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Thema Spinozas Einwirkung auf die Klassische Deutsche Literatur ( original )
SPINOZAS STELLUNG IN DER VORGESCHICHTE DES DIALEKTISCHEN MATERIALISMUS - REDEN UND AUFSÄTZE ZUR WIEDERKEHR SEINES 250. TODESTAGES
Letzte Bearbeitung 1928
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A. THALHEIMER: SPINOZAS EINWIRKUNG AUF DIE KLASSISCHE DEUTSCHE LITERATUR
I. Vor dem Durchbruch
II. Der Durchbruch
III Herder
IV Goethe

A. THALHEIMER: SPINOZAS EINWIRKUNG AUF DIE KLASSISCHE DEUTSCHE LITERATUR

I. Vor dem Durchbruch

Der Durchbruch Spinozas in der deutschen Literatur und Philosophie geschah nicht allmählich, sondern schlagartig. Es läßt sich genau das Jahr angeben und die Schrift, die diesen Durchbruch vollbrachte. Dies Buch ist die Schrift von Friedrich Heinrich Jacobi „Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“. Das Büchlein erschien ursprünglich anonym im Umfang von 200 Seiten zu Breslau im Jahre 1785. Von diesem Büchlein ab datiert das Bekanntwerden und Durchdringen der Philosophie Spinozas in Deutschland.
Um dieses Ereignis aber richtig einzuschätzen, muß man zuvor sehen, wie sich das Deutschland vor 1785 zu Spinoza und seiner Lehre verhalten hat. Die historischen und literarischen Daten darüber findet man zusammengestellt in der Schrift von Leo Bäck „Spinozas erste Einwirkung auf Deutschland“, Berlin 1895. Man sieht aus diesen Angaben, daß Spinoza auf die bürgerlichen Schichten des damaligen Deutschlands wirkte wie das rote Tuch auf den Stier. Es hing das natürlich damit zusammen, daß die Philosophie Spinozas der Ausdruck eines weit entwickelteren bürgerlichen Klassenbewußtseins war, als es in der ersten Hälfte und im dritten Viertel des XVIII. Jahrhunderts in Deutschland herrschte. Es war damals die Zeit der Leibniz-Wolffschen Philosophie des Theismus, der Vernunftreligion, der Aufklärung und des „Aufklärichts“.

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Spinozas Ansichten fingen schon zu Leibniz‘ Zeiten an, in Deutschland bekannt zu werden. Leibniz selbst hatte mit Spinoza im Haag persönlich verkehrt. Wenn Leibniz später eine kühle Reserve gegenüber Spinoza wahrt, mit sichtlicher Scheu von ihm spricht und seine persönliche Bekanntschaft abschwächt, so darf man die Gründe dazu nicht ausschließlich, auch nicht einmal vorwiegend, in einer Charakterschwäche oder Feigheit Leibniz‘ gegenüber den herrschenden Klassen und den herrschenden Meinungen seiner Zeit und seines Landes suchen. Bereits Lessing traf hier das Richtige, wenn er sagte, daß Leibniz keineswegs charakterlos seine Ansichten den herrschenden Zeitansichten angepaßt habe, sondern daß er, umgekehrt, versucht habe, die herrschenden Ansichten den seinigen anzupassen und anzunähern. Oder wie Lessing das einmal mit einem treffenden Bild ausdrückte: Er schlug aus Kiesel Feuer, aber er verbarg sein Feuer nicht im Kiesel. Wer in Deutschland vom Ende des XVII. und von den ersten zwei Dritteln des XVIII. Jahrhunderts sich offen zu Spinoza und seinen Ansichten bekannt haben würde, wäre unfehlbar bürgerlich und kirchlich geächtet worden, und er hätte jeden Einfluß auf die Entwicklung des bürgerlichen Bewußtseins verloren. Das beweist eben das Schicksal derjenigen, die in Deutschland vor 1784 mehr oder weniger offen sich zu Spinoza zu bekennen wagten.
Leibniz selbst nennt Spinoza einen „gewissen allzusehr bekannten Neuern“ oder auch einen „modernen allzusehr verschrienen Schriftsteller“. Der bekannte Leipziger Professor der Philosophie Christian Thomasius spricht von Spinoza als dem „bekannten B. Spinoza“. Verbreitete Ausgaben von Spinozas Werken gab es damals nicht und konnte es auch nicht geben. Die Werke Spinozas zirkulierten im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts als illegale Literatur in wenigen Exemplaren, und zwar in den holländischen Ausgaben der Opera posthuma und Opera omnia von 1677.
Die Angriffe der Theologen auf den radikalen „Freygeist“ waren massenhaft; bis zum Jahre 1759 werden 92 Autoren genannt, die gegen Spinoza geschrieben, darunter in Deutschland allein 63, also über die Hälfte. Von diesen 63 deutschen Schriften gegen Spinoza sind drei Uebersetzungen ausländischer

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Schriften; 13 davon sind deutsch geschrieben, die übrigen lateinisch. Zu diesen Sonderschriften gegen Spinoza kommen auch viele Werke allgemeiner Art, in denen bei Gelegenheit Spinozas Ansichten widerlegt werden. Ueber das Leben von Spinoza zirkulierten phantastische Erzählungen. Die ersten Widerlegungen von Spinoza in Deutschland erschienen gleich nach dem Bekanntwerden seines politisch-theologischen Traktats. Der aufgeklärte Professor Jakob T h o m a s i u s schrieb schon im Jahre 1670 sein „Programm gegen einen Anonymus über die Freiheit zu philosophieren“. Der Theologe Rappolt schrieb im selben Jahre von Spinoza als einem gottesleugnerischen „Naturalisten“, und Leibniz schrieb: „Spinoza beginnt da, wo Cartesius aufhört: im Naturalismus.“ Statt Naturalismus würden wir heute Materialismus sagen. Der Naturalismus oder Materialismus wirkte als die revolutionärste aller Weltansichten. Nicht weniger umstürzlerisch wirkte auf die damalige Zeit die Forderung der Denk- und Gewissensfreiheit gegenüber den Fürsten und anderen weltlichen Obrigkeiten, die von Spinoza im theologisch-politischen Traktat erhoben wurde. Dazu kam noch der Sturm, den die Spinozasche Bibelkritik erregte. Spinoza war nicht der erste, der an die Bibel die Sonde der historischen Kritik anlegte, aber er war für seine Zeit und für lange nachher der schärfste, klarste und radikalste Kritiker der Bibel. Die Ethik wurde als ein „ganz pestilenzialisches Buch“ bezeichnet. Mit Hobbes und Herbart von Cherbury zusammen wurde Spinoza mit dem Ehrentitel des großen Betrügers versehen. Für das allgemeine Publikum blieb für die Einschätzung Spinozas lange Zeit maßgebend der Artikel „Spinoza“ von B a y l e in dessen Dictionnaire, dazu die kleine Schrift von Korthholt. Der Baylesche Artikel gibt eine wahre Karikatur der Ansichten von Spinoza. Spinozismus wurde allgemein die Bezeichnung für Atheismus und Pantheismus. Hierin war B a y l e vorangegangen. Er hatte sich bemüht, zu beweisen, daß Spinoza der erste systematische Atheist sei. Ein gewöhnlicher Atheist bedeutete für die damalige Zeit sehr wenig. In den theologischen Zänkereien konnte jeder dieses Prädikat leicht an den Kopf geworfen bekommen, der nicht der Ansicht dieses oder jenes orthodoxen Theologen war. Man stellte eine förmliche Klassifikation von

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Atheisten auf. In einer solchen Klassifikation erscheint Spinoza z. B. als theoretischer, indirekter und besonders naturalistischer Atheist oder auch als eifriger, heimtückischer Atheist. Von dem Namen Spinozas wurden als Schimpfworte die Bezeichnungen Spinozismus und spinozieren gebildet. Man suchte weiter Spinozas Lehrsätze als alt hinzustellen. So B u d e u s 1701 in einer Dissertation über den Spinozismus vor Spinoza. Spinozist wird ein theologisches Schimpfwort. So schreibt z. B. der Göttinger Professor H o l l m a n n in dem „Brief eines Anonymen“:
" Ein Spinozist ist ein elender und verworrener Mensch, mit dem man Mitleid haben und wenn ihm noch zu helfen ist, mit ein paar nicht gar tiefsinnigen Anmerkungen aus der Vernunftlehre und einer deutlichen Erklärung was eins und viel heiße und was eine Substanz sei, zu Hilfe zu kommen suchen muß."
Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Es ist klar, daß dieses große theologische Kesseltreiben gegen Spinoza und den Spinozismus damit zusammenhing, daß der verketzerte Atheist oder Naturalist von einem Teil dem Jugend und von sonstigen aufsässigen Geistern heimlich gelesen wurde und heimliche Anhänger hatte. So schreibt z. B. der bekannte Mohrhof im Jahre 1685 in Lübeck: „Was ist pestilenzialischer als die Bücher des B. Spinoza! Und doch triumphieren diese überall.“ Es gab wohl mancherlei verkappte Anhänger Spinozas, die aber öffentlich eine weniger verfängliche Fahne heraussteckten. Was Leibniz selbst anbelangt, so sagt bekanntlich Lessing von ihm, er sei im Herzen wahrscheinlich selber ein Spinozist gewesen. Oeffentlich aber warnte Leibniz vor Spinoza, daß seine Lehre einen allgemeinen Umsturz hervorbringen könne. So schreibt Leibniz in den „Neuen Versuchen über den menschlichen Verstand“ (dem kritischen Kommentar zu dem Buch von Locke „lieber den menschlichen Verstand“, geschrieben 1704, aber erst lange nach Leibniz‘ Tode veröffentlicht):
" Ich finde sogar, daß diese Meinung, wie sie sich jetzt bei den Großen, von denen die Staatsgeschichte abhängt, durch modische Bücher einschleicht, alle Dinge für einen allgemeinen Umsturz vorbereitet, von dem Europa bedroht ist."
Von den wenigen, die in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts sich mehr oder weniger öffentlich zu spinozistischen Ansichten zu bekennen wagten, nennen wir den ursprünglich

