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Team Arkadij Gurland
Thema PRODUKTIONSWEISE - STAAT - KLASSENDIKTATUR - Versuch einer immanenten Interpretation des Diktaturbegriffs der materialistischen Geschichtsauffassung ( orginal )
Status Dissertation 1928
Letzte Bearbeitung 08/2004
Home www.mxks.de

Vorbemerkung
I. Der Geschichtsprozeß in der Hegelschen Philosophie
II. Hegels Staatssoziologie
III. Die Grundelemente der Marxschen Staatsauffassung
IV. Der Staat als soziales Gebilde
V. Die »Anatomie« des Kapitalismus und die »Mission des Proletariats«
VI. Klassenherrschaft und Diktatur
VII. Die scheinbare Verselbständigung der Staatsgewalt
VIII. Bürgerliche und proletarische Revolution
IX. Diktaturbegriff und materialistische Geschichtsauffassung
Artikel etc von A. Gurland
Bibliographie
Abkürzungen

Vorbemerkung

Die Frage, was sich der Marxismus unter Diktatur vorstellt, ist für die heutige Arbeiterbewegung durchaus nicht ein Problem von nur theoretischer Bedeutung. Ob über die englische Arbeiterbewegung gesprochen wird, ob über den Faschismus oder das bolschewistische Experiment diskutiert wird oder ob man Stellung nimmt zu den aktuellen Problemen der deutschen Koalitionspolitik, immer wieder stößt man auf den Begriff Diktatur. Und immer wieder erlebt man, wieviel verschiedene, miteinander unvereinbare Bedeutungen diesem Begriff unterschoben werden, welch mannigfaltige Inhalte dieses eine Wort in dem Denken der sozialistischen Arbeiterschaft deckt. Immer von neuem hat sich mir bei Kursen und Vorträgen, die ich für die Sozialdemokratische Partei und die freien Gewerkschaften abgehalten habe, das Bedürfnis aufgedrängt, die Diktaturlehre des Marxismus einmal aus dem Gesamtzusammenhangs des Marx-Engelsschen Denkens abzuleiten und ihre Anwendbarkeit auf die brennenden Probleme der Arbeiterbewegung in der Gegenwart zu zeigen. Als ich die Muße fand, diese Arbeit in Angriff zu nehmen, zwangen mich äußere Gründe dazu, ihr das Gewand einer akademischen Dissertation zu verleihen; und wiederum sind es äußere Gründe, die dazu führen, daß die vorliegende Arbeit ihre ursprüngliche akademische Form im wesentlichen beibehalten muß.

Den Bedingungen des heutigen Universitätsbetriebs angepaßt, konnte diese Arbeit nicht die politisch-propagandische Gestalt und nicht die aktuelle Zuspitzung aufgeprägt bekommen, die die politische Bedeutung des Themas erfordert hätte. Vor allen Dingen hat die Aufweisung der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Marxschen Staatsauffassung und der Hegelschen Philosophie einen Raum beansprucht, der ihr, wenn man die Probleme der Gegenwart ins Auge faßt, nicht zukommt. Der Leser, der an der philosophischen und geistesgeschichtlichen Fragestellung kein Interesse hat, wird daher die beiden ersten Kapitel der Arbeit zunächst überschlagen können, ohne daß ihm dadurch an dem entwickelten Gedankengang Wesentliches verloren ginge. Wer dagegen der Aufhellung des Ausgangspunktes des Marxschen Denkens sein Interesse entgegenbringt, wird vielleicht auch der finsteren "Hegelei" manchen das begriffliche Gerippe der materialistischen Geschichtsauffassung durchleuchtenden Ausblick abgewinnen.

Daß die Arbeit in der vorliegenden Fassung durchgeführt werden konnte, verdanke ich dem Rat und der Unterstützung von Herta Zema und Maximilian Lange. An der gedanklichen Erarbeitung ihres Inhalts hat auch meine langjährige Zusammenarbeit mit Kurt Laumann und Fritz Heller einen wesentlichen Anteil.
Berlin, im Mai 1930 Der Verfasser

I. Der Geschichtsprozeß in der Hegelschen Philosophie

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Substanz und List der Idee
In dem uns überlieferten fertigen Bau der Hegelschen Philosophie ist die Lehre vom Staat mit ihren grundlegenden soziologischen Kategorien die Krönung des Werkes. Aber nicht aus dem massiven granitnen Gestein der Fundamente ist das Gebilde Staat bei Hegel gemeißelt. Aus durchsichtigem, zerbrechlichem Bergkristall fein geschliffen, in gotischer Architektonik sich steil nach oben verjüngend, ragen die spitzen Türme des Staatsgebäudes in die unhegelisch nordische Sphäre des "Sollens" hinein. Nicht der Ausgangspunkt ist die Staatslehre in der Hegelschen Philosophie, sie ist ihr Kulminationspunkt, ihr höchster Gipfel - und der Ausläufer einer ungelösten Antinomie. Die Sphäre des Staates ragt hinaus aus der spekulativen Welt des gedachten Seins, sie ist die empirische Emanation, in der Welt der Erfahrung faßbare Ausströmung der Weltgeschichte. Sie ist für Hegel keine Sphäre primärer Ordnung, sondern zunächst eine Ableitung des übergeordneten geschichtsphilosophischen Gebietes, der umfassenden Substanz der Weltgeschichte. Aber auch die Weltgeschichte ist keine primäre Kategorie, ist doch der Staat in letzter Ableitung "die vollständige Realisierung des Geistes im Dasein".*I.1 Als primäre Sphäre erscheint somit der Geist, dem gegenüber die Weltgeschichte eine sekundäre, eine abgeleitete Kategorie ist:
"Zuerst müssen wir beachten, daß unser Gegenstand, die Weltgeschichte, auf dem geistigen Boden vorgeht. Welt begreift die physische und psychische Natur in sich; die physische Natur greift gleichfalls in die Weltgeschichte ein. [...] Aber der Geist und der Verlauf seiner Entwicklung ist das Substantielle." (Hegel)*I.2
Wenden wir uns der Substanz der Weltgeschichte zu, so ist Klarheit darüber zu verschaffen, was der Begriff Geist in der Hegelschen

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Philosophie verkörpert. Es ist für Hegel "eine Erkenntnis der spekulativen Philosophie, daß die Freiheit das einzige Wahrhafte des Geistes sei".*I.3 "Die Materie hat ihre Substanz außer ihr; der Geist ist das Bei-sich-selbst-sein".*I.4 Die bestimmenden Merkmale des Geistes sind einmal die Kategorie Freiheit, zum anderen die Kategorie Bei-sich-selbst-Sein. Es ist ein konstitutives Merkmal des Geistes, daß er seine Bestimmung in der Freiheit finde, zugleich, daß er bei sich selbst sei, daß er eins sei und bei allen Abschichtungen seines Wesens nicht in verschiedenerlei Sphären zerfalle. Und es ist weiter zu zeigen, daß dieses Bei-sich-selbst-Sein des Geistes unzertrennlich ist von der Freiheit als seinem "einzigen Wahrhaften". Damit ergibt sich die Notwendigkeit, die Kategorie Freiheit näher zu bestimmen. Der Geist als Träger der Freiheit ist nicht als substantiell Statisches zu fassen, sondern in seiner Dynamik, in seinen Bewegungszuständen, kurz in seiner Entwicklung zu begreifen; die Eigentümlichkeit der Entwicklung des Geistes erfährt man als durch sein Wesen bestimmt. Entwicklung ist für den Geist etwas Wesensverschiedenes von der Entwicklung des Nichtgeistigen. "Um zu fassen, was Entwickeln ist", sagt Hegel, "müssen zweierlei - sozusagen - Zustände unterschieden werden. Der eine ist das, was als Anlage, Vermögen, das Ansichsein (wie ich es nenne), Potentia, Dynamis bekannt ist. Die zweite Bestimmung ist das Fürsichsein, die Wirklichkeit (actus, Energeia)".*I.5 Die Potenz, die Anlage, das Material der dynamischen Bewegung ist nur an sich. Damit diese Potenz aus sich heraustrete, muß sie Bewegung, muß sie Tätigkeit, muß sie Bewußtes sein. "Was heißt dies näher? Was an sich ist, muß dem Menschen zum Gegenstand werden, zum Bewußtsein kommen; so wird es für den Menschen. Was ihm Gegenstand, ist dasselbe, was er an sich ist; und so wird der Mensch erst für sich selbst, ist verdoppelt, ist erhalten, nicht ein anderer geworden. Der Mensch ist denkend, und dann denkt er den Gedanken.."*I.6 Es ist dies ein Auseinandertreten der Substanz. Sie wird eine andere, ohne aufzuhören, sie selbst zu sein. Zu dem ersten Zustand der Ruhe, der potentiellen Bewegung, tritt als Merkmal jeder Entwicklung der zweite Zustand, das Aussichheraustreten der Substanz, ihre Auseinanderlegung, das, was ihre Bewegung ausmacht, der energetische Zustand, sofern von Zustand hier die Rede sein kann. Und hier zeigt sich

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das Verschiedenartige der Bewegung der Entwicklung für Geist und Nichtgeistiges:
"Die Frucht, der Same wird nicht für den ersten Keim, sondern nur für uns; beim Geiste ist beides nicht nur an sich dieselbe Natur, sondern es ist ein Füreinander - und eben damit ein Fürsichsein. Das, für welches das andere ist, ist dasselbe als das andere. Nur dadurch ist der Geist bei sich selbst in seinem anderen. Die Entwicklung des Geistes ist Herausgehen, Sichauseinanderlegen, und zugleich Zusichkommen…" (Hegel)*I.7
In dieser Entwicklung zum Zusichselbstkommen liegt eine qualitative Veränderung, eine neue spezifische Differenz. Der Geist im Zustande potentieller Bewegung ist ein anderer als in der Tätigkeit, denn hier ist er Zusichkommen, Selbstbewußtsein:
"Zweierlei ist zu unterscheiden im Bewußtsein, erstens, daß ich weiß, und zweitens, was ich weiß. Beim Selbstbewußtsein fällt beides zusammen, denn der Geist weiß sich selbst, er ist das Beurteilen seiner eigenen Natur, und er ist zugleich die Tätigkeit, zu sich zu kommen und so sich hervorzubringen, sich zu dem zu machen, was er an sich ist" (Hegel)*I.8
Um zu seinem Ansich zu kommen, muß der Geist Selbstbewußtsein werden, tätiger, erkennender Geist sein.
"Dies Beisichsein des Geistes, dies Zusichselbstkommen desselben kann als sein höchstes, absolutes Ziel ausgesprochen werden. Nur dies will er, und nichts anderes. Alles was im Himmel und auf Erden geschieht [.. .], strebt nur danach hin, daß der Geist sich erkenne, sich sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. Er ist Verdoppelung, Entfremdung, aber um sich selbst finden zu können, um zu sich selbst kommen zu können. Nur dies ist Freiheit; frei ist, was nicht auf ein anderes sich bezieht, nicht von ihm abhängig ist. Der Geist, indem er zu sich selbst kommt, erreicht dies, freier zu sein." (Hegel)*I.9
"Dies eben ist die Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein anderes, das ich nicht bin; ich kann nicht sein ohne ein Äußeres; frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin. Dieses Beisichselbstsein des Geistes ist Selbstbewußtsein, das Bewußtsein von sich selbst." (Hegel)*I.10
Hier also haben wir alle konstitutiven Merkmale der primären Kategorien, auf denen das Gebäude der Hegelschen Philosophie basiert. Freiheit erscheint als konstitutives Merkmal des Geistes. Freiheit aber ihrerseits, als Freiheit des Geistes gefaßt, auf den Geist bezogen, ist nichts anderes als das Beisichselbstsein des Geistes. Geist und Freiheit erweisen sich als einander wechselseitig zugeordnete Kategorien, die nicht ohne einander und nicht außer einander begrifflich gefaßt, das heißt, gedacht werden können. Geist ist nur dann, wenn er Freiheit ist; Freiheit ist nur dann, wenn Geist im Zusichselbstkommen ist. Das

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Zusichselbstkommen des Geistes ist aber sein Fürsichsein, ohne das sein Ansichsein nicht möglich ist. Erst die Korollarbeziehung zwischen Geist und Freiheit drückt das Wesen der Sphäre des Geistes in der Hegelschen Philosophie aus. Geist, dessen "einziges Wahrhaftes" die Freiheit ist, ist für Hegel das Einheitliche, ist das, was den ganzen Rahmen der Erfahrung füllt, was nichts anderes neben sich duldet, was nur als einheitlicher Gehalt alles Seienden gedacht werden kann; denn Beisichselbstsein des Geistes ist nur begreiflich, wenn nichts außer ihm ist, wenn er alles ist. Die Sphäre des Geistigen erweist sich als das einzig Wirkliche, als die Realität schlechthin. Übertragen wir die Kategorie Geist aus der Sphäre des gedachten Seins in die Sphäre der empirischen Geschichte, so ist Geist für Geschichte die Realität. Die zentrale Kategorie der Hegelschen Philosophie - "Geist" - erscheint in Ansehung des geschichtlichen Prozesses als seine einzige, einheitliche, ihn beherrschende und seine Substanz bildende Realität. Der geschichtliche Prozeß kann nunmehr nur als einheitlicher, nur als ein in sich selbst geschlossener gefaßt werden, für den es keine Außensphären gibt, der also nur einer Innenbetrachtung, einer immanenten Auslegung zugänglich ist. Und es ist das Große und Gewaltige der Hegelschen Philosophie, daß sie das einheitliche Prinzip ihrer Betrachtung der gedachten Seinswelt erstmalig in die Geschichte, also in die nicht bloß gedachte, sondern auch wahrnehmbare Welt einführt, die Weltgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Totalität, einer unauflöslichen Ganzheit, begreifen lehrt.
Erst von diesem Standort aus wird eine Konkretisierung der Kategorie Geschichte möglich. "Nach dieser abstrakten Bestimmung kann von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet, und wie der Keim die ganze Natur des Baumes, den Geschmack, die Form der Früchte in sich trägt, so enthalten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtualiter [d. h. in der Anlage - A.G.] die ganze Geschichte.".*I.11 Als die Darstellung des Geistes ist aber die Geschichte in dem Maße, wie der Geist sich in Entwicklung befindet - und dies, die Entwicklung des Geistes, ist es ja erst, die aus der potentiellen Anlage des geschichtlichen Materials Geschichte macht -‚ ein fortschreitender Prozeß. "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben".*I.12 "Die

