen habe, 
    könne daher mit der Methode der Falsifizierung ihre Ziele gut erreichen und 
    brauche auf solche "metaphysischen" Kategorien wie "Wesen" nicht 
    zurückzugreifen. Demgegenüber existieren für Marx und Engels nicht nur in 
    der Natur wesentliche und mit den Erscheinungen nicht identische 
    Zusammenhänge, sondern auch in der Gesellschaft. Während es sich jedoch 
    hierbei in der Natur um "bewußtlose blinde" Agenzien handele, seien die in 
    der Geschichte Handelnden lauter mit Bewußtsein und Leidenschaften begabte 
    und handelnde, sich Zwecke setzende Menschen. Diese Menschen wirkien jedoch 
    unter bestimmten Bedingungen so aufeinander ein, daß dabei etwas Ungewolltes 
    herauskomme. Unter diesem Resultat steckten daher "innere verborgene 
    Gesetze", die es zu erforschen gälte (8). Wie sollen diese Gesetze aber 
    herausgefunden werden? Die Marxsche Methode besteht darin, das "Konkrete" 
    schrittweise und ideel (also nicht zu verwechseln mit dem wirklichen 
    Entstehungsprozeß) zu rekonstruieren, wobei stets von den einfachsten, 
    abstraktesten (Abstraktion heißt Trennung) Bestimmungen auszugehen sei, bis 
    man dann wieder beim "Konkreten" ankommt, was natürlich nur gelingt, wenn 
    die Rekonstruktionsschritte zutreffend waren. Mit Marx' Worten: "Die 
    Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie 
    besteht, weglasse (... ) Finge ich also bei der Bevölkerung an, so wäre das 
    eine chaotische Vorstellung des Ganzen. Es gilt deshalb "von dem Einfachen, 
    wie Arbeit, (...) Tauschwert (...) bis zum Staat, Austausch der Nationen und 
    Weltmarkt" aufzusteigen (9). Marx hat dann mit der Ware als der "Elementarfonn" 
    des bürgerlichen Reichtums angefangen und nach deren 
    Substanz gesucht. Allerdings nur in der Darstellung und nachdem er den 
    Gcsamtzusammenhang schon im Kopf hatte. Marx beginnt mit der Kritik der Grundlagen 
    der Abstraktionen der bürgerlichen Ökonomie, d. h. mit ihrer immanenten 
    Kritik, um so zur Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, von Logik und 
    Empirie, von Kapital im allgemeinen und Konkurrenz vorzudringen. In der 
    kritischen Aufarbeitung von Adam Smith unterscheidet Marx einen esoterischen 
    und exoterischen Teil seines Werks, d. h. den Teil, der wissenschaftliche 
    Analyse darstellt und den, der nur die Erscheinungen der Oberfläche des 
    Kapitals systematisiert (welcher Teil sich später als Vulgärökonomie von der 
    klassischen trennt) (10). Marx' Vorwurf gegen Smith besteht also darin, daß 
    dieser zwischen empirischer und logischer Ebene nicht unterschieden habe. 
    Diesen Gedanken verfolgt Marx auch in der Kritik an Ricardo. Ricardo nämlich 
    ist der erste, der mit dem Durcheinander zwischen esoterischer (Logik) und 
    exoterischer Betrachtungsweise (Empirie) Schluß macht. Marx selbst entwickelt aus der Kritik an 
    Ricardos Methode, die Erscheinungsformen unvermittelt mit ihrem Wesen zu 
    konfrontieren, sie auf ihr Wesen zu reduzieren, die Forderung, die 
    Erscheinungsformen aus dem Wesen als notwendige und notwendig "verkehrt" 
    auftretende zu entwickeln. Die Empirie ist dem Wesen 
    weder äußerlich noch auf dieses reduzierbar, sie muß sich über 
    Zwischcnschritte herleiten lassen. Die Durchsetzung 
    der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise ist kein 
    selbstbewußter Akt, sie vollzieht sich "hinter dem Rücken" der Beteiligten 
    und ist deshalb mit ihren Motiven nicht unbedingt identisch. Die Analyse des 
    Durchgesetzten und dessen, was sich durchsetzt, ist deshalb ebenfalls zu 
    trennen. Logische Kategorien wie etwa "relativer Mehrwert" gehen nicht in 
    die Zweckset-zung der Menschen ein. Bei der Analyse der grundlegenden 
    Gesetze ist deshalb von der Handlungsebene, der Ebene der Konkurrenz, zu 
    abstrahieren. Diese Ebene mit ihrer eigenen Formenvielfalt ist getrennt 
    (aber als Form von etwas) zu untersuchen. Bei dieser Handlungsebene kann es 
    sich allerdings nur um eine idealisierte Ebene handeln, um - wie Marx sagt 
    -"idealen Durchschnitt" (11).
 Anmerkungen
 
 (1) vgl das VWi-Lehrbuch: Woll,A. 1981: Allgemeine 
    Volkswirtschaftslehre, München.
 (2)-(7) Marx 1974b l, S.12; W4b l, 5.647;
 1974h III, S.835; 1969b, s.32, ähnlich 1974b III. S.822; 1974b l, S. 335; 
    1974b III, 5.825.
 (8) vgl. Engels, F. 1975: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen 
    Philosophie, in: MEW 21,S.296f.
 (9) - (11) vgl. Marx 1974a, S.21f; W4c II, S. 100; 1974b 111,5.839.
 
 
    Editorische Anmerkungen Der vorliegende Text erschien 
    in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL - links & radikal, Nr. 88, 
    1993, S. 32ff, OCR-Scan by red. trend Der für die SPEZIAL gekürzte Text von Günter
    Jacob wurde unter dem Titel "Kapitalismus und 
    Lebenswelt" in der Nr.3 der linken Zeitschrift "17 Grad Celsius" abgedruckt. 
    Vorher ist bereits eine (andere) Kurzfassung unter dem Titel "Persönliches 
    Pech" in "Spex" 3/89 erschienen, die vom "ak", der "Volkszeitung" und in dem 
    Buch "Die Radikale Linke" (Konkret-Veriag) 
    nachgedruckt wurde.  |