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theologischen Schriftsteller Johann Christian E d e l m a n n. Edelmann ist 1699 in Weißenfels geboren. Er ist aus dem Pietismus hervorgegangen. 1740 liest er Spinozas theologisch-politischen Traktat. Er tritt ein für Spinozas Gottesauffassung. Nach mancherlei Verfolgungen und Drangsalen stirbt er als ein Sonderling 1767 in seinem 69. Lebensjahre in Berlin. Dann sind noch zu nennen die ebenso meteorischen Erscheinungen des Mathias Knutzen, von Stosch, Lau und Wachter. Der letztere, Wachter, ist heute deshalb interessant, weil er versuchte, den Spinozismus von der Kabbala, der jüdischen Mystik, abzuleiten und mit ihr zu vereinigen. Mit Wachter setzte sich später noch Herder auseinander. Herder schreibt über Wachter:
" Wachter stritt gegen einen Juden und wollte den Spinozismus im Judentum finden; nachher ward er selbst ein sehr verworrener Spinozist und wollte in seinem Spinozismus die Lehre des Spinoza mit der Kabbala vereinigen."
Johann Georg Wachter ist 1678 in Meiningen geboren. Er starb 1757. Er studierte Theologie in Tübingen. Er kommt dann nach Berlin zu Friedrich III., der ihm eine Pension aussetzte. Von da kam er nach Leipzig, wo ihn der Rat der Stadt beschäftigte und besoldete. Zwei Schriften von ihm schlagen in unser Gebiet ein. „Spinozismus im Judenthumb oder die von dem heutigen Judenthumb vergötterte Welt von Mose Germano, sonst Johann Peter Speeth, von Augsburg gebürtig, befunden und widerlegt.“ Die Schrift erschien zu Amsterdam 1699. Er sucht hier nachzuweisen, die Kabbala, mit dem Spinoza übereinstimme, sei ein Unsinn, und zwar Vergötterung der Welt oder Materialismus. Die zweite Schrift Wachters über den Spinozismus erschien 1706 in Halle unter dem Titel: „Elucidarius Cabalisticus, sive reconditae Hebraeorum philosophiae brevis et succincta recensio“ - Kabbalistischer Aufklärer oder kurze und gedrungene Beurteilung der verborgenen Philosophie der Hebräer. In dieser zweiten Schrift ändert Wachter grundsätzlich seinen Standpunkt gegenüber dem Spinozismus. Die erste war Spinoza feindlich, die zweite ist ihm freundlich gesinnt, wobei er aber aus Spinoza einen verworrenen kabbalistischen Mystiker macht. Er, Wachter, habe die Kabbala und auch Spinoza früher mißverstanden. Spinoza vergöttere nicht die Welt, sondern er scheide Gott und Welt strenge. Die

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Substanz aller Dinge sei nach Spinoza Geist. Spinoza leugne auch nicht die Unsterblichkeit der Seele, wozu er durch die Kabbala geführt worden sei. Diese letztere stimme mehr zum Christentum als Cartesius oder Aristoteles; Spinoza einen Atheisten zu nennen, sei auch eine abgeschmackte Lüge. Diese Rettung Spinozas geschah also um den Preis, daß seine Lehre zu einem Zerrbild gemacht wurde. Es ist heute wieder Mode geworden, so wie alles, auch Spinoza zum Mystiker zu machen und ihn mit der jüdischen Mystik in Verbindung zu bringen. Darum mag hier am Platze sein, was bereits Herder über diesen Einfall Wachters zu sagen wußte. Er sagt:
" Die Kabbala ist ein zusammengeflossener Unrat guter und böser, im ganzen aber schwärmerischer, dunkler Vorstellungen in ungeheuren Bildern, mit denen der reine heitere philosophische Sinn Spinozas nichts zu tun fand; sonst wäre er ein Jude geblieben... Er ist ein Antipode der Kabbala, wenn es je einen gegeben hat." ( Herder „Gott‘.)
Trotzdem hagelte es literarische Angriffe und Anklagen gegen Wachter, die dieser aber unschädlich zu machen wußte. Eine dieser Gegenschriften, von Johann Wilhelm Milo, als Königsberger Habilitationsschrift 1745 erschienen, ist so charakteristisch, daß wir eine Stelle daraus anführen. Ihr Titel ist: „Rabbinisch-methodische Uebung über die Kabbala, als die jüngste Erzeugerin des Spinozismus.“ Er hat dieselbe Auffassung wie Wachter vom Verhältnis des Spinozismus zur Kabbala; aber während Wachter mit dem kabbalistisch-mystisch gedeuteten Spinozismus sympathisiert, bekämpft ihn Milo auf das feindseligste.
" Ich schreite nun - sagte er - zum Dorn (spina = ein beliebtes Wortspiel auf den Namen Spinozas) und Verderben, jenem B. de Spinoza, dem Finsterling, dem wirren Nachäffer der Philosophen und Mathematiker; einen schlechteren, verfluchteren und giftigerern als ihn hat die Erde nicht genährt oder die Sonne je beschienen."
So malte sich also Spinoza in den deutschen Köpfen zu Ende des XVII. und in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts. Es mag auch in dieser Zeit hin und wieder den einen oder anderen heimlichen Spinozisten in Deutschland gegeben haben, aber das war ohne jede Bedeutung für die geistige Entwicklung, zumal von etwa 1720 ab bis ins zweite Drittel des XVIII. Jahrhunderts die Leibniz-Wolffsche theistische Philosophie die

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Köpfe beherrschte und in Gestalt der Popularphilosophie eine breite Propaganda betrieb.

II. Der Durchbruch

In diese Stickluft fiel nun wie ein Donnerschlag im Jahre 1785 das kleine Büchlein von Jacobi über den Spinozismus, worin Lessing zum Entsetzen Mendelssohns, des „Seichtbeutels“, wie ihn Marx nennt, als überzeugter Spinozist dargestellt und Spinoza selbst nicht mehr als „toter Hund“, sondern als großer, bis jetzt noch unbezwungener Denker und als ebenso großer und reiner Charakter hingestellt wurde. Die Veröffentlichung und dem Streit um sie regte das ganze sabbatlich-stille Deutschland von damals mächtig auf. Sie war ein weittragendes gesellschaftliches Ereignis. Alle führenden Geistesgrößen der Zeit, Herder, Goethe, Kant, nahmen dazu Stellung. Die Neubelebung Spinozas beginnt. Sie wirkt sich zuerst auf die Literatur und kurz darauf auch in der Philosophie selbst aus. Schelling nimmt den spinozistischen Faden wieder auf. Andererseits gab diese Erneuerung des Spinozismus zusammen mit Kants Lehre (die erst mit Reinholds Briefen, 1786/87, bekannt zu werden und in die Breite zu wirken begann) der theistischen Popularphilosophie den Todesstoß.
Der Zeitpunkt, in dem Spinoza in Deutschland wieder auftaucht und zu wirken beginnt, ist merkwürdig. Es sind gerade vier Jahre vor dem Ausbruch der französischen Revolution. Zusammen mit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ leitet das Wiederauftauchen Spinozas in Deutschland jene ideologische Vorbereitung der bürgerlichen Revolution in Deutschland ein, die unter dem Namen der klassischen deutschen Literatur und Philosophie bekannt ist, die mit Feuerbach abschließt und über ihn weg sogleich in die Grundlegung des wissenschaftlichen Sozialismus durch Marx und Engels übergeht.
Die revolutionäre Wirkung des wiedererweckten Spinoza auf die ideologischen Pioniere der bürgerlichen Revolution in Deutschland erklärt sich unschwer aus der weit entwickelteren

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Form des bürgerlichen Klassenbewusstseins, die die Lehre Spinozas im Vergleich zu allem bisherigen in Deutschland vorstellte. Die besonderen Punkte, die hierbei wirksam waren, treten deutlich hervor, wenn man sich an der Hand Jacobis die Stellung Lessings zu Spinoza vergegenwärtigt.
Jacobi hatte in seinem „Spinoza-Büchlein“ ein Gespräch zwischen ihm und Lessing wiedergegeben, das am 6. Juli 1780 geführt worden war und in dem alle, die Lessing gekannt hatten, dessen unverkennbare Sprechweise erkannten.
Lessing war von Leibniz hergekommen, aber er nahm ihn nicht in dem platten und flachen Sinne wie seine Zeitgenossen. Aber er hatte sich gehütet, sich als Schriftsteller vor dem großen Publikum (wozu auch Mendelssohn für ihn zählte) offen darüber auszusprechen, daß er über den Begriff eines persönlichen Gottes, des Hauptstückes der „Vernunftreligion“, hinaus war. Er knüpfte mit seiner kritischen Tätigkeit da an, wo er sein deutsches bürgerliches Publikum fand, und bereitete so erst den Boden vor, von dem aus weitergegangen werden konnte. Er beschreibt dies sein Verfahren, das ein sicherer politischer Instinkt ihm vorschrieb, deutlich genug, wo er die von Leibniz geübte Unterscheidung von esoterischer und exoterischer Lehre schildert.
" Er (Leibniz) tat damit nichts mehr und nichts weniger, als was alle alten Philosophen in ihrem exoterischen Vortrage zu tun pflegen. Er beobachtete eine Klugheit, für die freilich unsere neuesten Philosophen viel zu weise geworden sind. Er setzte willig sein System beiseite und suchte einen jeden auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn fand." ( in: Leibniz, von den ewigen Strafen.)
Andeutungen dafür, daß Lessing über den Theismus hinaus war, finden sich schon früh. So heißt es in einem 1763 für M. Mendelssohn abgefaßten, nicht für die Oeffentlichkeit bestimmten Aufsatz Lessings „Ueber die Wirklichkeit der Dinge außer Gott“:
" Ich mag mir die Wirklichkeit der Dinge erklären wie ich will, so muß ich bekennen, daß ich mir keinen Begriff davon machen kann ... alles, was außer Gott existieren soll, existiert in Gott"
Das ist schon ein hinreichend deutlicher Hinweis darauf, daß Lessing mit Spinoza die „Immanenz“ Gottes in der Welt annimmt - eine der Etappen, auf denen Gott überhaupt überflüssig gemacht wird.