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Weltgeschichte, wissen wir, ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt"
.*I.13 Indes haben wir ja in der Geschichte zweierlei zu unterscheiden, den Geist als Potentia, als Anlage der geschichtlichen Entwicklung einerseits und diese Entwicklung selbst anderseits; wie Hegel sagt: das Ansichsein und das Fürsichsein des Geistes. Für die Klarlegung der geschichtlichen Kategorien ist es aber unerläßlich, von vornherein im Begriffe der Entwicklung auch schon die Aussage darüber zu haben, was denn das Substantielle und was das Tätige der geschichtlichen Entwicklung ist. Welches ist die Substanz der Geschichte und welches ihr abgeleitetes Wirklichwerden, ihr Hinaustreten an die Oberfläche der empirisch sichtbaren Welt der Erscheinungen, an die Oberfläche jenes Materials, das erst soziologischer Erfassung erreichbar wird?
"In die Existenz treten ist Veränderung, und in demselben eins und dasselbe bleiben. Das Ansich regiert den Verlauf." (Hegel)*I.14
"[…] die Philosophie, als sich mit dem Wahren beschäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu tun. Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d. h. er ist nicht vorbei und ist nicht noch nicht, sondern ist wesentlich itzt. So ist hiermit schon gesagt, daß die gegenwärtige Gestalt des Geistes alle früheren Stufen in sich begreift. Diese haben sich zwar als selbständig nacheinander ausgebildet; was aber der Geist ist, ist er an sich immer gewesen, der Unterschied ist nur die Entwicklung dieses Ansich." (Hegel)*I.15
Es ist die Substanz der geschichtlichen Entwicklung also in dem Ansich des Geistes gegeben, in der bloßen Setzung der geschichtlichen Realität. Dies aber ist das zweite Charakteristikum der Geschichtsauffassung der Hegelschen Philosophie, das dem Begreifen der Geschichte als einheitlichen Prozesses zur Seite tritt: daß nämlich Geschichte nichts anderes ist als die Auseinanderlegung ihrer immanenten Realität, die Selbstentwicklung der geschichtlichen Substanz, unter dem Gesichtswinkel eines Ganzheitsprozesses gesehen. Damit erhält aber die Betrachtung der

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Geschichte eine Richtung, die in die Ebene der Soziologie hinausführt. Denn es ist hier das empirische Material der Geschichte als etwas Notwendiges, in einheitlichem Zusammenhang Stehendes zu begreifen, und in der Empirie des geschichtlichen Prozesses, der ein gesellschaftlicher ist, kann dieser Zusammenhang nicht anders aufgefunden und dargelegt werden, als indem die ordnenden Kategorien, die regulativen Triebkräfte des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen aufgewiesen und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit als miteinander notwendig verknüpft offenbart werden. Das aber gehört ausschließlich zum Gegenstande der Soziologie.

Die Geschichtsbetrachtung der Hegelschen Philosophie ist mithin ihrer Anlage nach eine immanent-soziologische Betrachtungsweise; ihr Ausgangspunkt bedingt die soziologische Formung der entscheidenden geschichtlichen Kategorie. Die Substanz in der Geschichte ist zugleich ihre einzige Realität und ihre Empirie, zugleich Welt der letzten Wirklichkeit und Welt des äußerlich Wahrnehmbaren, der Erscheinungen. Sie kann in ihrer erfahrungsmäßigen Erscheinungsform, die die Erscheinungsform des Sozialen ist, keiner anderen Betrachtung erschlossen werden als der soziologischen und wird somit in ihrer substantiellen Beschaffenheit, die bei Hegel noch aus der Sphäre der Ontologie, der Lehre vom gedachten Sein, hergenommen ist, aus dem Seinsbereich des Sozialen ebenfalls nicht herausgebrochen werden können. Damit die Substanz der Geschichte in die Sphäre der Erfahrung hinübertritt, damit sie im Prozeß ihrer Entwicklung sichtbar, das heißt damit sie Geschichte wird, muß sie über Mittel verfügen, mit deren Hilfe sie sich realisiert, und über ein Material, an dem sie ihre Realisierung vornimmt. Wiederum wird dabei die weitere Betrachtung zeigen müssen, daß sowohl Mittel als auch Material der geschichtlichen Entwicklung Objekte soziologischer Betrachtung sind:
"Wenn die Freiheit als solches zunächst der innere Begriff ist, so sind die Mittel dagegen ein Äußerliches, das Erscheinende, das in der Geschichte unmittelbar vor die Augen tritt und sich darstellt. Die nächste Ansicht der Geschichte überzeugt uns, daß die Handlungen der Menschen von ihren Bedürfnissen, ihren Leidenschaften, ihren Interessen, ihren Charakteren und Talenten ausgehen, und zwar so, daß es in diesem Schauspiel der Tätigkeit nur die Bedürfnisse, Leidenschaften, Interessen sind, welche als die Triebfedern erscheinen und als das Hauptwirksame vorkommen [...] Die Leidenschaften [...], die Zwecke des partikularen Interesses, die Befriedigung der Selbstsucht sind das Gewaltigste; sie haben ihre Macht darin, daß sie keine der Schranken achten, welche das Recht und die Moralität ihnen setzen wollen, und daß diese Naturgewalten dem Menschen unmittelbar näher liegen als die künstliche und langwierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung, zum Rechte und zur Moralität." (Hegel)*I.16

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Damit der Geist in der Weltgeschichte sich entfalten könne, damit er in den Zustand der Tätigkeit übergehe, muß die Substanz der Geschichte in die Welt der Erfahrung hinübertreten, und hier sind es die Menschen, die Einzelwesen, deren Handlungen das In-Erscheinung-Treten der Geschichte vermitteln. Es muß, wie Hegel sagt, "ein zweites Moment für die Wirklichkeit hinzukommen, und dies ist die Betätigung, Verwirklichung, und deren Prinzip ist der Wille, die Tätigkeit des Menschen überhaupt. Es ist nur durch diese Tätigkeit, daß jener Begriff sowie die an sich seienden Bestimmungen realisiert, verwirklicht werden, denn sie gelten nicht unmittelbar durch sich selbst. Die Tätigkeit, welche sie ins Werk und Dasein setzt, ist des Menschen Bedürfnis, Trieb, Neigung und Leidenschaft".*I.17 Nun besteht kein Zweifel darüber, daß diese Äußerungsformen der menschlichen Tätigkeit nur innerhalb der Gesellschaft und nur als gesellschaftliche möglich sind. Man mag sie einer psychologischen Betrachtungsweise unterziehen, man mag die psychischen Mechanismen dieser Tätigkeit untersuchen - das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, sie in ihrer charakteristischen Gestaltung als einer gesellschaftlichen Tätigkeit in ihrem durchgängigen Zusammenhang aufzuweisen, sie zum Gegenstand der Soziologie zu machen. Dies ist denn auch der tragende Gedanke der Hegelschen Begriffsbestimmung der Mittel der Realisierung der geschichtlichen Substanz. Der Begriff Leidenschaft ist in diesem Sinne viel weitergehend, als wenn er psychologisch gefaßt würde:
"Leidenschaft ist auch nicht ganz das passende Wort für das, was ich hier ausdrücken will,"
sagt Hegel:
"Ich verstehe hier nämlich überhaupt die Tätigkeit des Menschen aus partikularen Interessen, aus speziellen Zwecken, oder wenn man will, selbstsüchtigen Absichten, und zwar so, daß sie in diese Zwecke die ganze Energie ihres Wollens und Charakters legen, ihnen anderes, das auch Zweck sein kann, oder vielmehr alles andere aufopfern. Dieser partikulare Inhalt ist so eins mit dem Willen des Menschen, daß er die ganze Bestimmtheit desselben ausmacht und untrennbar von ihm ist; er ist dadurch das, was er ist. Denn das Individuum ist ein solches, das da ist, nicht Mensch überhaupt, denn er existiert nicht, sondern ein bestimmter. [. . .] Ich werde also Leidenschaft sagen und somit die partikulare Bestimmtheit des Charakters verstehen, insofern diese Bestimmtheiten des Wollens nicht einen privaten Inhalt nur haben, sondern das Treibende und Wirkende allgemeiner Taten sind." (Hegel)*I.18
So wird die Tätigkeit der Menschen, sofern sie geschichtlich relevant ist, als Ausdruck einer allseitigen Bedingtheit des einzelmenschlichen

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Daseins begriffen. Der Mensch ist kein einzelner, kein Atom, kein Robinson, der außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhanges gedacht werden könnte. Vielmehr wird das, was in den Bestimmtheit seines Wollens auf gesellschaftlichen Gehalt nicht mehr reduziert werden kann, schon in der methodologischen Voraussetzung ausgeschaltet, und nur das als erheblich, als relevant unterstellt, was "das Treibende und Wirkende allgemeiner Taten ist". Das besagt: die Vermittlung der Realisierung der geschichtlichen Substanz in der empirischen Material des Geschichtsverlaufes durch die Tätigkeit des Menschen kann nur insoweit unter irgendwelche erklärenden Kategorien als geschichtlich relevant subsumiert werden, als diese Tätigkeit die Tätigkeit gesellschaftlich bedingter Menschen ist. Wir bekommen hier als für die Empirie des Geschichtsverlaufes grundlegende Kategorie die Kategorie vom vergesellschafteten Menschen, die erst später von der marxistischen Geschichtsauffassung von allem staatsmetaphysischer Dunst befreit und sowohl für die geschichtliche als auch für die soziologische Forschung fruchtbar gemacht worden ist. Der vergesellschaftete Mensch tritt in der Hegelschen Geschichtsbetrachtung bereits in der zwiefachen Bestimmung seines vergesellschafteten Wesens auf: er ist sowohl vergesellschaftet durch den sozialen Zusammenhang, in dem die Bestimmtheiten seines Wollens sich manifestieren, als auch in der durchgängigen, sozusagen transzendenten ("jenseitigen") Bedingtheit durch seine Eigenschaft als Mittel der Realisierung der geschichtlichen Substanz. Die Vergesellschaftung ist ein Tatbestand, der das Dasein des subjektiven einzelnen erst zum Faktor des geschichtlichen Prozesses macht. Nicht der subjektive einzelne in seiner absoluten Vereinzelung, sondern in der Bezogenheit seiner Vereinzelung auf das Dasein von Nebenmenschen, nur der einzelne, dessen "partikulare Bestimmtheit" sich von der partikularen Bestimmtheit anderer einzelner abgrenzt, wird als Vermittler der Realisierung der geschichtlichen Substanz angesehen. Für die Einordnung der Kategorie der Vergesellschaftung in die Hegelsche Geschichtsdeutung ist es dabei nur akzessorisches, äußerlich hinzutretendes Moment, daß die Tätigkeit der Menschen als geschichtlich relevante nur an den "geschichtlichen Menschen", an den "weltgeschichtlichen Individuen"*I.19 soll studiert werden können. Denn die

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Begründung dieser Auszeichnung "großer Menschen" ist die, daß in ihnen das, was von Hegel als "Leidenschaft" gefaßt worden ist, am stärksten hervorbricht, weil sie an keinerlei Schranken sich binden lassen und "ganz rücksichtslos dem einen Zwecke angehören".*I.20 Das ist, wie gesagt, ein äußeres Ausleseprinzip, und es könnte im Rahmen der gleichen Kategorienlehre ebensogut das Merkmal des höchsten und größten Durchbruches der geschichtlichen Substanz an anderen Einzelindividuen aufgesucht werden, denen das Prädikat "großer Menschen" nicht zukäme. Eine Streitfrage, die in der Ebene empirischer Psychologie, nicht in der der soziologischen Kategorienlehre liegt.