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Dann hatte Lessing in der Vorrede und den Zusätzen zu den von ihm herausgegebenen philosophischen Aufsätzen seines jung gestorbenen Freundes Jerusalem folgende Andeutung gemacht:
" Der dritte Aufsatz zeigt, wie wohl der Verfasser ein System gefaßt hatte, das wegen seiner gefährlichen Folgerungen so verschrien ist und gewiß weil allgemeiner sein würde, wenn man sich so leicht gewöhnen könnte, diese Folgerungen selbst in dem Lichte zu betrachten, in welchem sie hier erscheinen."
Gemeint ist natürlich das „System“ Spinozas, aber es ist sehr bezeichnend, nicht für Lessing, sondern für die Zeit, daß er den Namen nicht nennt, sondern ihn nur dem Kenner andeutet.
Unter vertrauten und verständnisvollen Freunden aber hatte sich Lessing rückhaltlos ausgesprochen; und wie er sich aussprach, das brachte eben Jacobis Büchlein an den Tag.
Wir führen die wichtigsten Aeußerungen Lessings hier an. Jacobi hatte ihm das Goethesche Gedicht „Prometheus“ gezeigt. Lessing sagte, daß ihm diese Auffassung, die pantheistische nämlich, längst geläufig sei:
" Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich: Ich kann sie nicht genießen.?? ?a? p?? [Eines und alles]. Ich weiß nichts anderes."
Als dann Jacobi von Spinoza spricht, sagt Lessing: „Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen anderen…“ „Es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie des Spinoza.“ Ueber Jacobis Fürsprache für eine „verständige persönliche Ursache der Welt“ läßt L. sich höchst ironisch aus. Ebenso lehnt er die Willensfreiheit ab, die Jacobi gern haben möchte, während bei Spinoza bekanntlich auch der menschliche Wille keine Ausnahme macht von der durchgängigen kausalen Verknüpfung aller Einzeldinge in der Welt und menschliche Freiheit bei ihm nur das Handeln aus Einsicht in die Gesetze der Natur und der menschlichen Gemütsbewegungen bedeutet. Lessing sagt also darüber in seiner überlegen spöttischen Weise:
" ich merke, Sie hätten gern ihren Willen frei. Ich begehre keinen freien Willen .. Es gehört zu den menschlichen Vorurteilen, daß wir den Gedanken als das Erste und Vornehmste betrachten und aus ihm alles herleiten wollen; da doch alles, die Vorstellungen mit einbegriffen, von höheren Prinzipien abhängt. Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offen[83]bar in einer höheren Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erschöpft ist…"
Auf den Einwand Jacobis, daß Spinoza die Einsicht über alles setzte, gibt Lessing die merkwürdige Antwort:
" Für den M e n s c h e n ! Er war aber weit davon entfernt, unsere elende Art, nach Absichten zu handeln, für die höchste Methode auszugeben und den Gedanken obenan zu setzen"
Man sieht aus der letzteren Wendung Lessings, wie er hier den Zweifel an der idealistischen Auffassung überhaupt a n d e u t e t, was man bisher so gut wie ganz übersehen hat.
Von Leibniz, dem Jacobi den außerweltlichen und persönlichen Gott zuschieben will, sagt Lessing: „Ich fürchte, der war im Herzen selber ein Spinozist.“ Dann heißt es von Spinoza:
" Reden die Leute doch immer von Spinoza wie von einem toten Hunde."
Als Jacobi dann vom Unbegreiflichen der Gottheit, von der Grenze der menschlichen Vernunft redet, weist ihn Lessing derbe ab, indem er antwortet:
" Worte, lieber Jacobi, Worte! Die Grenze, die Sie setzen wollen, läßt sich nicht bestimmen. Und an der andern Seite geben Sie der Träumerei, dem Unsinn, der Blindheit freies offenes Feld."
Lessing geht also auch über Kant hinaus.
Jacobi sagt noch über Lessings Verhältnis zum persönlichen Gott:
" Mit der Idee eines persönlichen schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unveränderlichen Genuß seiner allerhöchsten Vollkommenheit, konnte sich Lessing nicht vertragen. Er verknüpfte mit derselben eine solche Vorstellung von unendlicher Langeweile, daß ihm angst und weh dabei wurde."
Was Lessing aus Spinozas Lehre herausgreift, sind also hauptsächlich: die Ablehnung der persönlichen Gottheit, der theistischen Auffassung also, und der Determinismus, und was er darüber hinaus andeutet, ist der Zweifel am Idealismus als philosophischer Richtung überhaupt. Mehr als Zweifel und Andeutung ist das letztere aber nicht; es wäre wider die geschichtliche Wahrheit, aus Lessing einen ausgesprochenen Materialisten zu machen. Aber er deutet in diese Richtung, er regt den Zweifel am Idealismus an. Darin besteht ja überhaupt die eigentümliche große Rolle Lessings, daß er die Geister kritisch weckt, in Bewegung bringt und ständig In Be-

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wegung hält, und daß er nirgends das letzte Wort gesprochen glaubt, kurz seine dialektische Wirksamkeit.
Kann man Lessing einen Spinozisten nennen? Sicher war Spinoza derjenige Denker, Sachlich deutet Lessing schon in einem für die Zukunft höchst wichtigen Punkte über Spinoza hinaus, indem er (in der „Erziehung des Menschengeschlechtes“) den Gedanken der geschichtlichen Entwicklung der Religion und damit der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit überhaupt faßt. Dies war ein Weitergehen sowohl über die zeitgenössische Aufklärungsphilosophie, wie über den französischen Materialismus und auch über Spinozas Auffassungen, wie sie im politisch-theologischen Traktat entwickelt sind, hinaus. Hier dreht Lessing einen Faden an, den Herder, Schelling und Hegel weiter spannen und der schließlich in die historische Dialektik ausläuft. Man muß sich dabei klar machen, daß der Weg von Spinoza zum dialektischen Materialismus weder kurz noch geradlinig ist. Er führt durch eine ganze Reihe von Antithesen und Synthesen hindurch. Die Wiedergeburt Spinozas im Ausgang des XVIII. Jahrhunderts in Deutschland ist nicht einfache Wiederholung, sondern, wie übrigens jede solche Wiedergeburt, zugleich V e r w a n d l u n g ‚ eine Verwandlung zugleich fortschrittlicher Natur. Der Fortschritt bestand im Gedanken der E n t w i c k 1 u n g in der Natur wie in der Geschichte. Der Rückschritt dagegen in der immer weiteren Zuspitzung des Idealismus, wobei man im Auge behalten muß, daß eben diese Zuspitzung und konsequente Durchführung des Idealismus bis zum objektiven Idealismus Hegels die notwendige Vorstufe zum materialistischen Umschlag in Feuerbach war.
Zum vollständigen Bild der Entfaltung des Spinozismus gehört natürlich nicht nur seine Entwicklung auf deutschem, sondern auch die auf französischem Boden. hier erfolgt sogleich die materialistische Weiterbildung.
Der Unterschied der Entwicklungen in Frankreich und in Deutschland ist, wie man gern übersieht, keiner der Art, sondern des geschichtlichen Tempos. Die beliebte „Erklärung“,

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daß die Neigung zum Materialismus ebenso im französischen frivolen, munteren und „oberflächlichen“ Nationalcharakter begründet sei, wie die idealistische Neigung im tiefsinnigen und biederen teutonischen Charakter, erklärt natürlich nichts. Sobald die bürgerlichen Klassen in Deutschland so weit waren, daß sie der Kirche und der absoluten Monarchie direkt an den Kragen gehen konnten, fanden sie in Feuerbach das ebenso radikale materialistische Banner, wie die Franzosen früher in Holbach, Helvetius, Lamettrie usw. Andererseits braucht man sich nur zu erinnern, daß auch in Frankreich der konsequente Materialismus keineswegs das ganze XVIII. Jahrhundert ausfüllt, sondern auch nur einen Abschnitt. Voltaire und Rousseau sind Theisten. In Deutschland wie in Frankreich wird die überkommene Religion zuerst ihres feudalen Ballastes entledigt und mit bürgerlichem Inhalt durchdrungen, ehe sie schließlich auch der Form nach in die Luft gesprengt wird. Der Angriff gegen die F o r m der Religion überhaupt ist im Gange bürgerlicher Revolutionen immer erst die letzte und äußerste Etappe, und sie ist immer nur ein kurzer Moment, denn die siegreiche Bourgeoisie bedarf sogleich nach dem Siege der Kirche und somit der Religion wieder als soziale Stütze gegen das nachdrängende Proletariat und nicht minder zur Beherrschung der Bauern. Und wenn am Ende ihrer Laufbahn die Bourgeoisie den Boden unter ihren Füßen wanken sieht, braucht sie den religiösen Nebel auch zum Selbstgebrauch, zur eigenen Betäubung. Und so wird Spinoza und der Spinozismus in unseren Tagen abermals wiedergeboren - jetzt aber als „gottrunkener“ Mystiker. Wenn es verkehrt wäre, wollten wir Spinoza aus dem größten und kühnsten ideologischen Vorkämpfer der bürgerlichen Revolution im XVII. Jahrhundert, der er war, zu einem dialektischen Materialisten machen, wiewohl er sowohl der Dialektik wie dem Materialismus vorgearbeitet hat, so ist das, was die heutige bürgerliche Philosophiegeschichte aus Spinoza macht, einfach eine historische Fälschung. Wie sehr dies der Fall ist, zeigt nichts so deutlich, wie gerade die Auswirkung Spinozas auf die klassische deutsche Literatur und Philosophie.
Betrachten wir nun nach dieser kleinen Abschweifung in allgemeinere Betrachtungen die Rolle, die Jacobi selber

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spielte bei den Hebammendiensten, die er für die Wiedergeburt des Spinozismus in Deutschland leistete.
Jacobi selbst, voll Bewunderung für die folgerichtige Kühnheit des Spinozaschen Denkens und seines Charakters war kein Spinozist oder „Freund Spinozas“, wie Lessing sich ausdrückte, sondern der schärfste Gegner des Spinozismus. Aber als Gegner des Spinozismus nahm er eine eigentümliche Stellung ein. Der Spinozismus ist nach ihm durch Vernunft unbezwinglich. Jede folgerichtige Philosophie führt auf ihn, d. h. auf die Verneinung des persönlichen und außerweltlichen Gottes, der Willensfreiheit und der Unsterblichkeit der Seele, kurz auf die Leugnung der Grundprinzipien des Christentums und aller Religion überhaupt, zum Unglauben schlechtweg. Daher macht Jacobi einen „Kopfsprung“ direkt in den Glauben. Wenn die Vernunft nur den Unglauben demonstrieren und garantieren kann, so geht daraus hervor, daß der Glaube ehen der Vernunft unzugänglich ist - es muß schlechthin und unmittelbar geglaubt werden. Das Gefühl wird Gottes unmittelbar inne. Dies war direkt eine Provokation an die zeitgenössische deutsche Philosophie, und als solche hat sie ihre Bedeutung für deren weitere Entwicklung.
Auf Mendelssohns Eingreifen in die durch Jacobi angesponnene Auseinandersetzung um Spinoza und Lessing lohnt es nicht, ausführlicher einzugehen. Es war ein ganz unzulänglicher Versuch, den Freund Lessing für den Theismus zu retten, indem aus Spinoza selber ein „gereinigter“ „aufgeklärter“ Spinozismus von ihm zurecht gemacht wurde, wobei dem wirklichen Spinoza alle Knochen im Leibe zerbrochen wurden. Jacobi hatte es demgegenüber leicht, nachzuweisen, daß Mendelssohn den Spinoza nicht zu verstehen imstande war. In der Auseinandersetzung um den Spinozismus wankte die altersschwach gewordene Philosophie der „Vernunftreligion“ zu Grabe. Der alte Mendelssohn starb gar noch im Verlaufe der Auseinandersetzung vor Kummer, daß sein Freund Lessing sollte ein Spinozist gewesen sein. Dagegen ist es notwendig, des Zusammenhangs und des Einblicks in die Situation halber hier noch auf die Stellungnahme 1. K a n t s in dieser Auseinandersetzung einzugehen. Kant kämpfte hier nach zwei Fronten. Er hatte einerseits gegenüber Mendelssohn und dem Theismus die

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Stellung seiner kritischen Philosophie zu wahren, daß Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht theoretisch demonstrierbar seien, andererseits galt es gegenüber Jacobi die Rechte der Philosophie auf freie Prüfung und Untersuchung des Inhalts der Religion zu wahren. Schließlich hielt er es für angebracht, sich vom Spinozismus als „Atheismus“ scharf abzugrenzen. Der König Friedrich II. war im Sterben, sein Nachfolger war als Frömmler bekannt, und die Beschuldigung des Spinozismus konnte bedeuten, daß auch der Philosophie die Zügel der Zensur straffer angezogen wurden.
Charakteristisch für diese Lage ist ein Brief des Kant befreundeten Herausgebers der aufklärerischen „Berliner Monatsschrift“, I. E. Biester, an diesen (vom 15. Juni 1756). Biester schreibt hier:
" Wichtiger aber ist der zweite Punkt, worauf diese philosophischen Schwärmer itzt so hitzig losgehen: die Untergrabung und Verspottung der Vernunfterkenntnis von Gott:, die Lobpreisung und fast Vergötterung des unverständlichen spinozistischen Hirngespinstes und die intolerante Anempfehlung der Annahme einer positiven Religion als der einzig notwendigen und zugleich jedem vernünftigen Menschen zukommenden Ausweges… keine gehässigere Beschuldigung kann wohl leicht ein aufgeklärter Philosoph erfahren, als die: daß seine Grundsätze entschieden dogmatischen Atheismus und dadurch die Schwärmerei beförderten."
Biester macht Kant noch ausdrücklich aufmerksam auf die Veränderung, die vielleicht durch den Tod Friedrichs II. eintreten und wie schädlich dann die Beschuldigung des Atheismus für einen Philosophen sein würde. „Schwärmerei“ bedeutet in der Sprache der Zeit - revolutionäre Gesinnung und Tätigkeit.
Kant nimmt öffentlich das Wort zur Sache in dem Aufsatz: „Was heißt: sich im Denken orientieren“, der in der Berliner Monatsschrift erschien.
Mendelssohn sei über die Grenzen hinausgegangen, wo sich demonstrieren lasse:
" Indessen bleibt ihm doch das Verdienst, den tetzten Probierstein der Zuverlässigkeit eines Urteils hier wie anderwärts nirgends als allein in der Vernunft zu suchen: sie mochte nun durch Einsicht oder bloßes Bedürfnis und die Maximen ihrer eigenen Zuträglichkeit in der Wahl ihrer Sätze geleitet werden."
Kant prägt für seine Mittelstellung das kennzeichnende Wort „Vernunftglauben“. Gegen Jacobi wendet er sich mit den Sätzen:

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" Der B e g r i f f von Gott, und selbst die Ueberzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen und weder durch Eingebung noch durch eine erteilte Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in uns kommen… Wenn also der Vernunft in Sachen, welche übersinnliche Gegenstände betreffen, als das Dasein Gottes und die künftige Welt, das ihr zustehende Recht, z u er s t zu sprechen, bestritten wird, so ist aller Schwärmerei, Aberglauben, ja, selbst der Atheisterei eine weitere Pforte geöffnet."
Solches „gesetzloses“ Denken führe zum Unglauben, zur Freigeisterei und schließlich zum Eingreifen der Regierung.
In einer Anmerkung folgt dann die ausdrückliche Absage Kants vom Spinozismus:
" Es Ist kaum zu begreifen - bemerkt er -, wie gedachte Gelehrte in der Kritik der reinen Vernunft Vorschub zum Spinozismus finden konnten. Jacobi selber und ein Anonymus hatten Andeutungen dieser Art gemacht.) Die Kritik beschneidet dem Dogmatism gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände, und der Spinozism ist hierin so dogmatisch, daß er sogar mit dem Mathematiker in Ansehung der Strenge des Beweises wetteifert."
Wir, schließen hier noch eine Bemerkung Schellings über die Bedeutung des Spinozismusstreites an, die jener etwa zehn Jahre später schrieb (in den „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“, geschrieben 1796 und 1797). Die Streitsache um Lessings Spinozismus, schreibt hier Schelling,
" „ist doppelt merkwürdig, nicht nur Lessings und s e i n e r Freunde wegen, sondern auch, weil sie die Veranlassung war, bei welcher die Philosophie eines Geistes bekannt wurde, welchen zu würdigen und auszulegen erst das heranwachsende Geschlecht ganz fähig sein wird.“ (Werke, Bd. I, S. 461.)"