Die Substanz der Weltgeschichte realisiert sich in der Empirie des geschichtlichen Prozesses. Diese Empirie ist aber die gesellschaftliche Wirklichkeit des menschlichen Daseins. Die Idee als das absolute Seiende transformiert sich in ein empirisches Phänomen, findet ihre Verwirklichung in der Welt der Erscheinungen. Das empirische Nebeneinander und Durcheinander der menschlichen Tätigkeiten, das scheinbar ungeordnet, weder kausal noch funktionell miteinander verknüpft, geschweige denn gegenseitig bedingt und sich gegenseitig bedingend ist, erhält einen notwendigen Inhalt, wird als notwendig hervorgebracht zu einem sinnvollen, indem die Substanz selbst der Geschichte sich in dieser sozialen Empirie verwirklicht. Das, was zufällig erscheint, tritt als der Ausfluß eines immanenten Seinszusammenhanges an die Oberfläche, so daß auch die Empirie ihre geschichtliche Relevanz, mehr noch, einen Zusammenhang mit dem absoluten Sein des Geistes erhält. Nun ist aber dieses Hinübertreten der Substanz in die soziale Empirie als solches und namentlich in der Art, wie es zustande kommt, nicht als notwendig einzusehen. Es ist, möchte man sagen, ein Streich, den der Geist sich selbst spielt, indem er sein vernünftiges und notwendiges Existenzmerkmal in die Empirie überträgt, die ihn nichts anginge.
"Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen." (Hegel)*I.21

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Damit aber die List der Vernunft Wirklichkeit werde, genügt es nicht, daß sie in dem gesellschaftlichen Dasein der Menschen die Mittel vorfinde, deren sie zu ihrer Realisierung bedarf. Es muß auch noch ein äußerer Rahmen vorhanden sein, durch den das zusammengehalten werde, was in der Tätigkeit der Menschen aus Anlage ungeordnet und disjunkt ist, was als Äußerliches und Zufälliges erscheint, in Wirklichkeit jedoch durch die Realisierung der geschichtlichen Substanz in ihm unter die Kategorie der Notwendigkeit subsumiert wird. Es bedarf einer Rahmensphäre, in der das Ins-Dasein-Treten des Geistes in der menschlichen Gesellschaft eine bestimmte, notwendige Gestalt erhalte.
"Es ist von Mitteln die Rede gewesen, aber bei der Ausführung eines subjektiven endlichen Zweckes haben wir auch noch das Moment eines Materials, was für die Verwirklichung derselben vorhanden oder herbeigeschafft werden muß. So wäre die Frage: welches ist das Material, in welchem der vernünftige Endzweck ausgeführt wird? Es ist zunächst das Subjekt wiederum selbst, die Bedürfnisse der Menschen, die Subjektivität überhaupt. Im menschlichen Wissen und Wollen, als im Material, kommt das Vernünftige zu seiner Existenz" (Hegel)*I.22
Wiederum ist also auch das Material, an dem die Realisierung der geschichtlichen Substanz verwirklicht wird, gesellschaftliches Material, Gegenstand der Soziologie. Dieses Material ist aber vorerst ungeformt, ungeregelt; es verlangt eine ihrem Anschein nach äußere Ordnung und Regelung, und diese Ordnung und Regelung als scheinbar Äußerliches ist die Norm, in der das Allgemeine das Einzelmenschliche in sich aufnimmt und es sich unterordnet.
"Der subjektive Wille ist betrachtet worden, wie er einen Zweck hat, welcher die Wahrheit einer Wirklichkeit ist. [...] Als subjektiver Wille in beschränkten Leidenschaften ist er abhängig, und seine besonderen Zwecke findet er nur innerhalb dieser Abhängigkeit zu befriedigen. Aber der subjektive Wille hat auch ein substantielles Leben, eine Wirklichkeit, in der er sich im wesentlichen bewegt und das Wesentliche zum Zwecke seines Daseins hat. Dieses Wesentliche ist selbst die Vereinigung des subjektiven und des vernünftigen Willens: es ist das sittliche Ganze - der Staat, welcher die Wirklichkeit ist, worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist." (Hegel)*I.23

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Das ist nun der Ort, an dem der Staat als die Krönung der Hegelschen Philosophie und als zentrale Kategorie ihrer Soziologie sichtbar wird. Der Staat ist jener äußere Rahmen, in dem die subjektiven Zwecke der einzelnen aufgehoben werden, in dem sie zugleich als Funktionen des Allgemeinen erscheinen. Es ist hieraus ersichtlich, daß auch der Staat in dieser seiner Bestimmung in der Totalität der Hegelschen Geschichtsbetrachtung zuvörderst als eine soziologische Kategorie auftritt. Er erscheint zunächst als die Sphäre der normativen Existenz jener Vereinigung von vernünftigem Zweck und subjektivem Einzelzweck, von geschichtlicher Realität und gesellschaftlicher Empirie. In soziologische Betrachtungsweise unter Ausschaltung der spezifischen Elemente der Hegelschen Seinslehre übersetzt, würde das heißen, daß der Staat jene Organisation des gesellschaftlichen Lebens ist, die die Unterordnung der einzelnen Interessen, Bedürfnisse und Leidenschaften, um hier noch in Hegelschen Termini zu reden, unter das Allgemeininteresse, mit anderen Worten, unter das Interesse des gesellschaftlichen Ganzen zu besorgen hat. Diese Bestimmung des Wesens des Staates ist somit eine rein formale und sagt nichts darüber aus, wodurch der Staat diese Mission der Überbrückung der gesellschaftlichen Gegensätze in den Schranken einer gesellschaftlichen Einheit erhält und welches die Mittel sind, die ihm zu ihrer Verwirklichung (wiederum soziologisch gesehen) zur Verfügung stehen. Die inhaltliche Bestimmtheit des Staatsbegriffes vermittelt erst seine Beziehung auf die geschichtliche Realität. Er erscheint bei Hegel als Daseinsform des Geistes, womit im Gesamtzusammenhang des Hegelschen Denkens ihm die höchste, sublimste Stelle zugewiesen ist. Für eine soziologische Betrachtungsweise wird bei der Auflösung der Hegelschen Staatsidee in ihre soziologischen Bestandteile ins Gewicht fallen, daß, wie oben dargestellt worden ist, die Substanz

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des Geistes (zugleich auch die Substanz der Weltgeschichte) doch nicht mehr ist als die Einheitlichkeit und Immanenz der geschichtlichen Realität, die unter dem Gesichtspunkte des Ganzen gefaßt wird. Es fehlt in dieser ersten Ableitung der Kategorie Staat das eigentlich Erfüllende, der soziale Inhalt, es bleibt nur der äußere Rahmen, die Form, die ihre philosophische Herleitung aus der Seinsweise der geschichtlichen Substanz zum erstenmal einer soziologisch-genetischen Erklärung auch des Normativen im Staate zuführt.

Es wird in der weiteren Darstellung näher darauf einzugehen sein, wie sich der Staat im Rahmen dieser geschichtsphilosophischen Betrachtung in den spezifizierten Äußerungen seines Wesens zur Geltung bringt. An dieser Stelle ist zusammenfassend festzuhalten, daß aus der Totalität der Hegelschen Betrachtung weder die immanente Notwendigkeit der Umsetzung der geschichtlichen Realität in das Empirische des sozialen Daseins als vernünftig geworden hergeleitet werden kann, so daß an die Stelle eines notwendigen Zusammenhanges die List der Vernunft tritt, noch die inhaltliche Erfüllung des Staates mit einem konkreten sozialen Inhalt sich ergibt, wiewohl der Staat in seiner ganzen Wesensbestimmtheit als soziales Phänomen erscheint und als solches zum Gegenstand der Hegelschen Soziologie, der Lehre vom objektiven Geist, wird. Daß der Staat aber ein soziales Phänomen ist, ja, im Zusammenhange der Hegelschen Betrachtung nichts anderes sein kann, geht daraus hervor, daß er, wie gezeigt worden ist, bestimmt wird als der äußere Rahmen, in dem die Realisierung des Ansich der geschichtlichen Wirklichkeit durch die Mittel der einzelmenschlichen Tätigkeit an dem Material des einzelmenschlichen Daseins vermittelt wird. Die Mittel der Realisierung der geschichtlichen Substanz sind Mittel der gesellschaftlichen Sphäre. Das Material der Realisierung ist Material der gesellschaftlichen Sphäre. Und die geschichtliche Realität selbst, die Hegel als das einzige Erfüllende alles Seins gezeigt hat, wird in soziologischer Betrachtung ihrerseits auch erscheinen müssen als Realität der gesellschaftlichen Sphäre. Die große wissenschaftliche Entdeckung der Hegelschen Philosophie ist, daß die geschichtliche Realität eins ist und daß nichts ist außer ihr. Die Empirie dieser Realität indes ist das Dasein der Menschen. Und hier ist es eine wissenschaftliche Entdeckung des Hegelschülers Marx, daß das Dasein der Menschen eins ist in seiner gesellschaftlichen Totalität, und daß für menschliche Erfahrung nichts ist außerhalb der Gesellschaft. Unter diesem Aspekt gesehen erscheinen auch die geschichtliche Realität bei Hegel als Realität der menschlichen Vergesellschaftung und die Kategorie Staat als eine gesellschaftswissen-

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schaftliche Kategorie. Freilich ist damit der Staat, obschon er als soziales Phänomen erscheint, noch nicht als geschichtlich gewordenes, in seinem Werden sozial bestimmtes Phänomen erkannt und seine gesellschaftliche Bestimmtheit weniger eine materiale, weniger eine inhaltliche, als eine formal-kategorielle.

II. Hegels Staatssoziologie

Die Lehre vom "objektiven Geist"

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In der Lehre vom objektiven Geist findet der soziologische Gehalt der Hegelschen Philosophie seine Konkretisierung und Verdichtung. Während der subjektive Geist, der Geist, "in seiner Idealität sich entwickelnd".*II.1 ,der erkennende Geist ist, seine Sphäre also im wesentlichen eine Phänomenologie (Lehre von den Erscheinungen) des Bewußtseins, des erkennenden Denkens ist und in phänomenologischer Ausrichtung die Gebiete der Erkenntniskritik, der Erkenntnislehre und der empirischen Psychologie umfaßt, und der absolute Geist das Wissen der absoluten Idee*II.1 ist, der Begriff des Geistes, somit der Urgrund des Seins, seine Sphäre also vornehmlich spekulative Ontologie (Lehre vom Sein) ist, ist der objektive Geist die Verwirklichung der absoluten Idee in der Empirie der geschichtlichen Welt, d. h., in der Empirie der gesellschaftlichen Erscheinungen, seine Sphäre also die Sphäre des Sozialen und die Lehre vom objektiven Geist die eigentliche soziologische Disziplin im Rahmen der Hegelschen Philosophie. "Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr." Die Sphäre des objektiven Geistes ist demnach jene, in der die absolute Idee sich äußerlich manifestiert, auf die profane Erde herniederkommt, das Gewand der Sozialen Empirie zu ihrer äußeren Erscheinungsform macht. Der objektive Geist ist die unendliche Substanz der Weltgeschichte, wie sie in die endliche Existenz geschichtlicher Phänomene eingeht:
"Der freie Wille hat unmittelbar zunächst die Unterschiede an ihm, daß die Freiheit seine innere Bestimmung und Zweck ist, und sich auf eine äußerliche vorgefundene Objektivität bezieht, welche sich spaltet - in das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse, - in die äußeren Naturdinge, die für das Bewußtsein sind, - und in das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen, welche ein Selbstbewußtsein ihrer als verschiedener und partikulärer sind; - diese Seite macht das äußerliche Material für das Dasein des Willens aus." (Hegel)*II.2

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Die soziale Sphäre, in der das innere Dasein des Geistes seine äußerliche Objektwirklichkeit findet, umfaßt die beiden Momente der menschlichen Vergesellschaftung wie bereits im ersten Kapitel angedeutet: sowohl die materielle Bedingtheit gesellschaftlicher Tätigkeit durch die "partikulären Bedürfnisse", Marx würde sagen, durch den Produktionsprozeß des materiellen Lebens, als auch die formalpsychische Bezogenheit (ein Terminus von Max Adler) der Einzelmenschen in der formalen Beschaffenheit ihres vergesellschafteten Bewußtseins auf das Dasein von "Nebenmenschen", "ein Selbstbewußtsein ihrer als verschiedener und partikulärer". In der gesellschaftlichen Empirie hat daher die Lehre vom objektiven Geist im ersten Betracht die Äußerlichkeit des Seins der Gesellschaft zu untersuchen, die Tätigkeit der einzelnen, wie sie sich auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Ganzen abspielt, das Handeln und Wollen der Menschen, das, was bei Hegel unter die Kategorie des Willens subsumiert wird.
"Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, so daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt, und er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begriff hiermit zur Idee vollendet sei. Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheits-Bestimmungen, und deren erscheinender Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d. i. ihr Gelten im Bewußtsein ist." (Hegel)*II.3
Das System der soziologischen Kategorien der Hegelschen Lehre vom objektiven Geist tritt hier in entfalteter Gestalt auf. Die gesellschaftliche Empirie erhält das Prädikat der Notwendigkeit nicht bloß durch ihren substantiellen Zusammenhang mit dem absoluten Geist (als Realisierung des Geistes in der weltgeschichtlichen Sphäre der Erscheinungen), sondern durch die Form, in der sie ist, in der die "Freiheit", d. h. das Einheitliche und Erfüllende der geschichtlichen Substanz, sich in der Welt der Erscheinungen schlechterdings zu manifestieren vermag. Die Notwendigkeit, die bei der ersten Ableitung des Sinnzusammenhanges der gesellschaftlichen Empirie aus der Bezogenheit auf die geschichtliche Substanz eine sozusagen transzendente (für die Empirie) gewesen ist, wird jetzt für die gesellschaftliche Empirie selbst zu einer substantiellen, zu einer immanenten, der gesellschaftlichen Erscheinungswelt innewohnenden. Welches die Konkretisierung dieser "Form von Notwendigkeit" in dem "System der Freiheits-Bestimmungen" ist, ergibt sich aus der weiteren Ableitung der soziologischen Kategorien in der Lehre vom Staat. Zugleich aber ist die Äußerlichkeit dieser "Form von