III Herder

Die tiefste Einwirkung Spinozas auf die klassische deutsche Literatur und mittelbar auch auf die deutsche Philosophie wurde durch I. G. Herder vermittelt. Selbst noch ein junger Mann, gab er zu Straßburg dem jungen gärenden Studenten Goethe den Hinweis auf Spinoza, der unendlich viel für den Künstler Goethe zur Folge hatte. Für Herder selbst gab Spinoza den Anstoß, Natur und Geschichte als eine gesetzmäßige Einheit zu sehen. Den von Lessing empfangenen Ge-

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danken der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit erweiterte Herder zu dem Umfassenderen Gedanken, diese Entwicklung selbst als ein Glied der Entwicklung des Sonnensystems, unseres Erdballes sowie der Pflanzen- und Tierwelt aufzufassen. So entstanden seine „Ideen zur Geschichte der Menschheit“ (1784—1791), ohne die weder die Naturphilosophie Schellings noch die Geschichtsphilosophie Hegels möglich gewesen waren, wie ihrerseits die Herderschen „Ideen“ ohne Spinoza nicht möglich waren. Nicht minder empfängt die neue Auffassung der Dichtkunst, wie sie sich in Goethe genial verwirklichte, ihren entscheidenden Anstoß von Herder, und auch hier führt die Spur zurück nicht nur zu Rousseau, sondern auch zu Spinozas großer, freier, unbefangener Auffassung der Natur als eines in sich selbst ruhenden, durch sich selbst bedingten, unendlichen und vollkommenen Ganzen von Ursachen und Wirkungen. Darauf soll jedoch erst näher eingegangen werden, wenn wir auf Goethe zu sprechen kommen. Herder hatte eine gute Portion von künstlerischer Gabe, aber mehr in der Form des umfassenden und feinsten künstlerischen Verständnisses und Gefühls als in der eigenen mächtigen Produktivität. Herder war hier der große Anreger, der Vollbringer war Goethe. Wir beschränken uns daher hier auf das Verhältnis des Denkers Herder zu Spinoza. Hier ist aber noch darauf hinzuweisen, daß Herder, der weimarische hohe Kirchenrat, den Spinoza nicht nur als Geschichts, und Naturphilosoph ausgewertet und weiter gefördert hat durch den großen Gedanken der Entwicklung in Natur und Geschichte und ihres beiderseitigen Zusammenhangs, sondern daß er ihn auch als Theologe theistisch „geläutert“, d. h. zurückrevidiert hat. Man darf darin keineswegs von seiten Herders eine Fälschung Spinozas wider bessere Einsicht erblicken, es war dies eine ganz natürliche Transformation Spinozas in dem frommen, glaubensbedürftigen Gemüt Herders. Einer der freiesten und umfassendsten deutschen Köpfe seiner Zeit, wie Herder es unzweifelhaft war, ging doch die ganze weite Geistesfreiheit, die sich in Spinoza ausdrückt, nicht unverkümmert in seinen Kopf. Spinoza mußte sich eine leichte christliche Färbung gefallen lassen.
Damit kommen wir auf diejenige Schrift Herders zu sprechen, in der er in den Streit um Lessings Spinozismus ein-

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greift. Sie führt den Titel „Gott. Einige Gespräche von I. G. Herder“ und ist in Gotha im Jahre 1787 erschienen.
Die Einleitung des Gesprächs zwischen „Theophron“ und „Philolaus“ gibt eine lebhafte Vorstellung, wie bis dahin Spinoza in den Köpfen des deutschen Publikums sich gespiegelt hatte.
" Theophron fragt: „Haben Sie den Spinoza gelesen, lieber Freund?“ Philolaus antwortet: „Gelesen habe Ich Ihn nicht, wer wollte auch jedes dunkle Buch eines Unsinnigen lesen? Aber das habe ich aus dem Munde vieler, daß er ein Atheist und Pantheist, ein Lehrer der blinden Notwendigkeit, ein Feind der Offenbarung, ein Spötter der Religion. mithin ein Verwüster der Staaten und aller bürgerlichen Gesellschaft, kurz ein Feind des menschlichen Geschlechts gewesen und als ein solcher gestorben sei. Er verdient also den Haß und Abscheu aller Menschenfreunde und wahren Philosophen."
Philolaus erläutert und bestätigt, was die offizielle theologische Verketzerung Spinozas und seiner Lehre, mehr als ein Jahrhundert mit Ausdauer und Lungenkraft betrieben, in den Köpfen des allgemeinen Publikums angerichtet hatte.
" Die Lehre - sagte er , ja, der Name des Spinoza war damals ein Schimpfwort, wie sie es großenteils noch jetzt sind: alles Ungereimte und Gottlose nannte und nennet man zum Teil noch spinozistisch."
Philolaus verläßt sodann für eine Weile seinen Theophron und hinterläßt ihm den Spinoza zum Lesen.
" Träume ich oder habe ich gelesen? - ruft da Theophron aus -; Ich glaubte einen frechen Atheisten zu finden und ich finde beinahe einen metaphysisch-moralischen Schwärmer. Welch ein Ideal der menschlichen Natur, der Wissenschaft, der Naturkenntnis ist in seiner Seele"
Philolaus erscheint wieder und unterstreicht:
" …Daß er kein Atheist ist, erscheint auf allen Blättern: die Idee von Gott ist ihm die erste und letzte, ja, ich möchte sagen, die einzige aller Ideen, indem er sie an Welt- und Naturerkenntnis, das Bewußtsein seiner selbst und aller Dinge um ihn her, seine Ethik und Politik knüpfet."
In wechselseitigem Gespräch wird dann Spinoza theologisch einwandfrei glatt gestriegelt. Nach Spinoza gibt es nur e i n e Substanz, nur ein völlig selbständiges Wesen, alle endlichen oder Einzeldinge sind keine Substanzen, d. h. sie sind nicht selbständige Existenzen, sondern nur räumlich begrenzte in der Zeit entstehende und wieder vergehende „Modifikationen“ der Substanz. Das hieß der Unsterblichkeit der Seele den Garaus machen. Dem heutigen Leser erscheint es kaum verständlich, wie sich die philosophische Diskussion des XVII.

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und XVIII. Jahrhunderts mit solchem Eifer um die Frage drehen konnte, ob es nur eine oder ob es viele Substanzen gebe, und ob die menschliche Seele Substanz sei oder nicht? Der Sinn der Debatte, mit der sich noch Kant kritisch abquält, war einfach der, ob die Seele unsterblich sei oder nicht. War sie eine Substanz, war sie unsterblich; war sie nur eine „Modifikation“ der einen Substanz, so war sie vergänglich. Deshalb wendet Herder gegen den Substanzbegriff Spinozas ein: wir Menschen fühlen uns auch als Substanzen, nicht nur als Modifikationen.
Gott oder die Natur ist nach Spinoza ausgedehnt, d. h. materiell und denkend, d. h. ideell. Die Materialität Gottes geht Herder wider den Strich.
" Denn, sagen Sie, mein Freund, was haben Gedanke und Ausdehnung miteinander zu schaffen?“ „Da, lieber Theophron - antwortet Philolaus -, nehmen Sie mir einen Stein vom Herzen: denn dieser unendlich ausgedehnte Gott des Spinoza war mir ganz undenkbar, so wie er mir auch eines geometrischen Weltweisen unwürdig schien."
Die Materialität Gottes, so läßt Herder einen seiner Sprecher erklären, ist „die schwächste Seite seines sonst so durchdachten Systems“.
Herder sucht den Ausweg, daß er an die Stelle der unendlichen Ausdehnung unendliche Kräfte setzt.
" Wir setzen dafür, daß sich die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen offenbare.“
Die Materie „ist nicht tot, sondern sie lebt: denn in ihr wirken, ihren inneren und äußeren Organen gemäß, tausend lebendige mannigfaltige Kräfte. Je mehr wir die Materie kennenlernen, desto mehrere derselben entdecken wir in ihr, so daß der leere Begriff einer toten Ausdehnung bei ihr völlig verschwindet. "
Sicher ist es richtiger, an die Stelle der „Ausdehnung“ die bewegte Materie zu setzen. Aber Herder kommt es nicht nur darauf an, die B e w e g u n g, die Kräfte herein-, sondern auch die Ausdehnung, d. h. die Körperlichkeit hinauszubekommen.
Wie vom Begriff des Atheismus, so reinigt Herder seinen Spinoza auch von dem des Pantheismus.
" Ein unendliches höchst wirksames Wesen - läßt er sagen - ist so wenig die Welt selbst, als das Unendliche der Vernunft und das Endlose der Einbildungskraft eins ist: kein Teil der Welt kann also auch ein Teil Gottes sein, weil das einfache höchste Wesen durchaus keine Teile hat. [92]Deutlich sehe ich jetzt, daß man unserem Philosophen den Pantheismus ebenso unrecht Schuld gegeben habe, als den Atheismus…"
Und an anderer Stelle:
" Gott Ist nicht Welt und Welt nicht Gott: das bleibt gewiß; aber auch mit dem extra und supra ist, dünkt mich, nicht viel ausgerichtet."
Es bedarf keiner weiteren Ausführung darüber, daß Herder hier zwischen Theismus und Pantheismus hin und her schwankt, ohne sich entscheiden zu können.
Nimmt man noch hinzu, daß Herder die Entfernung des Verstandes und des Willens aus Gott durch Spinoza ablehnt, so wird dies Hin- und Herschwanken nur noch deutlicher.
Dagegen weiß er den Gedanken der Weltentwicklung, den er neu hineinträgt in das Spinozische System, außerordentlich tief zu fassen. Er sagt darüber:
" Alles, was erscheint, muß verschwinden, es verschwindet, sobald es kann, es bleibt aber auch, solange es kann; hier wie allenthalben fallen die beiden Extreme zusammen und sind eigentlich ein und dasselbe. Jedes beschränkte Wesen bringt als Erscheinung schon den Keim der Zerstörung mit sich; mit unaufhaltsamem Schritt tut es zur größten Höhe hinauf, damit es hinuntereile und unsern Sinnen das Kleinste werde…"
Weiter:
" Es muß ein Fortgang sein im Reiche Gottes, da in ihm kein Stillstand, noch weniger ein Rückgang sein kann.“
„…In der ganzen Natur also herrscht ein notwendiges Gesetz, daß aus dem Chaos Ordnung, aus schlafenden Fähigkeiten tätige Kräfte werden."
Wir sehen also Spinozas Lehre bei Herder einerseits abgestumpft in der Richtung zum Theismus und vereinseitigt in der Richtung des Idealismus, andererseits aber erweitert und vertieft, indem der große Gedanke des stufenweisen Fortschritts, der Entwicklung in Natur und Geschichte hineinkommt.
Wenn die klassische deutsche Philosophie in Schelling den Spinozismus wieder aufnimmt, indem sie ihn auf einer entwickelteren Stufe reproduziert und zugleich umwandelt, so knüpft sie daher direkt an Herder an. Die Schellingsche Naturphilosophie ist durch Herder mit Spinoza vermittelt.
Andererseits ist Herder das Bindeglied zwischen Spinoza und Goethe.

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IV Goethe

Ist Herder nach dem Ausdruck von Jean Paul ein ganzes „Bündel von Sternen“, vereinigt sich in ihm der Künstler, Denker und Prophet, so ist Goethe in erster Linie und durch und durch Künstler. Als Künstler ergreift er auch die Naturforschung. Dem Künstler in Goethe steht ursprünglich zur Seite ein machtvoller Drang zu handeln, unmittelbar ins gesellschaftliche Leben einzugreifen. Man braucht nur die Briefe des jungen Goethe zu lesen, um die Macht dieses Dranges sich zu vergegenwärtigen. Dieser Tätigkeitsdrang ist bei keinem der deutschen Klassiker ursprünglich so stark wie bei Goethe, aber in den engen Verhältnissen eines Duodez-Staates, in die Goethe hineingezwängt wurde, wurde dieser Tätigkeitsdrang in das zwerghafte Bett der Tätigkeit eines Duodez-Staatsministers gedrängt, verkrüppelt und geradezu karikiert. Für unmittelbare revolutionäre Tätigkeit waren aber die Verhältnisse in Deutschland noch viel zu unentwickelt. Goethe rebellierte, wie F. Mehring richtig sagt, gegen die deutschen Zustände in erster Linie als Künstler. Die politische und soziale Rebellion liegt ihm ferne und widerstrebte ihm, der aus dem städtischen Patriziat, aus der bürgerlichen Oberschicht stammte und sich dann später äußerlich in die Bureaukratie, den Adel und das Hofleben eines deutschen Kleinstaates einfügte. Von dieser Seite ist Goethe beschränkt, Philister. Aber als Künstler und Naturbetrachter umfaßt er das Universum wie keiner vor ihm noch nach ihm. Oder, um mit Spinoza zu reden. Goethe faßt das Universum sub specie der Kunst und der Naturbetrachtung. Er ist so weltumfassend und beschränkt zugleich. Revolutionär als Künstler, ist sein Gedanke, die Welt der Menschen von der Kunst her, nicht umzustürzen, sondern stufenweise umzuwandeln.
Goethe ist nicht beschränkt durch die christlichen und theologischen Reste, die Herder noch anhaften. Er kann also den Spinoza viel freier, viel umfassender aufnehmen. Er nimmt ihn aber in erster Linie als Künstler, nicht als Philosoph auf. Was Goethe betrachtend und berichtend über philosophische

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Dinge sagt, steht in zweiter Linie gegenüber dem, was er als Künstler formt. Die Philosophie Spinozas ist von Goethe in genialen Kunstgebilden verkörpert. Von einer „Philosophie“ Goethes im eigentlichen Sinne des Wortes zu sprechen, geht nicht an, soviel auch deutsche Professoren und Doktoren der Philosophie darüber geschrieben haben mögen.
Für das Verhältnis Goethes zu Spinoza ist noch eines wichtig. Die Philosophie Spinozas, obwohl revolutionär wirkend, ist in ihrem Ursprungslande selbst der zu Ende gedachte gedankliche Ausdruck nicht einer unterdrückten, sondern einer herrschenden Klasse gewesen, der holländischen Handelsbourgeoisie. Sie ist daher nicht „kämpfender Materialismus“ ihrem Auftreten nach, sondern friedlich gestimmt, selbstgenügsam. Man versteht, wie sehr dies der Art und der Rolle Goethes entgegenkam. Dieser Charakter des Spinozismus ist sehr gut von Schelling erfaßt worden. Er sagt darüber in seinen „Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus“ (1795):
" Der konsequente Dogmatismus (damit meint Schelling den Spinozismus) geht nicht auf Kampf, sondern auf Unterwerfung, nicht auf gewaltsamen, sondern auf freiwilligen Untergang, auf stille Hingabe meiner selbst ans absolute Objekt: jeder Gedanke an Widerstand und kämpfende Selbstmacht hat sich aus einem besseren System in den Dogmatismus herübergefunden (offenbar ist hier der Text nicht in Ordnung). Aber dafür hat jene Unterwerfung eine rein ästhetische Seite. Die stille Hingabe ans Unermeßliche, die Ruhe im Arme der Welt ist es, was die Kunst auf dem andern Extreme jenem Kampfe entgegenstellt; stoische Geistesruhe, eine Ruhe, die den Kampf erwartet oder ihn schon geendigt hat, steht in der Mitte."
Ehe wir über den künstlerischen Ausdruck Spinozascher Gedanken in Goethe sprechen, wollen wir an der Hand der Goetheschen Aufzeichnungen, Briefe usw. darstellen, wie sein Verhältnis zu Spinoza sich entwickelt hat und worin die Hauptberührungspunkte liegen. Die Hauptquelle ist Goethes Darstellung seiner eigenen Entwicklung in „Dichtung und Wahrheit“.
Als Student an der Leipziger Universität lernt er Philosophie zuerst in Gestalt der Wolffschen Popularphilosophie kennen. Sie stößt ihn ab wegen ihrer Plattheit und Dürftigkeit. 1770 und 1771 kam dann Goethe an die französische Universität Straßburg. Auf diese Weise kam Goethe in Berührung auch mit dem französischen Materialismus, mit Helvetius, Holbach usw.

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Ueber den Eindruck, den dieser auf ihn und seinen Kreis von deutschen Studienfreunden machte, schreibt er später in „Dichtung und Wahrheit“:
" Auf philosophische Weise erleuchtet und gefördert zu werden, hatten wir keinen Trieb noch Hang: über religiöse Gegenstände glaubten wir uns selbst aufgeklärt zu haben, und so war der heftige Streit französischer Philosophen mit dem Pfaffentum uns ziemlich gleichgültig. Verbotene, zum Feuer verdammte Bücher, welche damals großen Lärm machten, übten keine Wirkung auf uns. Ich gedenke statt aller des Système de la Nature, das wir aus Neugier in die Hand nahmen. Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte. Es kam uns so grau, so kimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor einem Gespenste schauderten... Keiner von uns hatte das Buch hinausgelesen: denn wir fanden uns in der Erwartung getäuscht, in der wir es aufgeschlagen hatten. System der Natur ward angekündigt, und wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgöttin, zu erfahren. Physik und Chemie, Himmels, und Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Anatomie und so manches andere hatte nun seit vier Jahren und bis auf den letzten Tag uns immer nur die geschmückte große Welt hingewiesen, und wir hätten gern von Sonnen und Sternen, von Planeten und Monden, von Bergen, Tälern, Flüssen und Meeren und von allem, was darin lebt und webt, das Nähere sowie das Allgemeinere erfahren. Daß hierbei manches wohl vorkommen müßte, was dem gemeinen Menschen als schädlich, der Geistlichkeit als gefährlich, dem Staat als unzulässig erscheinen möchte, daran hatten wir keinen Zweifel, und wir hofften, dieses Büchlein sollte nicht unwürdig die Feuerprobe bestanden haben. Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tisten atheistischen Halbnacht zumute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. Eine Materie sollte sein von Ewigkeit und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seilen ohne weiteres die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen wie wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur oder als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt, dadurch recht viel gewonnen zu haben.
Wenn uns jedoch dieses Buch einigen Schaden gebracht, so war es der, daß wir aller Philosophie, besonders aber der Metaphysik recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber aufs lebendige Wissen, Erfahren, Tun und Dichten uns nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hin warfen."
Aus dieser Schilderung ist zweierlei interessant. Erstens, daß diesen jungen Deutschen der Kampf gegen Kirche und Religion wie der politische Kampf ganz fern lag, sie nicht interessierte, zweitens, daß an dem französischen Materialismus