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Notwendigkeit"
gekennzeichnet durch die Phänomene der gesellschaftlichen Welt, ins Soziologische übersetzt: durch die sozialen Bindungen, die das zementierende Element des gesellschaftlichen Daseins der Menschen sind und als das "Gelten" des sozialen Zusammenhangs ins Bewußtsein der Menschen treten. An dieser Stelle ersteht das entscheidende Problem der Inkarnation der geschichtlichen Substanz, der geschichtsphilosophischen Kategorien des Hegelschen Denkens, in der Subjektivität der nur im gesellschaftlichen Zusammenhang sich uns darbietenden Tätigkeit der einzelnen. Die Verwirklichung der geschichtlichen Substanz, die Entfaltung des Geistes, seine Realität in der Erscheinungswelt des Gesellschaftlichen, die in der geschichtsphilosophischen Betrachtung durch die List der Vernunft vermittelt erscheint, objektiviert sich nunmehr in der Sphäre der soziologischen Betrachtung in dem subjektiven Einzelwillen:
"Diese Einheit des vernünftigen Willens mit dem einzelnen Willen, welcher das unmittelbare und eigentümliche Element der Betätigung des ersteren ist, macht die einfache Wirklichkeit der Freiheit aus. Da sie und ihr Inhalt dem Denken angehört, und das an sich Allgemeine ist, so hat der Inhalt seine wahrhafte Bestimmtheit nur in der Form der Allgemeinheit. In dieser für das Bewußtsein der Intelligenz gesetzt, mit der Bestimmung als geltende Macht, ist er das Gesetz; - befreit von der Unreinheit und Zufälligkeit, die er im praktischen Gefühle sowie im Triebe hat, und gleichfalls nicht mehr in deren Form, sondern in seiner Allgemeinheit dem subjektiven Willen eingebildet, als dessen Gewohnheit, Sinnesart und Charakter, ist er als Sitte." (Hegel)*II.4
In dem Allgemeinen ist die Verbundenheit des einzelnen Willens mit der geschichtlichen Substanz gegeben. Dies Allgemeine, wir sagten es bereits, ist für die soziologische Betrachtung das gesellschaftliche Ganze. Indem der einzelne Wille in das gesellschaftliche Ganze eingeht, indem er ein gesellschaftliches Element ist, in dem Allgemeinen aufgeht, ist er geschichtlich bedeutsam. Die Kategorien, die sein Eingehen in das Allgemeine vermitteln, sind die der äußeren Regelung des gesellschaftlichen Ganzen, Gesetz, Staat. Die konstitutive Erscheinungsform dieser normativen Kategorien ist das Recht, ohne das eine Aufhebung der Einzelheit des subjektiven Willens im gesellschaftlichen Ganzen nicht möglich ist. Die gesellschaftliche Welt als Realität tritt nur im Rahmen des Staates, durch Recht gebunden, auf.
"Diese Realität überhaupt, als Dasein des freien Willens ist das Recht, welches nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist. Diese Bestimmungen sind in Beziehung auf den subjektiven Willen, in welchem sie als allgemeine ihr Dasein haben sollen und allein haben können, seine Pflichten, wie sie als Gewohnheit und Sinnesart in demselben Sitte sind. Dasselbe, [27] was ein Recht ist, ist auch eine Pflicht, und was eine Pflicht ist, ist auch ein Recht. Denn ein Dasein ist ein Recht nur auf dem Grund des freien substantiellen Willens; dieser selbe Inhalt ist es, der in Beziehung auf den als subjektiv und einzeln sich unterscheidenden Willen Pflicht ist. Die Endlichkeit des objektiven Willens ist insofern der Schein des Unterschieds der Rechte und der Pflichten." (Hegel)*II.5
Der freie Wille, der für die soziologische Betrachtung nichts anderes ist als die Äußerungsform jeder gesellschaftlichen Tätigkeit, die aktuale Gestalt gesellschaftlichen Daseins, tritt in der Lehre vom objektiven Geist in drei wesentlich unterschiedenen Modifikationen*II.6 auf. Er ist das Recht der Person als Eigentumsrecht, das Recht des subjektiven Willens als regulative Idee der Moralität und schließlich der substantielle Wille als die verbindende Wirklichkeit von Subjekt und substantieller geschichtlicher Notwendigkeit in der Sittlichkeit, d. h. in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat. Während das Recht der Person die eigentliche Urform des Rechtes*II.7 ist, die Urgestalt, in der das

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Recht als Norm schlechthin auftritt, kann die Kategorie der Moralität in der soziologischen Betrachtung als Ideologie im engeren Sinne gewertet werden. Der "substantielle Wille" ist dann der Staat als Norm, der Staat als die eigentliche Verkörperung der sittlichen Idee in der Form des dem einzelnen Bewußtsein als Primäres auferlegten Allgemeinen.

Bei der Betrachtung des Staates als Norm, die es mit sich bringt, daß "alle Zwecke der Gesellschaft und des Staates die eigenen der Privaten"*II.8 sind, ist in unserem Zusammenhang davon abzusehen, daß der Staat bei Hegel in den verschiedenen Perioden des Werdens seiner Philosophie eine verschiedene Bestimmung in Ansehung der Sphäre des Sollens hat. Nur das Wesen des Staates als das, was er aus seinem "Begriffe" heraus geworden ist, ist der Gegenstand der Untersuchung, wie denn auch Hegel in diesem Sinne den Gegenstand seiner Rechtsphilosophie eindeutig einschränkt, sagt er doch:
"So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein, als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll." (Hegel)*II.9
Die Erkenntnis des Staates geht in erster Linie auf seine Form aus, aber auf seine Form nur deswegen, weil in dieser Form der substantielle Inhalt des "sittlichen Universums" sich kundgibt. "Dies ist es auch, was den konkreten Sinn dessen ausmacht, was oben abstrakter als Einheit der Form und des Inhalts bezeichnet worden ist, denn die Form in ihrer konkretesten Bedeutung ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Vernunft als das substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen Wirklichkeit..." Der methodische Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung des Staates ist dadurch bestimmt, daß der Staat als Phänomen der substantiellen Welt seine Wirklichkeit, die Notwendigkeit des Begriffes in sich haben muß:

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"Die Richtigkeit der Definition wird dann in die Übereinstimmung mit den vorhandenen Vorstellungen gesetzt. Bei dieser Methode wird das, was allein wissenschaftlich wesentlich ist, in Ansehung des Inhalts, die Notwendigkeit der Sache an und für sich selbst (hier des Rechts), in Ansehung der Form aber, die Natur des Begriffs beiseite gestellt. Vielmehr ist in der philosophischen Erkenntnis die Notwendigkeit eines Begriffs die Hauptsache und der Gang, als Resultat, geworden zu sein, sein Beweis und Deduktion. Indem so sein Inhalt für sich notwendig ist, so ist das zweite, sich umzusehen, was in den Vorstellungen und in der Sprache demselben entspricht." (Hegel)*II.10
Der Begriff des Staates als Ordnung des menschlichen Zusammenlebens findet seine Verwirklichung in der Rechtsordnung. "Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist."*II.11 Der Wille ist nun wieder der einzelne Wille, der subjektive Wille des Einzelmenschen, der in der Kategorie des Allgemeinen seine Aufhebung und seine Einordnung in das gesellschaftliche Ganze erfährt:
"Der Wille ist die Einheit dieser beiden Momente; die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit; - Einzelnheit; die Selbstbestimmung des Ich, in einem, sich als das Negative seiner selbst, nämlich als bestimmt, beschränkt und bei sich d. i. in seiner Identität mit sich und Allgemeinheit zu bleiben , und in der Bestimmung sich nur mit sich selbst zusammenzuschließen." (Hegel)*II.12
Die Verwirklichung des Rechtes vollzieht sich im Allgemeinen. "Indem er die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck hat, ist er nicht nur der an sich, sondern ebenso der für sich freie Wille - die wahrhafte Idee."*II.13 Die Aufgabe des Willens in seiner gesellschaftlichen Organisation, die Aufgabe des Rechtes ("Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht"*II.14 ) ist es, den Widerspruch zwischen der Einzelnheit des subjektiven Willens und der geschichtlichen Realität, dem objektiven Willen, zu versöhnen. Damit konkretisiert sich die

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Aufgabe des Staates in der Ebene der Sittlichkeit. Der Staat ist "die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß, und das, was er weiß, und insofern er es weiß, vollführt"*II.15 und erhält als solcher die Aufgabe zugewiesen, "die Wirklichkeit des substantiellen Willens" zu sein, "die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat..."
"Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein." (Hegel)*II.16
"Bei der Freiheit muß man nicht von der Einzelnheit, vom einzelnen Selbstbewußtsein ausgehen, sondern nur vom Wesen des Selbstbewußtseins, denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind..." (Hegel)*II.17
Das Allgemeine, das der Staat zu verwirklichen hat, ist freilich mehr als eine bloße spekulative Kategorie. Denn die Besonderung und Einzelnheit ist grundlegender gesellschaftliche Tatbestand, und ihre Überbrückung und Versöhnung in dem geordneten Dasein der organisierten Gesellschaft hat die Durchsetzung der allgemeinen Zwecke, der Allgemeininteressen zur Voraussetzung. Die Wirklichkeit des Staates nimmt somit die Gestalt des Interesses des gesellschaftliche Ganzen an:
"Der Staat ist wirklich, und seine Wirklichkeit besteht darin, daß das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert. Wirklichkeit ist immer Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit, das Auseinandergelegtsein der Allgemeinheit in die Besonderheit, die als eine selbständige erscheint, obgleich sie nur im Ganzen getragen und gehalten wird. Insofern diese Einheit nicht vorhanden ist, ist etwas nicht wirklich, wenn auch Existenz angenommen werden dürfte." (Hegel)*II.18

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Die Versöhnung der partikularen Interessen der einzelnen miteinander, die Auflösung der divergierenden gesellschaftlichen Sonderinteressen in der höheren Einheit des gesellschaftlichen Allgemeininteresses findet hier statt, aber diese Versöhnung ist nur eine Versöhnung im Begriff des Staates, eine Versöhnung aus der spekulativen Herleitung der Definition des Staates heraus. Und sogar die Hegelsche Rechtsphilosophie selbst vermag diese Versöhnung in der gesellschaftlichen Empirie nicht aufzuzeigen. Es ist nicht allzu vieles, was "in den Vorstellungen" dem für sich notwendigen, spekulativ abgeleiteten Inhalt des Staates entspricht. Die Aufzeigung der versöhnenden Funktion des Staates, die die gesellschaftlichen Gegensätze überbrückt und die Sonderinteressen in der höheren Einheit aufhebt, müßte die Erfüllung des Staatsbegriffes mit einem konkreten gesellschaftlichen Inhalt aufweisen, damit die Richtigkeit der Definition erwiesen würde. Indes bleibt die Einheit von Besonderem und Allgemeinem in der Sphäre des absoluten Begriffes stecken, und nicht einmal der List der Vernunft glückt die Beseitigung der kardinalen Divergenz zwischen dem Begriff des Staates und der empirischen Wirklichkeit jener gesellschaftlichen Welt der Erscheinungen, an der der Staat sich als Norm zu bewähren hat. Unvermittelt taucht die Entwicklung der absoluten Idee zu einer differenzierten Erscheinungswelt auf, ohne daß das Differenzierte des gesellschaftlichen Ganzen als notwendig hervorgebracht dargelegt werden könnte.
"Der Staat ist Organismus, das heißt Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden. Diese unterschiedenen Seiten sind so die verschiedenen Gewalten und deren Geschäfte und Wirksamkeiten , wodurch das Allgemeine sich fortwährend auf notwendige Weise hervorbringt, und indem es eben in seiner Produktion vorausgesetzt ist, sich erhält. Dieser Organismus ist die politische Verfassung." (Hegel)*II.19
Die empirische Existenz des Staates ist es, die hier unmittelbar aus der Welt der Erscheinungen hervorbricht. Ihr notwendiger Zusammenhang mit der geschichtlichen Realität ist nicht einzusehen. Welches die "Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden" ist, wird durch die Entfaltung der gesellschaftlichen Empirie bestimmt, und man müßte wieder zum Aushilfsmittel der List der Vernunft greifen, um die Notwendigkeit dieser empirischen Entwicklung zu begründen.*II.19a Die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, die dem Staat in der Ebene der Sittlichkeit als untergeordnet koordiniert werden sollte, tritt als eine ihm übergeordnete auf, auf das einzelne menschliche Individuum, dessen