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ihnen die Entwicklung fehlte, daß dieser Mangel sie abstieß.
Einen direkten Anstoß in der Richtung auf Spinoza erhielt dann der junge Goethe auf der Rheinreise, die er im Juli 1774 unternahm, und auf der er mit dem jungen Jacobi in Düsseldorf zusammentraf. Es ist kein Zufall, daß gerade im Rheinland, dem kulturell entwickeltsten und Frankreich am nächsten benachbarten Teil Deutschlands Spinoza wieder entdeckt wurde, wie es kein Zufall ist, daß der freieste Kopf in der ganzen deutschen Literatur nach Goethe - H. Heine - ein Rheinländer ist, daß Marx und Engels Rheinländer sind.
Ueber dies erste Zusammentreffen mit Jacobi in der Schätzung Spinozas schreibt Goethe im 14. Buch von „Dichtung und Wahrheit“:
" Glücklicherweise hatte ich mich auch schon von dieser Seite wo nicht gebildet, doch bearbeitet, und in mich das Dasein und die Denkweise eines außerordentlichen Mannes aufgenommen, zwar nur unvollständig und wie auf Raub, aber ich empfand davon doch schon bedeutende Wirkungen. Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte, war Spinoza. Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die Ethik dieses Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wüßte ich keine Rechenschaft zu geben: genug, ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satz hervorleuchtete... Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschiedenstn Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande. Noch war aber alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung, gärend und siedend..."
Im 16. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ kommt dann Goethe wieder eingehend auf die erste Berührung mit Spinoza zu sprechen:
" Ich hatte lange nicht an Spinoza gedacht, und nun ward ich durch Widerrede zu ihm getrieben. In unserer Bibliothek (in Frankfurt) fand ich ein Büchlein, dessen Autor gegen jenen eigenen Denker heftig kämpfte *1 ,[97]und, um dabei recht wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenübergesetzt hatte mit der Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, daß er nämlich das Zeichen der Verwerfung und Verworfenheit im Angesicht trage. Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht leugnen, denn der Kupferstich war erbärmlich schlecht und eine vollkommene Fratze, wobei mir denn jene Gegner einfallen mußten, die irgend jemand, den, sie misswollen, zuförderst entstellen und dann als ein Ungeheuer bekämpfen.
Dieses Büchlein jedoch machte keinen Eindruck auf mich, weil ich überhaupt Kontroversen nicht liebte, indem ich immer vorzog, von dem Menschen zu erfahren, wie er dachte, als von einem anderen zu hören, wie er hätte denken sollen. Doch führte mich die Neugierde auf den Artikel Spinoza in Bayles Wörterbuche, einem Werke, das wegen Gelehrsamkeit und Scharfsinn ebenso schätzbar und nützlich, als wegen Klatscherei und Salbaderei lächerlich und schädlich ist.
Der Artikel Spinoza erregte in mir Unbehagen und Mißtrauen. Zuerst sogleich wird der Mann als Atheist und seine Meinungen als höchst verwerflich angegeben, sodann aber zugestanden, daß er ein ruhig nachdenkender und seinen Studien obliegender Mann, ein guter Staatsbürger, ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen, und so schien man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! - denn wie will doch ein Menschen und Gott gefälliges Leben aus verderblichen Grundsätzen entspringen?
Ich erinnere mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblätterte. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich soviel schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben“…„Nur wenige Menschen gibt es, die solche unerträgliche Empfindung vorausahnen und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen resignieren. Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja, durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas Uebermenschliches liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für gott- und weltlose; Ja, man weiß nicht, was man ihnen alles für Hörner und Klauen andichten sol...
Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich buchstäblich bekennen mögen. Denn daß niemand den anderen versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe wie der andere denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen, und man wird dem Verfasser von Werther und Faust wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen. nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der als Schüler von Descartes durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint... Inwiefern mir alle die Hauptpunkte jenes Verhältnisses zu Spinoza unvergeßlich geblieben sind, Indem sie eine große Wirkung auf die Folge[98]meines Lebens ausübten, will ich so kurz und bündig als möglich eröffnen und darstellen. Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte. Alle Menschen sind hierin unbewußt vollkommen einig. Man bedenke, wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf Willkür deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt..."
Faßt man diese Aeußerungen zusammen, die, schon im Alter abgefaßt, sehr behutsam gehalten sind, so läßt sich etwa folgendes sagen: In Spinoza fand Goethe die Stütze für eine rein diesseitige Auffassung der Natur, des menschlichen Lebens und der Welt im Ganzen; der persönliche, jenseitige, übersinnliche Gott, alles Wunderwesen, alle willkürlichen Eingriffe in die Gesetze der Natur verschwinden für ihn. Er überwindet mit Spinozas Hilfe die kleinliche, pfäffische und anthropomorphische Auffassung der Zeit von den Endursachen, er befestigt in sich die durchgängig kausale, streng gesetzmäßige Auffassung der Welt und der Menschen. Die „Uneigennützigkeit“ der Weltauffassung Spinozas drückt eben das Ablehnen der Bezogenheit der Natur auf menschliche Zwecke aus. Zugleich gab die Spinozasche Gleichsetzung der Natur mit Gott Goethe das Gefühl der Herrlichkeit der Welt, deren er als Dichter bedurfte. Die Auflassung des Menschen als eines gleichartigen und gesetzmäßigen Teiles der Natur, der als solcher über die engen Begriffe von Gut und Schlecht erhaben ist, half Goethe bei der Ueberwindung der pfäffischen Auffassung vom Menschen als einem gedrückten, mit Erbsünde belasteten Knecht Gottes. Sie verhalf ihm zu dem unbefangenen freien Bewußtsein des menschlichen Wertes, worin sich die Entfaltung des bürgerlichen Selbstbewußtseins in einer allgemeinen Weise ausdrückt. Die Hymne „Prometheus“ drückt dieses Gefühl auf das großartigste aus. Es kommt schließlich hinzu, daß in Spinoza dieses entwickelte bürgerliche Selbstbewußtsein sich nicht kämpferisch ausdrückt, sondern ruhig, selbstgenügsam - was wieder der Natur und Klassenrolle Goethes entspricht. Dies ist die „Friedensluft“, die ihn aus Spinoza anweht.
Winter 1784/85 nimmt Goethe mit Herder und Frau v. Stein das Studium Spinozas wieder auf. Er schreibt darüber an Jacobi unterm 12. Januar 1785:
" Ich übe mich an Spinoza, ich lese und lese ihn wieder und erwarte mit Verlangen, bis der Streit über seinen Leichnam losbrechen wird. Ich[99]enthalte mich alles Urteils, doch bekenne ich, daß ich mit Herder in dieser, Materien sehr einverstanden bin."
Am 9. Juni schreibt er an Jacobi über denselben Gegenstand unter anderem:
" Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht woraus alles übrige fließt. Er beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist Gott. Und wenn ihn andere deshalb Atheum (einen Atheisten) schelten, so möchte ich ihn Theissimum (den gottvollsten) und Christianissimum (allerchristlichsten) nennen und preisen.. Vergib mir, daß ich so gern schweige, wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus (den einzelnen Dingen, ein Ausdruck Spinozas) erkenne, zu deren näheren und tieferen Betrachtung niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst, obgleich vor seinen, Blick alle einzelnen Dinge zu verschwinden scheinen… hier bin ich auf und unter Bergen, suche das Göttliche in herbis et lapidibus (in Kräutern und Steinen)."
Als das Spinoza-Büchlein Jacobis herausgekommen war, schrieb er diesem unterm 21. Oktober desselben Jahres:
" Daß ich Dir über Dein Büchlein nicht mehr geschrieben, verzeih! Ich mag weder vornehm noch gleichgültig scheinen. Du weißt, daß ich über die Sache selbst nicht Deiner Meinung bin, daß mir Spinozismus und Atheismus zweierlei ist, daß ich den Spinoza, wenn ich ihn lese, nur nur aus sich selbst erklären kann und daß ich, ohne seine Vorstellungsart von Natur selbst zu haben, wenn die Rede wäre, ein Buch anzugeben, das unter allen, die ich kenne, am meisten seit der meinigen übereinkommt die Ethik des Spinoza nennen müßte."
In einem Brief vom 9. Mai 1786 an denselben Jacobi gibt Goethe Aufschluß darüber, was ihn erkenntnistheoretisch mit Spinoza verbindet:
" Wenn du sagst, man könne an Gott nur glauben, so sage Ich Dir, ich halte viel aufs Schauen, und wenn Spinozn von scientia intuitiva (anschaulicher Wissenschaft) spricht und sagt: Hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum (diese Art des Erkennens schreitet von der angemessenen Idee des formalen Wesens einiger Attribute Gottes zur angemessenen Erkenntnis des Wesens der Dinge): so geben mir diese wenigen Worte Mut, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen, die ich reichen und von deren ‚essentia formali‘ ich mir eine adaequate Idee zu bilden hoffen kann, ohne mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zugeschnitten ist. "
Es ist also die Erkenntnis, die von der sinnlichen Anschauung ausgeht, die Goethe mit Spinoza verbindet.
In einem Aufsatz Goethes aus dieser Zeit seiner Spinozastudien finden wir bezeichnenderweise folgenden Satz an die Spitze gestellt:
" Der Begriff vom Dasein und der Vollkommenheit ist ein und eben-[100] derselbe; wenn wir diesen Begriff soweit verfolgen, als es uns möglich ist, so sagen wir, daß wir uns das Unendliche denken. "
Die Vollkommenheit des Daseins ist der denkbar schroffste Gegensatz zu der christlichen Vorstellung vom irdischen Jammertal, sie verweist den Menschen auf das Diesseits - eine Vorstellung, die Goethe in tausend dichterischen Formen ausspricht.
Er wendet ihn auch im einzelnen als Naturforscher-Dichter an, wenn er sagt:
" Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es
Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder...
So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit
Von der Mutter bestimmt; denn alle lebendigen Glieder
Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben.
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten mächtig zurück… "
So gelangt Goethe zum Gedanken der Entwicklung, der Umgestaltung (Metamorphose) der Lebewesen. Diesen Gedanken konnte er nicht aus Spinoza schöpfen, aber die spinozistische Gesamtauffassung der Natur war der Rahmen, in den er sich einfügte.
Die Rolle Goethes als Vorläufer der Deszendenzlehre ist zu bekannt, als daß wir weiter darauf eingehen sollten.
Wir setzen noch hierher eine Stelle, in der sich das ganz und gar unchristliche, sinnen- und daseinsfrohe, diesseitige Lebensgefühl voll ausspricht. Es ist eine Stelle aus „Winckelmann und sein Jahrhundert“. Hier sagt Goethe u. a.:
" Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihn, ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?
Wirft sich der Neuere, wie es uns eben jetzt ergangen, fast bei jeder Betrachtung ins Unendliche, um zuletzt, wenn es ihm glückt, auf einen beschränkten Punkt wieder zurückzukehren, so fühlten die Alten ohne weiteren Umweg sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt. Hierher werden sie gesetzt, hierzu berufen, hier fand ihre Tätigkeit Raum, ihre Leidenschaft Gegenstand und Nahrung. "
Der dichterischen Wendungen, in denen Goethe sein Miß-