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Einordnung in das Allgemeine durch die Wirklichkeit des Staates besorgt werden sollte, erhält sein Wirklichkeitsprädikat überhaupt erst aus seiner Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft. "Das Individuum gibt sich nur Wirklichkeit, indem es in das Dasein überhaupt, somit in die bestimmte Besonderheit tritt, hiermit ausschließend sich auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses beschränkt."*II.20 Wir erfahren somit die Wirklichkeit des Individuums erst aus seiner gesellschaftlichen Bedingtheit, aus seiner Zugehörigkeit zu einer der besonderen Sphären des Bedürfnisses, in die Terminologie etwa der Marxschen Soziologie übersetzt: aus seiner Funktion im gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Damit erhält aber der Staat in seiner empirischen Wirklichkeit (denn dies ist Wirklichkeit, nicht bloße Existenz) konstitutive Merkmale aus der Sphäre der "besonderen Bestimmungen" seines Seins, die ihrerseits von der bürgerlichen Gesellschaft vorgeschrieben werden:
"Der Staat als Geist unterscheidet sich in die besonderen Bestimmungen seines Begriffs, seiner Weise zu sein. Wollen wir hier ein Beispiel aus der Natur beibringen, so ist das Nervensystem das eigentlich empfindende System [...] Die Analyse der Empfindung gibt aber nun zwei Seiten an, und teilt sich so, daß die Unterschiede als ganze Systeme erscheinen. [...] Vergleichen wir diese Naturbeziehungen mit denen des Geistes, so ist die Familie mit der Sensibilität, die bürgerliche Gesellschaft mit der Irritabilität zusammenzustellen. Das Dritte ist nun der Staat, das Nervensystem für sich, in sich organisiert, aber es ist nur lebendig, insofern beide Momente, hier die Familie und bürgerliche Gesellschaft, in ihm entwickelt sind. [...] Die Familie ist zwar auch sittlich, allein der Zweck ist nicht als gewußter; in der bürgerlichen Gesellschaft dagegen ist die Trennung das Bestimmende." (Hegel)*II.21
So tritt das System des "äußeren Staates"*II.22 in den Vordergrund. Das gesellschaftliche Einzelwesen, das, wie wir sahen, überhaupt erst von seinem materiellen Dasein sein Wirklichkeitsprädikat empfängt, tritt aber auch in die höhere Synthese der Allgemeinheit als integrierender

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Bestandteil des gesellschaftlichen Ganzen wiederum erst durch seine Zugehörigkeit zu einer "bestimmten Besonderheit", d. h., durch seine Zugehörigkeit zu einer aus dem Produktionsprozeß des materiellen Lebens - um mit Marx zu sprechen - sich ergebenden gesellschaftlichen Klassenschicht:
"Darunter, daß der Mensch etwas sein müsse, verstehen wir, daß er einem bestimmten Stande angehöre; denn dies etwas will sagen, daß er alsdann etwas Substantielles ist. Ein Mensch ohne Stand ist eine bloße Privatperson und steht nicht in wirklicher Allgemeinheit. Von der anderen Seite kann sich der einzelne in seiner Besonderheit für das Allgemeine halten, und vermeinen, daß, wenn er in einen Stand ginge, er sich einem Niedrigeren hingebe. Dies ist die falsche Vorstellung, daß, wenn etwas ein Dasein, das ihm nötig ist, gewinnt, es sich dadurch beschränke und aufgebe..." (Hegel)*II.23
Dieser Einzelmensch, der nur durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsklasse wirklich wird, ist aber das konstitutive Element der bürgerlichen Gesellschaft.
"Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheiten, so daß jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt." (Hegel)*II.24
Das eine konstitutive Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist demnach das gesellschaftliche Einzelwesen in seiner Klassenbedingtheit; das andere Prinzip ist das Formal-Allgemeine des gesellschaftlichen Ganzen, das seinerseits durch das Allgemeine in dem Dasein des Staates gegeben ist, so daß letzthin der Staat als Idee als untergeordnet erscheint gegenüber dem äußeren Staat, der bürgerlichen Gesellschaft, die, wie gezeigt, eines ihrer konstitutiven Prinzipien von dem Staat als Idee bezieht. Die Auflösung dieses Widerspruches, dieser beherrschenden Antinomie zwischen der geschichtlichen Substanz und der empirischen Wirklichkeit des Staates oder, mit anderen Worten, zwischen dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft findet bei Hegel ihre Vollendung in einer formalen Kategorie:
"Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zweck haben. Da dieser durch das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als Mittel erscheint, so kann er von ihnen nur erreicht werden, insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen. Das Interesse der Idee hierin, das nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als solcher liegt, ist der [34] Prozeß, die Einzelnheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürfnisse, zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden.. ." (Hegel)*II.25
Daß die Kategorie, in der die Auflösung der Antinomie*II.26 erfolgt, eine rein formale ist, wird von Hegel schon durch ihre Bezeichnung als Prozeß einer Entwicklung zur formellen Allgemeinheit unterstrichen. Die Einheit von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, die die Antinomie zwischen der Unterordnung des Staates unter die Elemente der bürgerlichen Gesellschaft und der der bürgerlichen Gesellschaft unter das eine ihrer konstitutiven Prinzipien, die formale Allgemeinheit im Normativen des Staates, überwinden sollte, wird lediglich durch eine formale Kategorie vermittelt, die in letztem Betracht aus der Sphäre des absoluten Geistes hergeleitet ist und in dieser allein ihre Bestimmung findet. Freilich ist Hegel bei dieser formalen Auflösung der grundlegenden Antinomie seiner Staats- und Gesellschaftslehre nicht stehengeblieben, sondern er hat zu verschiedenen Zeiten verschiedene Versuche gemacht, jener formalen Kategorie eine inhaltliche Erfülltheit zu verleihen, sei es durch den souveränen Eingriff Gottes, der kraft seiner Souveränität im Gegensatz zu der List der Vernunft keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte, sei es dadurch, daß die Entwicklung der Idee des Staates als abgeschlossen, nicht mehr als aufgegeben hingestellt worden ist. Der eine Versuch appelliert, wie ohne weiteres ersichtlich, an das Moment des Sollens, das die Vermittlung zwischen dem empirischen Bewußtsein der Menschen und dem Göttlichen in ihnen herstellen muß. Der andere Versuch umgeht dieses Hineintragen des Sollensmomentes in die Wissenschaft vom Staat durch die Hypostasierung einer bestimmten Phase der empirischen Entwicklung des Staates, durch die Proklamierung des preußischen Staates als Abschluß der Entwicklung der Staatsidee. Wird durch den ersten Lösungsversuch die Immanenz der geschichtlichen Realität in ihrer einheitlichen und alles erfüllenden Ganzheit zerbrochen, so läßt der zweite Versuch die Selbstentwicklung der Idee, den Hauptstrom des Hegelschen Denkens, zu einem System gerinnen, das in seiner Zähflüssigkeit die erstarrte, versteinerte Struktur des preußischen Staatswesens jener Zeit nur zu

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deutlich widerspiegelt. Von hier aus mußte aus dem Schoße der Hegelschen Schule selbst die Rebellion losbrechen, einerseits das starr gewordene System durchbrochen, anderseits das Transzendental-Göttliche aus dem einheitlichen Zusammenhang des dialektischen Denkens verbannt werden. Lag das Schwergewicht der Rebellion der Junghegelianer in dem Protest gegen das erstarrte System und in der Überbetonung der Aktivität des Selbstbewußtseins*II.27 , das logischerweise auch zu einem Gesellschaftstranszendenten werden mußte*II.28 , so knüpfte die Überwindung des Hegelschen Systems in der materialistischen Geschichtsauffassung an die Wiederherstellung der Totalität und Immanenz der geschichtlichen Entwicklung an, indem an die Stelle der Hegelschen Substanz der Weltgeschichte, die mit ihren spekulativen Tragpfeilern aus der Sphäre des Gesellschaftlichen hinausragte, die Selbstentwicklung der geschichtlichen Realität als Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, rahmenbestimmt durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, gesetzt wurde.

III. Die Grundelemente der Marxschen Staatsauffassung

Lösung der Hegelschen "Antinomie"
"Daß [...] das Substantielle im wirklichen Tun der Menschen und in ihrer Gesinnung gelte, vorhanden sei und sich selbst erhalte, das ist der Zweck des Staates."*III.1 So die Hegelsche Begriffsbestimmung. Mit dieser Bestimmung des Zweckes des Staats ist sogleich als kardinales Problem der Hegelschen Staatslehre das Problem des Übergangs des Substantiellen in die gesellschaftliche Empirie gestellt. Ist die Substanz der Weltgeschichte die eigentliche Essenz des Staates und seine Erscheinungswelt in den Tatbeständen des gesellschaftlichen Daseins der Menschen gegeben, so verwandelt sich dieses zentrale Problem in soziologischer Formulierung in die Frage nach der näheren Bestimmung des Korrelatverhältnisses zwischen dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft (im Hegelschen Wortsinn, also als menschliche Gesellschaft schlechthin). Wir haben bereits das Ergebnis gewonnen, daß dieses Verhältnis seinen konkreten Ausdruck findet in der Kategorie des Übergangs, die zum einen als List der Vernunft, zum anderen als der göttliche Eingriff und schließlich in ihrer näheren Bestimmtheit als die formale Kategorie der Aufhebung der Sonderinteressen der einzelnen Glieder des gesellschaftlichen Ganzen sich konkretisiert. Zum Abschluß dieses Gedankenganges sei die Aufhebung der Antinomie dieser primären Bestandteile der Hegelschen Staatslehre in der formalen Versöhnung der Sonderinteressen im Allgemeininteresse noch einmal zusammengefaßt:
"Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. - Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum, indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die [37] Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen. Ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate." (Hegel)*III.2
Schon in der Zweckbestimmung des Staates ist also sein Doppelgesicht vorhanden, und der Widerspruch zwischen den Interessen der einzelnen Glieder des gesellschaftlichen Ganzen und dem uns zunächst nur in seiner formalen Beschaffenheit aufgegebenen Allgemeinen ist schon im Begriff des Staates enthalten. Es versteht sich von selbst, daß dieser Widerspruch um so deutlicher und schärfer zutage treten muß, je mehr die Empirie des gesellschaftlichen Ganzen in ihrem Auseinanderfallen in Klassengegensätze ausgebildet erscheint. Damit der Widerspruch verborgen bleibe, ist es wesentlich, die gesellschaftliche Empirie in ihrem geschichtlichen Werden beiseite zu stellen, sie aus der spekulativen Betrachtung auszuschalten. So sagt denn auch Hegel:
"Welches nun aber der historische Ursprung des Staates überhaupt, oder vielmehr jedes besonderen Staates, seiner Rechte und Bestimmungen sei oder gewesen sei, [...] geht die Idee des Staates selbst nicht an, sondern ist in Rücksicht auf das wissenschaftliche Erkennen, von dem hier allein die Rede ist, als die Erscheinung eine historische Sache." (Hegel)*III.3
Und diese historische Sache geht die spekulative Entwicklung des Begriffes nicht im geringsten an. Da sich aber die Beachtung der Empirie - und der Staat vollendet sich ja nur in der Empirie, der Einzelmensch, in dem sich das Wirken des Staates realisiert, ist ja nur in der und durch die bürgerliche Gesellschaft - nicht ausschalten läßt, ist es verständlich, daß die zur Tür hinausgeworfene historische Besonderheit der empirischen Staaten zum Fenster wieder hereinkommt. Hegel selbst muß zwischen vollkommenen und unvollkommenen Staaten unterscheiden, und das Unterscheidende ist wiederum der Empirie entnommen:
"Die Idee des Staats in neuerer Zeit hat die Eigentümlichkeit, daß der Staat die Verwirklichung nicht nach subjektivem Belieben, sondern nach dem Begriffe des Willens [...] ist. Die unvollkommenen Staaten sind die, in denen die Idee des Staates noch eingehüllt ist, und wo die besonderen Bestimmungen derselben nicht zu freier Selbständigkeit gekommen sind." (Hegel)*III.4
Warum aber ist die Idee des Staates in den unvollkommenen Staaten "noch eingehüllt", warum sind die Bestimmungen der Idee in ihnen

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nicht "zu freier Selbständigkeit gekommen"? Ist es nicht die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, in der die Erklärungsgründe für den substantiellen Unterschied in der Existenz der empirischen Staaten zu suchen sind?

Dies ungelöste Problem ist der wundeste Punkt, die logisch angreifbarste Stelle des Gebäudes der Hegelschen Staatsphilosophie. Gerade hier kann die Kritik anknüpfen, die von innen heraus das Hegelsche Denken über sich selbst hinaustreibt, es einmünden läßt in eine soziologische Begriffsbestimmung der geschichtlichen Substanz. Hier sondert sich das junghegelsche Denken von der erstarrten Hegelschen Schule ab, und hier hinwiederum geht auch innerhalb der junghegelschen Bewegung die prinzipielle Scheidung vor sich, deren sozialer Gehalt erst später als klassenbestimmt sichtbar wird. Hier beginnt die Herausbildung der materialistischen Geschichtsauffassung, die Herauslösung der "materialistisch-dialektischen" Methode aus der spekulativen Dialektik der Hegelschen Ontologie (Seinslehre).

Es ist der Geist Feuerbachs, der zur Zurückführung der Hegelschen Kategorien auf das "Menschliche" den ersten Anstoß gibt, der Marxens materialistische Geschichtsauffassung zuerst erstehen läßt im Gewande eines "realen Humanismus". In diesem "realen Humanismus" ist der spätere Gehalt der materialistischen Geschichtsauffassung zweifellos bereits im Kern enthalten, die Elemente der neuen soziologischen Methode schlummern schon in den ersten Auseinandersetzungen des jungen Riesen mit der "grotesken Felsenmelodie" des Hegelschen Systems. Die Auseinandersetzung mit Hegel, der kritische Kampf mit seiner Staatsphilosophie, deren Soziologische Grundkategorien trotz diesem Kampf, ja vielleicht als seine Grundlage von der materialistischen Geschichtsauffassung übernommen werden, läßt zugleich die Grundlegung der neuen Methode des wissenschaftlichen Denkens, die in die Einheit von Theorie und Praxis münden soll, konkrete Gestalt annehmen. So tritt das Spezifische des Marxschen Denkens, das, was Marx von Hegel trennt und zugleich mit Hegel verbindet, in dem Ringen mit den Prinzipien der Hegelschen Philosophie am anschaulichsten zutage. Es läßt sich für die Darstellung der Staatsauffassung des Marxismus in den Elementen ihres Werdens daher auch kein besseres Material finden als Marxens Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie. Den unermüdlichen Bemühungen des von D. Rjazanov geleiteten Marx-Engels-Institutes in Moskau ist es zu verdanken, daß diese Auseinandersetzung achteinhalb Jahrzehnte nach ihrer

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Niederschrift das Licht der Öffentlichkeit erblickt.*III.5 Die in den Monaten März bis August 1843 von Marx niedergeschriebenen Randbemerkungen zu den einzelnen Paragraphen des Hegelschen Staatsrechtes (Paragraph 261 bis 313 der Rechtsphilosophie) sind nicht allein das Dokument der endgültigen Loslösung des Marxschen Denkens von den Fesseln der Hegelschen Spekulation, sie sind zugleich der erste umfassende Versuch einer Begründung des neuen Standpunktes, der Auffassung vom absoluten Primat des vergesellschafteten, des "sozialisierten" Menschen.

Der Ausgangspunkt der Marxschen Kritik an den Widersprüchen der Hegelschen Staatslehre ist die Kategorie des Übergangs, die, wie oben ausgeführt, notwendigerweise zu einer Kritik vom Standorte des Hegelschen Denkens selbst herausfordert. Die Darstellung der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft als der bloß äußerlichen Notwendigkeit des Staates, ihre Trennung vom Sein des Staates in seinem immanenten Zweck könnte verstanden werden, meint Marx, wenn es sich lediglich um die empirische Gegensätzlichkeit der Sonderinteressen und der Staatsinteressen handelte:
"Allein Hegel spricht hier*III.6 nicht von empirischen Kollisionen: er spricht vom Verhältnis der Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat; es handelt sich vom wesentlichen Verhältnis dieser Sphären selbst. [...] Eben weil ´Unterordnung´ und ´Abhängigkeit´ äußere, das selbständige Wesen einengende und ihm zuwiderlaufende Verhältnisse sind, ist das Verhältnis der ´Familie´ und der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat das der äußerlichen Notwendigkeit, einer Notwendigkeit, die gegen das innere Wesen der Sache angeht. Dies selbst, ´daß die privatrechtlichen Gesetze von dem bestimmten Charakter des Staates´ abhängen, nach ihm sich modifizieren, wird daher unter das Verhältnis der äußerlichen Notwendigkeit subsumiert, eben weil ´bürgerliche Gesellschaft und Familie´ in ihrer wahren, d. i. in ihrer selbständigen und vollständigen Entwicklung dem Staat als besondere ´Sphären´ vorausgesetzt sind. [...] Hegel stellt hier eine ungelöste Antinomie auf. Einerseits äußerliche Notwendigkeit, anderseits immanenter Zweck." (Marx)*III.7
Die an sich schon unlösbare Antinomie wird in ihrer widerspruchsvollen Unlösbarkeit dadurch nur noch verschärft, daß der Übergang der Substanz in die Empirie seinen bestimmenden Charakter letzten Endes von dieser nämlichen sozialen Empirie erhält:
"Die Art und Weise, wie der Staat sich mit der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft vermittelt, sind ´die Umstände, die Willkür und die eigene Wahl der Bestimmung´*III.8 Die [40] Staatsvernunft hat also mit der Zerteilung des Staatsmaterials an Familie und bürgerliche Gesellschaft nichts zu tun. Der Staat geht auf unbewußte und willkürliche Weise aus ihnen hervor." (Marx)*III.9
Es ist nicht mehr die geschichtliche Substanz, die mit Notwendigkeit diese und keine andere Wesenheit des Staates hervorbringt. Sondern an die Stelle der immanenten Notwendigkeit tritt empirische Willkürlichkeit. Die Kritik ist an dieser Stelle unangreifbar:
"Das wirkliche Verhältnis ist: ´daß die Zuteilung des Staatsmaterials am einzelnen durch die Umstände, die Willkür und die eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt ist´. Diese Tatsache, dies wirkliche Verhältnis wird von der Spekulation als Erscheinung als Phänomen ausgesprochen. Diese Umstände, diese Willkür, diese Wahl der Bestimmung, diese wirkliche Vermittlung sind bloß die Erscheinung einer Vermittlung, welche die wirkliche Idee mit sich selbst vornimmt, und welche hinter der Gardine vorgeht. [...] Die gewöhnliche Empirie hat nicht ihren eigenen Geist, sondern einen fremden zum Gesetz, wogegen die wirkliche Idee nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein hat. [...] Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staat, sie sind die eigentlich Tätigen, aber in der Spekulation wird es umgekehrt [...] Es ist eine doppelte Geschichte, eine esoterische und exoterische. Der Inhalt liegt im exoterischen Teil. Das Interesse des esoterischen ist immer das, die Geschichte des logischen Begriffs im Staate wiederzufinden An der exoterischen Seite aber ist es, daß die eigentliche Entwicklung vor sich geht." (Marx)*III.10
Was aber ist nun die tatsächliche Wirklichkeit des Staates? Wenn Familie und bürgerliche Gesellschaft die eigentlich Tätigen sind, so machen sie offensichtlich den Inhalt, das Wesen des Staates aus.
"Familie und bürgerliche Gesellschaft sind wirkliche Staatsteile [...], sie sind Daseinsweisen des Staates; Familie und bürgerliche Gesellschaft machen sich selbst zum Staat. Sie sind das Treibende. Nach Hegel sind sie dagegen getan von der wirklichen Idee; [...] der politische Staat kann nicht sein ohne die natürliche Basis der Familie und die künstliche Basis der bürgerlichen Gesellschaft; sie sind für ihn die conditio sine qua non; die Bedingung wird aber [bei Hegel. - A.G] als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Produzierende wird als das Produkt seines Produkts gesetzt." (Marx)*III.11
Das Produzierende ist somit in Ansehung des Staates die bürgerliche Gesellschaft als das "künstliche" Resultat einer vorausgegangenen Entwicklung, während die Familie hier noch als "natürliche" Urgemeinschaft erscheint und ihre Zurückführung auf gesellschaftliches Werden noch nicht näher ausgesprochen ist. Sieht man aber von diesem Detail ab, so bricht hier die neue Auffassung mit Gewalt durch, wonach nicht die Substanz des Geistes, sondern die gesellschaftliche Entwicklung als solche die Realität ist. Die Loslösung von der Hegelschen Philosophie ist vollzogen Die soziologische Ausrichtung der materialistischen

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Geschichtsauffassung ist gegeben. Von diesem Standort aus fällt eine Auseinandersetzung mit dem Mysterium der Hegelschen Spekulation nicht mehr schwer. Das Geheimnis der metaphysischen Ontologie ist aufgedeckt:
"Das Wirkliche [bei Hegel. - A.G.] wird zum Phänomen, aber die Idee hat keinen andern Inhalt als dieses Phänomen. Auch hat die Idee keinen anderen Zweck, als den logischen, ´für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein´. In diesem Paragraphen ist das ganze Mysterium der Rechtsphilosophie niedergelegt und der Hegelschen Philosophie überhaupt." (Marx)*III.12
Nach der Auflösung der Antinomie der logischen Kategorien des Hegelschen Denkens wird auch das soziologische Problem ein wesentlich anderes. Es geht nicht mehr um die Idee des Staates und ihre Verwirklichung in der Empirie, sondern um den wirklichen Staat als gesellschaftlich gewordene Erscheinung. Die empirische Erscheinung des Staates zerfällt in zweierlei. Er ist auf der einen Seite die Gesamtheit seiner Funktionen, die Betätigung des gesellschaftlichen Momentes im Staate, das bei all seiner Verzerrung für die wissenschaftliche Betrachtung doch noch erkenntlich ist. Und er ist auf der anderen Seite der Staat als Ideologie, der Komplex der Gedanken und Vorstellungen, die der jeweilige, besondere Staat in dem Bewußtsein der Menschen über sein Wesen und seinen Zweck erzeugt. Diese Ideologie hat gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein verselbständigtes Dasein gewonnen, sie ist letztlich zur abstrakten Idee des Staates geworden, sie ist der "politische Staat" als Idealtyp. Der idealtypische politische Staat als die illusorische Abstraktion von der gesellschaftlichen Wirklichkeit muß auf seine "Naturbasis", die bürgerliche Gesellschaft, zurückgeführt, in seinem Mysterium als verselbständigte Ideologie enthüllt werden.
"Der eigentliche Gedanke [bei Hegel - A.G.] ist: Die Entwicklung des Staats oder der politischen Verfassung zu Unterschieden und deren Wirklichkeit ist eine organische. Die Voraussetzung, das Subjekt sind die wirklichen Unterschiede oder die verschiedenen Seiten der politischen Verfassung. Das Prädikat ist ihre Bestimmung als organisch. Statt dessen wird die Idee zum Subjekt gemacht, die Unterschiede und deren Wirklichkeit als ihre Entwicklung, ihr Resultat gefaßt, während umgekehrt aus den wirklichen Unterschieden die Idee entwickelt worden ist." (Marx)*III.13
Die grundlegende Hegelsche Antinomie kehrt von neuem wieder. Nicht das Werden des gesellschaftlichen Ganzen bestimmt den Charakter des Staates, sondern seine allgemeine Idee, deren Allgemeinheit so umfas-

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send ist, daß sie schließlich in ihrer lediglich formalen Beschaffenheit auf jeden anderen Komplex angewendet werden könnte.
"Es ist ... [...] keine Brücke geschlagen, wodurch man aus der allgemeinen Idee des Organismus zu der bestimmten Idee des Staatsorganismus oder der politischen Verfassung käme, und es wird in Ewigkeit keine solche Brücke geschlagen werden können." (Marx)*III.14
"Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch~metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse [...] nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staates, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik." (Marx)*III.15
Ist aber die Logik nicht der konkrete Inhalt des Staates, so ist es unerläßlich, diesen konkreten Inhalt unter Abwendung von der Hegelschen Seinslehre aus seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit zu bestimmen. Nachdem die gesellschaftliche Empirie das Primäre geworden ist, wird auch die Spezifizierung ihrer näheren Bestimmungen notwendig. Was bei Hegel das Akzessorische war, die einzelnen Bestimmungen der "Seinsweise" des Staates, wird jetzt zum Entscheidenden, da ja ohne die Erkenntnis der Betätigungsweise, des Funktionierens des Staates keine Möglichkeit besteht, sein Wesen, seinen Inhalt zu erkennen.

In dem Hegelschen Staatssystem spielt nun der Monarch als der einzelne, in dem sich die Idee des einzelnen konkretisiert, eine nicht unwichtige Rolle. Der Monarch ist sozusagen der Idealbegriff der Staatswirklichkeit schlechthin, abstraktes Symbol und praktische Gewalt in einem. Nur Spott wird vom Standort der neuen Auffassung diesem begrifflichen Monarchen zuteil. "Als wäre nicht das Volk", ruft Marx aus, "der wirkliche Staat. Der Staat ist ein Abstraktum. Das Volk allein ist das Konkretum."*III.16 Gewiß ist hier keine exakte Begriffsbestimmung der Wesenheit Volk zu finden; gewiß ist Volk weder soziologisch noch ökonomisch als eine exakte Kategorie geprägt. Aber das Entscheidende liegt nicht in dieser einzelnen Kategorie, die sehr bald aus dem Geist der materialistischen Geschichtsauffassung heraus durch andere ersetzt wird, sondern in der prinzipiellen Umkehrung des Verhältnisses vom konkreten Substrat der gesellschaftlichen Empirie und dem Normativen des Staates. Das Volk ist hier zunächst nichts anderes als Gesellschaft, ohne daß über die Beschaffenheit dieser Gesellschaft