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behagen gegen alles Streben nach dem Uebersinnlichen, Jenseitigen ausdrückt, sind unzählige, und sie sind so bekannt, daß wir sie nicht anführen wollen. Es hängt mit dieser Auffassung zusammen, wenn Goethe sich aufs schroffste gegen Kants Lehre vom radikalen Bösen in der Menschennatur wendet, womit er, wie Goethe drastisch sagt, „seinen Philosophenmantel freventlich beschlabbert“.
Wir führen hier nur noch einige Stellen an, die dieselbige diesseitige Gesinnung in bezug auf das Denken selbst aussprechen und worin die Kantische Unerkennbarkeit des Dinges an sich abgewiesen wird.
Er sagt demgegenüber. „daß die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter vor Augen stellt“.
Und an anderer Stelle:
" Man suche nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre. "


Am vollkommensten und angemessensten drückt sich Goethes Spinozismus aus in seiner Dichtung. Niemand hat das treffender erfaßt als der größte deutsche Lyriker nach Goethe - H. Heine, Er sagt darüber (in „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, S. 34):
" Um mich kurz auszudrücken: Goethe war der Spinoza der Poesie. Alle Gedichte Goethes sind durchdrungen von demselben Geiste, der uns auch in den Schriften des Spinoza anweht. Daß Goethe gänzlich der Lehre des Spinoza huldigte, ist keinem Zweifel unterworfen… Hier gilt es nur, zu erwähnen, daß der Pantheismus schon zur Zeit Fichtes in die deutsche Kunst eindrang, daß sogar die katholischen Romantiker unbewußt dieser Richtung folgten, und daß Goethe sie am bestimmtesten aussprach. Dieses geschieht schon im ‚Werther‘, wo er nach einer liebeseligen Identifizierung mit der Natur schmachtet. Im ‚Faust’ sucht er ein Verhältnis mit der Natur anzuknüpfen auf einen, trotzig mystischen, unmittelbaren Wege; er beschwört die geheimen Erdkräfte durch die Zauberformeln des Höllenzwangs. Aber am reinsten und lieblichsten bekundet sich dieser Goethesche Pantheismus in seinen kleinen Liedern. Die Lehre des Spinoza hat sich aus der mathematischen Hülle entpuppt und umflattert uns als Goethesches Lied. Daher die Wut unserer Orthodoxen und Pietisten gegen das Goethesche Lied. Mit ihren frommen Bärentatzen tappen sie nach diesem Schmetterling. der ihnen beständig entflattert. Das ist so zart aetherisch, so duftig beflügelt. Ihr Franzosen könnt euch keinen Begriff davon machen, wenn Ihr die Sprache nicht kennt. Diese Goetheschen Lieder haben einen neckischen Zauber, der unbeschreibbar ist. Die harmonischen Verse um-[102] schlingen dein Herz wie eine zärtliche Geliebte; das Wort umarmt dich, während der Gedanke dich küßt… "
In Goethes Lied befreit sich das Naturgefühl und die Naturanschauung von allen Resten christlich-religiöser Färbung. Man vergleiche hierin mit ihm etwa den bedeutendsten neueren deutschen Lyriker von ihm, Klopstock. In Klopstocks Oden und Hymnen ist die Natur „Schöpfung“, Machwerk Gottes, sie ist nicht selbstherrlich, sondern sie spiegelt Gottes Herrlichkeit. Ihr Anblick reißt den Dichter über die Wolken, ins Uebersinnliche. Wie anders bei Goethe. Die Natur, wie Goethe sie neu fühlt, ist selbstherrlich, die causa sui des Spinoza. Sie ist nicht mehr „Schöpfung“, sondern die unendliche und einzige Substanz - Deus sive Natura, sie läßt nicht Raum für ein Jenseitiges. Woher das neue Naturgefühl, das sich in England in Thomson und Young anbahnt, in Rousseau weiter ausbildet und in Goethe sich vollendet?
Diese neue Naturanschauung und Naturgefühl stammt aus den Klassenverhältnissen, aus dem sich entfaltenden bürgerlichen Klassenbewußtsein. Am klarsten wird dieser Zusammenhang durchsichtig bei Rousseau. Dem erstarkenden bürgerlichen Klassenbewußtsein erscheint die Kultur der feudal- absolutistischen Gesellschaft künstlich, unecht, weil im Widerspruch zum eigenen Bewusstsein. Die Flucht und Zuflucht zur Natur ist die Flucht aus der künstlichen, absterbenden alten Gesellschaft, aus einer überlebten Konvention in die Ungebundenheit. Die kämpfende bürgerliche Ideologie erblickte in den Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft Naturgesetze. Der Uebergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft erscheint ihnen als Uebergang vom Künstlichen zum Natürlichen. Der Bourgeois erscheint als Naturmensch. Die in der alten Gesellschaft verletzten Naturgesetze der bürgerlichen Gesellschaft werden legitimiert durch die allgemeinen ewigen Naturgesetze. Die äußere Natur ist also in Harmonie mit dem bürgerlichen Innern.
Der chronologische und geographische Gang der Ausbildung des neuen Naturgefühls entspricht genau der Stufe der bürgerlichen Entwicklung der einzelnen Länder. James Thomson, der Schotte, schreibt seinen „Winter“ 1726. In Deutschland sind das Echo Hallers „Alpen“, Ewald Kleists „Frühling“ usw. Die nächste wichtige Etappe ist Edward Youngs „Nachtgedan-

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ken“ vom Jahr 1742. Sie leiten die tränenselige Betrachtung der Natur ein. Klopstocks Tränenflut hat ihre Quelle in Young. Vor Thomson müßte man noch einrücken Defoes Robinson Crusoe, der 1719 in Englisch erschienen und 1721 in deutscher Uebersetzung vorlag.
Dann greift Frank reich ein mit Rousseaus erstem „Discours“ - 1750, dem der zweite Discours (sur I’inegalite ) 1754 folgt. Kurz danach entsteht die Physiokratische Schule -1756. Ein Jahr zuvor war das Grundwerk der Schule, Quesnays „Tableau Economique“, erschienen. Die bürgerliche Oekonomie als die „natürliche“ Oekonomie. 1762 folgt Rousseaus Emile, 1766 Oliver Goldsmiths Vicar of Wakefleld, 1768 Lawrence Sternes „Sentimental Journey“, 1774 Goethes Werther, 1776 Adam Smiths Wealth of Nations.
In der Goetheschen Liebeslyrik zeigt sich derselbe Entwicklungszug. Die spezifisch bürgerliche Note in der Auffassung der Liebe schlägt wieder zuerst ein Engländer an, Samuel Richardson. Seine Pamela erscheint 1740. Das Thema seiner weitschweifigen Romane ist der Sieg der bürgerlichen weiblichen Tugend über adlige Genußsucht, adligen Mißbrauch der nichtadligen Weiber. Die bürgerliche Tugend erscheint hier unendlich weinerlich, klagend und frömmelnd. Aber das entsprach der bürgerlichen Klassenstimmung der Zeit. Das Bürgertum beklagt sich erst selber, kostet seinen gesellschaftlichen Jammer tränenvoll aus, ehe es kämpft. Auch in der Entwicklung des Proletariats findet sich solch eine Klageperiode, ehe es zum Kampf übergeht. Dann die bürgerliche Landpredigerstochtertugend, wie in Oliver Goldsmiths Vicar of Wakefleld, 1700, die sich musterhaft abhebt von der Zügellosigkeit und Willkür des adligen Gutsbesitzers.
Richardson wurde das Vorbild für Rousseaus „Nouvelle Heloise“ (1761). Klopstocks Liebeslyrik ist tugendhaft-über-irdisch. Ueber all dem Engen und Philiströsen, was dieser frommen Tugend anhaftet, darf man den historisch-fortschrittlichen Inhalt gegenüber den Anschauungen und der Praxis der feudalen Gesellschaft jedoch nicht übersehen. Für diese feudale Gesellschaft war die Ehe eine konventionelle Notwendigkeit, ohne Gehalt. In der Liebe ist der adlige Herr - der Herr, die Frau oder das Mädchen – Objekt, Mittel.

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Die bürgerliche Auffassung kämpfte gegen die soziale Entwürdigung, gegen die Nichtanerkennung der Gleichberechtigung, die in der hochadligen Auffassung und Praxis sich kundgibt. Goethe, der den philiströs-engen Kreis seiner Vorgänger auch auf diesem Gebiet durchbricht, der dem Sinnengenuß ein gutes Gewissen macht, tut dies auf Basis der bürgerlichen Anschauung. Er überwindet die tändelnde Anakreontik, wie die fromme Klopstocksche Ode. Die Liebe, die er fühlt und ausdrückt, erfaßt den Menschen als Naturgewalt, und sie waltet frei und selbstherrlich wie die Natur. Und sie ist eine Beziehung unter Gleichen, kein Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis.
Das Goethesche Liebeslied ist nicht übersetzter Spinozismus - aber es entspringt derselben großen und freien Weltansicht, die das christlich-asketische sinnenfeindliche Sündenbewußtsein überwunden hat.
Der lyrische Dichter ist Entdecker und Pfadfinder in der Welt der Gefühle. Goethe, der lyrische Dichter, entdeckt und formt in der Welt der Gefühle, was Spinoza, der Denker, in der Welt des Gedankens geformt.

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*1
Gemeint ist die deutsche Uebersetzung der Lebensbeschreibung Spinozas durch Coterus.


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