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einzelnes ausgesagt zu werden brauchte. Dem Volk als Gesellschaft, als Substrat der gesellschaftlichen Realität tritt nun aber auch der Staat in seiner empirischen Gestalt entgegen: der Staat in der Mannigfaltigkeit seiner Funktionen, der Staat in seiner Betätigung und Seinsweise, der Staat als Regierungsgewalt. Da wir aber nicht mehr in der Sphäre der Nebelbildungen des abstrakten Geistes den Staat aufsuchen, ist auch der Staat in seinem Funktionieren, der Staat als Regierungsgewalt kein abstrakter Begriff mehr, sondern die Summe eben seiner einzelnen Funktionen, und seine Seinsweise kann in nichts anderem in Erscheinung treten als in der Ausübung dieser Funktionen durch die, so von Staats wegen dazu bestimmt sind. Dies aber ist der Staatsapparat im engeren Sinne, der Staatsapparat als der Ort der Tätigkeit der Bürokratie. Auch für Hegel ist die Bürokratie kein unwesentliches Moment des Staates. Aber für ihn ist sie eine Aufgabe, ein Zielobjekt, das vom Staat zu erreichen ist, auf daß seine Zwecke sichergestellt werden.
"In dem Mittelstande, hieß es bei Hegel, ´zu dem die Staatsbeamten gehören, ist das Bewußtsein des Staats und die hervorstechendste Bildung´. Deswegen macht er auch die Grundsäule desselben in Beziehung auf Rechtlichkeit und Intelligenz aus. Der Staat, in dem kein Mittelstand vorhanden ist, steht deswegen noch auf keiner hohen Stufe. Daß dieser Mittelstand gebildet werde, ist ein Hauptinteresse des Staates, aber dies kann nur in einer Organisation [...] geschehen, nämlich durch die Berechtigung besonderer Kreise, die relativ unabhängig sind und durch eine Beamtenwelt, deren Willkür sich an solchen Berechtigten bricht." (Marx)*III.17
So war für Hegel die Bürokratie die Zwischenwand, die den Staat von der bürgerlichen Gesellschaft trennte, während wiederum die Garantie gegen die Übergriffe des bürokratischen Apparates, gegen seine Verformung in einer Emanation der bürgerlichen Gesellschaft, in den "Berechtigten", weiterhin in den "Korporationen" als der ständischen Organisation der Gesellschaft postuliert war. Marx Kritik setzt nun an dieser Postulatbestimmung der Funktionen des bürokratischen Apparates an:
"Hegel geht von der Trennung des ´Staats´ und der ´bürgerlichen´ Gesellschaft, den ´besonderen Interessen´ und dem ´an und für sich seienden Allgemeinen´ aus, und allerdings basiert die Bürokratie auf dieser Trennung. [...] Hegel entwickelt keinen Inhalt der Bürokratie, sondern nur einige allgemeine Bestimmungen ihrer ´formellen´ Organisation, und allerdings ist die Bürokratie nur der Formalismus eines Inhalts, der außerhalb derselben liegt. [...] Wo die ´Bürokratie´ neues Prinzip ist, wo das allgemeine Staatsinteresse anfängt, für sich ein ´apartes´, damit ein ´wirkliches´ Interesse zu werden, kämpft sie gegen die Korporation. [...] Die ´Bürokratie´ ist der Staatsformalismus der bürgerlichen Gesellschaft. [...] Die Bürokratie muß also die imaginäre Allgemeinheit des [44] besonderen Interesses [...] beschützen, um die imaginäre Besonderheit des allgemeinen Interesses, ihren eigenen Geist, zu beschützen. [...] Der ´Staatsformalismus´, der die Bürokratie ist, ist der ´Staat des Formalismus´, und als solchen Formalismus hat sie Hegel beschrieben. Da dieser ´Staatsformalismus´ sich als wirkliche Macht konstituiert und sich selbst zu seinem eigenen materiellen Inhalt wird, so versteht es sich von selbst, daß die ´Bürokratie´ ein Gewebe von praktischen Illusionen oder die ´Illusion des Staats´ ist. [...] Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats. [...] Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum." (Marx)*III.18
Das sind nun schon ganz andere Bestimmungen der Funktionen der Bürokratie, als sie Hegel gibt. Das sind die soziologischen Bestimmungen der Funktion des Staatsapparates. Einmal wird seine ökonomische Funktion definiert als die Funktion, die Verrichtungen der staatlichen Organisation in seinem Privateigentum zu haben. Zum anderen erscheint seine soziale Funktion im engeren Sinne als die, innerhalb einer in Sonderinteressen zerfallenen Gesellschaft ein spezifisches Sonderinteresse wahrzunehmen, zum Träger des Sonderinteresses zu werden, das jeweils vom Staate verkörpert wird, das also, wie die materialistische Geschichtsauffassung später zeigt, das Interesse einer bestimmten, der herrschenden Gesellschaftsschicht ist.

Somit wird indes der Staat als Gesamtheit seiner Funktionen dargestellt als das Privateigentum, das Instrument bestimmter Sonderinteressen, deren Verwirklichung und Behauptung einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, der "Bürokratie", das heißt, den Funktionären des Staatsapparates übertragen ist. Die Loslösung der Staatsidee als eines Abstraktums von dem Mutterboden der gesellschaftlichen Wirklichkeit erhält nunmehr ihre reale gesellschaftliche Basis. Sie ist nicht mehr bloße Verselbständigung eines Begriffs, der nun etwa in der Sphäre der Ideologie ein eigengesetzliches Dasein führen würde, sondern lediglich der Ausdruck der Aussonderung bestimmter gesellschaftlicher Schichten aus der Undifferenziertheit des gesellschaftlichen Ganzen, das heißt, der Ausdruck der Klassenspaltung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Die Sonderinteressen der einzelnen gesellschaftlichen Schichten ringen miteinander innerhalb der gesellschaftlichen Organisation um ihre Beherrschung. Dasjenige, das obsiegt, transformiert sich in das illusorische "Allgemeininteresse" des Staates.
"Wenn Hegel die Regierungsgewalt die objektive Seite der dem Monarchen innewohnenden Souveränität nennt, so ist das richtig in demselben Sinne, wie die katholische Kirche das reelle Dasein der Souveränität, des Inhalts und Geistes der heiligen Dreieinigkeit [45] wahrt. In der Bürokratie ist die Identität des Staatsinteresses und des besonderen Privatzweckes so gesetzt, daß das Staatsintereäse zu einem besonderen Privatzwecke gegenüber den anderen Privatzwecken wird." (Marx)*III.19
Innerhalb der organisierten Gesellschaft sondern sich, sofern gesellschaftliche Schichtungen vorhanden sind, private Sonderzwecke der einzelnen Schichten gegeneinander ab, während ihnen nach wie vor in der Gestalt des organisatorischen Bandes der Gesellschaft als Interesse des Gemeinwesens das einst wirkliche gemeinschaftliche Interesse aller Glieder des Gemeinwesens, das nunmehr zu einem illusorischen geworden ist, gegenübertritt. In diesem vermeintlichen Allgemeininteresse der gesellschaftlichen Organisation, das im Gewande von Staatsinteressen, Staatszwecken, Staatsbedürfnissen, im Gewande der Staatsraison und des "Allgemeinwohls" seine ideologische Wirklichkeit erhält, verkörpern sich nunmehr die obsiegenden privaten Sonderinteressen der um die Durchsetzung ihrer besonderen Interessen miteinander kämpfenden Gesellschaftsschichten. Die Klassenspaltung innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen nimmt daher, soweit es sich um die gesellschaftliche Organisation handelt, den Charakter einer Umwandlung der tatsächlichen Sonderinteressen der gesellschaftlichen Klassen in vorgetäuschte, vermeintliche Allgemeininteressen des gesellschaftlichen Ganzen an. Dieser ideologische Mechanismus der Herausbildung einer besonderen Staatsideologie, der Herauskristallisierung des Staates als ideologische Norm: das ist die soziologische Kategorie, die nunmehr aus der logisch-metaphysischen Kategorie des Hegelschen Überganges entstanden ist.

Ihre weitere Konkretisierung wird durch die Kategorie der Entfremdung vermittelt. Das einzelne Sonderinteresse, das in der Gesellschaft zum herrschenden wird und in der Form des Staatszweckes auftritt, nimmt gegenüber den realen Interessen der einzelnen Gesellschaftsschichten eine verselbständigte Gestalt an, insofern es eines organisierten Apparates bedarf, damit dieses zum Staatszweck proklamierte Sonderinteresse geschützt und verwirklicht werde. Wir kehren somit zu der Betrachtung des Staatsapparates zurück und nehmen wahr, daß die Verselbständigung des Staatsapparates, die uns schon bei Hegel entgegengetreten ist, nichts anderes ist als die Durchsetzung des herrschenden Sonderinteresses in der organisierten Gesellschaft. Die Ausübung der Funktionen der gesellschaftlichen Organisation des Staates erfolgt jetzt nicht mehr im Interesse des gesamten Gemeinwesens, sondern nur im

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Interesse einer einzelnen Gesellschaftsschicht, sie ist der Gesellschaft als solcher entfremdet. Das Funktionieren des Staates löst sich von den Interessen der gesamten gesellschaftlichen Organisation los, es findet eine Entfremdung zwischen dem gesellschaftlichen Ganzen und dem Apparat seiner Organisation, dem Staate, statt. Damit die Interessen der gesamten Gesellschaft, die wirklichen Allgemeininteressen, zum Durchbruch gelangen, muß offensichtlich die "Entfremdung" überwunden werden. Die personifizierte Gestalt der Entfremdung ist aber der Staatsapparat als solcher, ist die Loslösung der organisierten Ausübung der gesamtgesellschaftlichen Funktionen durch einen besonderen staatlichen Apparat von dem "staatlichen" Ganzen. Soll eine Überwindung der Entfremdung möglich sein, so ist infolgedessen eine Zurücknahme der von der Gesellschaft losgelösten Funktionen ihrer Organisation in das gesellschaftliche Ganze unentbehrlich. Aber die gesellschaftliche Organisation in ihrer verselbständigten, "entfremdeten" Gestalt ist die politische Organisation der Gesellschaft, der, wie Marx sagt, "politische Staat". Die Aufgabe der Überwindung der Entfremdung, der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Einheit konkretisiert sich also in der Aufhebung des politischen Staates, in der Auflösung seines "entfremdeten" Apparats. "Die Aufhebung der Bürokratie kann nur sein, daß das allgemeine Interesse wirklich und nicht, wie bei Hegel, bloß im Gedanken, in der Abstraktion zum besonderen Interesse wird, was nur dadurch möglich ist, daß das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird"*III.20 , mit anderen Worten, daß die Sonderinteressen, die der Staatsapparat verwirklicht, zusammenfallen mit dem Allgemeininteresse des gesellschaftlichen Ganzen, das heißt, daß diese Allgemeininteressen auch in der Organisation des Gemeinwesens ihre Verwirklichung finden.

Wo aber ist diese Identität des tatsächlichen Allgemeininteresses mit dem von der Organisation des Gemeinwesens wahrgenommenen Interesse möglich? Die Marxsche Antwort lautet: in der Demokratie.
"Hegel geht vom Staate aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung. Die Demokratie verhält sich in gewisser Hinsicht zu allen übrigen Staatsformen, wie das Christentum sich zu allen übrigen Religionen verhält. Das Christentum ist die Religion kat exochen, das Wesen der Religion, der deifizierte Mensch als eine besondere Religion. So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch, als eine [47] besondere Staatsverfassung; sie verhält sich zu den übrigen Verfassungen, wie die Gattung sich zu ihren Arbeiten verhält. [...] Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den anderen [Staatsformen - A.G.] der Mensch das gesetzliche Dasein ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie." (Marx)*III.21
Die Demokratie ist somit die "Gattung", wir würden sagen, der Idealtyp aller Organisationen des menschlichen Gemeinwesens. Sie ist für die Marxsche Betrachtung die Organisation des Gemeinwesens in reiner Form, die bloße "Verobjektivierung" des gesellschaftlichen Daseins des Menschen, seines Daseins in der Vergesellschaftung, als "sozialisierter" Mensch. Es erhellt hieraus, daß der Begriff Demokratie in diesem Zusammenhang gefaßt ist als der Begriff der Organisation einer einheitlichen menschlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die nicht in Klassen gespalten ist. Demokratie in diesem Sinne wird identisch mit der Aufhebung der Klassengesellschaft, mit dem Idealziel des Sozialismus, und wir sehen hier somit in begrifflicher Vorwegnahme jene Scheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie, deren Begriffsbestimmung in der Weiterbildung der materialistischen Geschichtsauffassung und ihrer Staatssoziologie erst in neuerer Zeit in präzisier Form vorgenommen worden ist.
"Alle übrigen Staatsbildungen [außer der Demokratie - A.G.] sind eine gewisse, bestimmte, besondere Staatsform. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Besonderen. In der Monarchie z. B., in der Republik als einer nur besonderen Staatsform hat der politische Mensch sein besonderes Dasein neben dem unpolitischen, dem Privatmenschen. Das Eigentum, der Vertrag, die Ehe, die bürgerliche Gesellschaft erscheinen hier [...] als besondere Daseinsweisen neben dem politischen Staat, als der Inhalt, zu dem sich der politische Staat als die organisierende Form verhält, eigentlich nur als der bestimmende, beschränkende, bald bejahende, bald verneinende, in sich selbst inhaltslose Verstand. In der Demokratie ist der politische Staat, so wie er sich neben diesen Inhalt stellt und von ihm unterscheidet, selbst nur ein besonderer Inhalt wie eine besondere Daseinsform des Volks. [...] In der Demokratie ist der Staat als Besonderes nur Besonderes, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d. h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem anderen Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht mehr für das Ganze gilt." (Marx)*III.22
Die wahre Demokratie ist demnach jene Organisation des menschlichen Gemeinwesens, in der die politische Organisation, der Staat als Regierungsgewalt, insofern untergeht, als diese politische Funktion der

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gesellschaftlichen Organisation den Interessen des gesellschaftlichen Ganzen untergeordnet wird. Die Bestimmung des Inhalts und der Formen der organisatorischen Verrichtungen des Gemeinwesens ist hier keine bloß formale mehr, sie wird eine materielle. Das heißt, die Gesellschaft bestimmt selbst den Inhalt der Funktionen ihrer Organisation; die Entfremdung des politischen Staates wird aufgehoben; das Dominieren eines privaten Sonderinteresses, das sich im politischen Staat seine Repressionsgewalt aufgebaut hatte, wird überwunden. Die Demokratie ist nicht mehr bloß Ausdruck eines formalen Anspruches auf Gleichberechtigung, sie ist der adäquate Ausdruck einer einheitlichen, nicht mehr in Klassen zerfallenden Gesellschaft. Daraus geht klar hervor, daß eine bloß politische Reform des Staates die Demokratie nicht begründet. Die bloß politische Reform hebt den abstrakten, den politischen Staat nicht auf, sie ändert bloß seine äußere Erscheinungsform, seinen Aufbau.
"In der Demokratie hat der abstrakte Staat aufgehört, das herrschende Moment zu sein. Der Streit zwischen Monarchie und Republik ist selbst noch ein Streit innerhalb des abstrakte Staats. Die politische Republik ist die Demokratie innerhalb der abstrakten Staatsform. Die abstrakte Staatsform der Demokratie ist daher die Republik; sie hört hier aber auf, die nur politische Verfassung zu sein. Das Eigentum usw., kurz der ganze Inhalt des Rechts und des Staats, ist mit wenigen Modifikationen in Nordamerika dasselbe wie in Preußen. Dort ist also die Republik eine bloße Staatsform wie hier die Monarchie. Der Inhalt des Staats liegt außerhalb dieser Verfassung. Hegel hat daher recht, wenn er sagt: der politische Staat ist die Verfassung, d. h. der materielle Staat ist nicht politisch." (Marx)*III.23
Die Unterscheidung zwischen politischem und materiellem Staat führt unmittelbar hinein in die begriffliche Trennung der Staatsform vom Staatsinhalt, die Trennung der Demokratie als der bloßen Form der staatlichen Organisation (Marx sagt dazu: die politische Republik) von der Demokratie als dem materiellen Inhalt des Staates, der Demokratie als der Verwirklichung der gesellschaftlichen Einheit, der Aufhebung der Klassenspaltung und der Entfremdung des Staatsapparats. Dabei ist es für unsere Betrachtung unwesentlich, daß hier auch das klassenlose Gemeinwesen, die "wahre Demokratie", als Staat bezeichnet wird, denn die Trennung des politischen Staates vom materiellen Staat ist so scharf, die Begriffsbestimmung der beiden so eindeutig, daß das letzte Gemeinsame das sie miteinander haben, lediglich das ist, organisierte Einheit innerhalb der menschlichen Gesellschaft zu sein. Der politische Staat, der Staat der besonderen Regierungsgewalt und des "entfremdeten" Staatsapparates, ist die Organisation der in Sonderinteressen

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zerfallenden, der in Klassen gespaltenen Gesellschaft. Die Aufhebung der Klassenspaltung, die Aufhebung der Sonderinteressen bedeutet notwendigerweise eine Auflösung der Regierungsgewalt als der "organisierenden Form", die Zurücknahme der Funktionen des Staatsapparates das Gemeinwesen selbst. Der politische Staat geht unter. Was bleibt aber dann vom Staatsbegriff übrig? Lediglich der Begriff einer Organisation des Gemeinwesens, die "eine besondere Daseinsform" dieses selben Gemeinwesens ist, etwa das, was von Engels später einmal die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen an Stelle der Regierung über Personen*III.24 genannt worden ist. Es ist daher durchaus verständlich, daß jene Organisation der klassenlosen Gesellschaft, die hier als der materielle Staat fungiert, in der späteren Entwicklung der materialistischen Geschichtsauffassung der Bezeichnung Staat verlustig geht, ohne daß die Staatsauffassung selbst eine Wandlung erführe.

Als die Zielsetzung der gesellschaftlichen Entwicklung haben wir nunmehr eine Organisation des Gemeinwesens, in der kein Sonderinteresse über die anderen regiert, vielmehr alle Sonderinteressen dem Allgemeininteresse des gesellschaftlichen Ganzen untergeordnet sind. Damit ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, worauf denn das Auseinanderfallen der Gesellschaft in Sonderinteressen beruhe, woraus es hervorgehe. Die Erkenntnis von der ökonomischen Bedingtheit der Klassenspaltung der Gesellschaft kann erst gewonnen werden, wenn man den Staat in seiner Entwicklung, den Ursprung der politischen Form der gesellschaftlichen Organisation, der Verfassung, in ihrem Werden auf spürt. Die Verfassung als die Seinsweise des Staates muß aus ihrer Entwicklung begriffen werden.
"Ist das nun das Wahre, daß im Staat, nach Hegel dem höchsten Dasein der Freiheit, dem Dasein der selbstbewußten Vernunft nicht das Gesetz, das Dasein der Freiheit, sondern die blinde Naturnotwendigkeit herrscht? [...] Hegel will überall den Staat als die Verwirklichung des freien Geistes darstellen, aber re vera löst er alle schwierigen Kollisionen durch eine Naturnotwendigkeit, die im Gegensatz zur Freiheit steht. So ist auch der Übergang des Sonderinteresses in das Allgemeine kein bewußtes Staatsgesetz, sondern per Zufall vermittelt, wider das Bewußtsein sich vollziehend." (Marx)*III.25
Hier ist die Hegelsche Antinomie noch in keiner Weise gelöst. Man kann sie nur lösen, wenn man sich darüber Klarheit verschafft, wie denn die tatsächlichen Veränderungen der Verfassung, "wider das Bewußtsein

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sich vollziehend"
, aus dem gesellschaftlichen Werden hervorgegangen sind. "Ganze Staatsverfassungen haben sich allerdings so verändert, daß nach und nach neue Bedürfnisse entstanden, daß das Alte zerfiel usw.; aber zu der neuen Verfassung hat es immer einer förmlichen Revolution bedurft."*III.26 Die Veränderungen der Verfassung, der politischen Organisation der Gesellschaft gingen nur auf revolutionärem Wege vor sich. Wer macht aber die Revolution? Woraus entspringen die Bedingungen der revolutionären Umwälzung der Verfassung, worin findet sie seine gesellschaftliche Grundlage? Wer macht denn überhaupt die Gesetze, wer ändert sie? Wird von dem Unterschied zwischen Gesetz und Verfassung gesprochen, so entsteht die Frage, von wem denn die Verfassung, von wem das Gesetz die höhere Weihe der Unantastbarkeit erhält.
"Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist. [...] Die gesetzgebende Gewalt macht das Gesetz nicht; sie entdeckt und formuliert es nur." (Marx)*III.27
Wirklich ist die Verfassung nur, wenn sie Ausdruck des Volkswillens ist. Der Volkswille macht die Gesetze. Der gesetzgebenden Gewalt, den Institutionen des Staates als der rechtlichen und politischen Organisation der Gesellschaft fällt lediglich die Aufgabe zu, das im Volkswillen verkörperte gesellschaftliche Gesetz zu entdecken und zu formulieren. Der politische Überbau der gesellschaftlichen Realität wird auf diese Weise in seiner Funktion darauf beschränkt, das zum Ausdruck zu bringen, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit bereits ausgereift ist. Und die Formulierung, daß die Institutionen des Staates, der politische Überbau der Gesellschaft, den gesellschaftlichen Unterbau nur zu entdecken und ihm eine (juristische, moralische oder sonstwie ideologische) Formulierung zu geben haben, klingt bereits wie eine Vorwegnahme der erst wesentlich später in aller Prägnanz formulierten These: Die Arbeiterklasse "hat keine Ideale zu verwirklichen, sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben".*III.28

Die Elemente der gesellschaftlichen Realität sind es nun, denen

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nachgespürt werden muß. Die abstrakte Idee in ihrer Entwicklung, in dem Übergang ihrer Substanz in die Empirie der gesellschaftlichen Erscheinungen, ist abgelöst durch die immanente gesellschaftliche Realität in ihrer Selbstentwicklung. An die Stelle jener primären ontologischen Kategorie der Hegelschen Geschichtsphilosophie treten nunmehr soziologische Kategorien der materialistischen Geschichtsauffassung. Freilich ist die neue Geschichtsauffassung erst in ihren Keimansätzen entwickelt, freilich ist sie noch eingehüllt in das Gewand junghegelianischer Ausdrucksweise, freilich ist sie noch beherrscht von Feuerbachschen Begriffsbildungen; aber der bloß anschauende Materialismus Feuerbachs ist überwunden, und der wesentlichste Gehalt der neuen Auffassung des "realen Humanismus" ist die Aktivität, die eigene umwälzende Tätigkeit des sozialisierten, vergesellschafteten Menschen. So wird auch der Zweck der Organisation der menschlichen Gesellschaft unumwunden als die Durchsetzung der eigenen gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen, der Person gefaßt:
"Hegel faßt Gesellschaft, Familie usw., überhaupt die moralische Person, nicht als die Verwirklichung der wirklichen empirischen Person, sondern als wirkliche Person, die aber das Moment der Persönlichkeit erst abstrakt in ihr hat. Daher kommt bei ihm auch nicht die wirkliche Person zum Staat, sondern der Staat wird erst zur wirklichen Person kommen. Statt daß daher der Staat als die höchste Wirklichkeit der Person, als die höchste soziale Wirklichkeit des Menschen, wird ein einzelner empirischer Mensch, wird die empirische Person als die höchste Wirklichkeit des Staats hervorgebracht." (Marx)*III.29
Wenn dagegen der Staat nur der Ausfluß der sozialen Wirklichkeit des Menschen ist, so ist damit zugleich die Aufgabe vorgezeichnet, diese soziale Wirklichkeit selbständig zu organisieren, den Staat den Interessen der gesamten Gesellschaft unterzuordnen, den Staat als politische Organisation aufzulösen durch die eigene organisierende und umwälzende Tat der Menschen, wie es dann kurz darauf in der Abhandlung Zur Judenfrage heißt:
"Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ´forces propres´ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht." (Marx)*III.30
Im Verlauf der Darstellung ist gezeigt worden, wie der Staat sich dem gesellschaftlichen Ganzen entfremdet, wie der Mechanismus dieser

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Entfremdung und Entäußerung eine Sonderexistenz der Träger der Staatsfunktionen mit sich bringt. Und es ist auch weiterhin gezeigt worden, daß der Urgrund dieser Entfremdung innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen nicht etwa aus der Entwicklung irgendeines Abstraktums, sondern aus der Entfaltung der Elemente der gesellschaftlichen Realität hervorgeht. Der Staat ist somit in seinem Ursprung auf gesellschaftliche Phänomene zurückgeführt, als gesellschaftliche Erscheinung aufgewiesen:
"Die Atomistik, in die sich die bürgerliche Gesellschaft in ihrem politischen Akt stürzt, geht notwendig daraus hervor, daß das Gemeinwesen, das kommunistische Wesen, worin der einzelne existiert, die bürgerliche Gesellschaft getrennt vom Staat oder der politische Staat eine Abstraktion von ihr ist." (Marx)*III.31
Es genügt aber nicht, den Mechanismus der Loslösung des politischen Staates von der Gesellschaft, der Entfremdung des Staats darzustellen, sondern es müssen auch die gesellschaftlichen Ursachen dieser Erscheinung aufgedeckt werden. Sie treten zutage, wenn man das Verhältnis des abstrakten, politischen Staates zum Privateigentum einer näheren Betrachtung unterzieht. Für die Marxsche Untersuchung wird es mehr als ein Symbol, das für Hegel das Institut des Majorates zugleich die "souveräne Herrlichkeit des Privateigentums" mit den Souveränitätsfunktionen des Staates verknüpft:
"Was ist (fragt Marx - A.G.) der Inhalt [...] des politischen Zwecks (des Majorats - A.G.), was ist der Zweck dieses Zweckes? [...] Welche Macht übt der politische Staat über das Privateigentum im Majorat aus? Daß er es isoliert von der Familie und der Sozietät, daß er es zu einer abstrakten Verselbständigung bringt. Welches ist also die Macht des politischen Staates über das Privateigentum? Die eigene Macht des Privateigentums, sein zur Existenz gebrachtes Wesen. Was bleibt dem politischen Staat im Gegensatz zu diesem Wesen übrig? Die Illusion, daß er bestimmt, wo er bestimmt wird." (Marx)*III.32
Und was bestimmt den Willen des Staates? Das Privateigentum.
"Die ´Unveräußerlichkeit´ des Privateigentums ist in einem die ´Veräußerlichkeit´ der allgemeinen Willensfreiheit und Sittlichkeit. Das Eigentum ist hier nicht mehr, ´insofern ich meinen Willen darin lege´, sondern mein Wille ist, ´insofern er im Eigentum liegt´. Mein Wille besitzt hier nicht, sondern ist besessen." (Marx)*III.33
Das Privateigentum regiert den Staat, besitzt den Staatswillen:
"Die Unabhängigkeit, die Selbständigkeit in dem politischen Staat [...] ist das Privateigentum. [...] Die politische Unabhängigkeit fließt daher nicht ex proprio sinu des politischen Staats ... [...] sondern die Glieder des politischen Staats empfangen ihre Unabhängigkeit von einem Wesen, welches nicht das Wesen des politischen Staats ist [...] [53] vom abstrakten Privateigentum." (Marx)*III.34
"Das Majorat ist bloß eine besondere Existenz des allgemeinen Verhältnisses von Privateigentum und politischem Staat. [...] Die Verfassung ist also hier Verfassung des Privateigentums." (Marx)*III.35
Die Aufgabe der soziologischen Untersuchung ist demzufolge, die nun entdeckte Beziehung zwischen Staat und Privateigentum rückblickend in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft aufzuweisen, festzustellen, welches die Wurzeln dieses Zusammenhanges sind, wie es kommt, daß die Verfassung des Staates, der doch das Allgemeininteresse des Gemeinwesens zu verkörpern hat, zur Verfassung des Privateigentums geworden ist. Die Weiterentwicklung der hier im Keime vorhandenen Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung führt zu der Erkenntnis, daß die "Eigentumsverhältnisse", wie das später einmal formuliert wird, "nur ein juristischer Ausdruck der vorhandenen Produktionsverhältnisse"*III.36 sind. Somit ist aber auch der Staat nichts anderes als der juristische und politische Überbau jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen im Prozeß der Produktion ihres materiellen Lebens eingehen. Auf diese Weise ist der Staat als soziales Gebilde definitiv und eindeutig bestimmt. Der Staat kann nunmehr gefaßt werden als eine Erscheinungsform der bürgerlichen Gesellschaft, er ist nicht nur formal, sondern auch in seinem materiellen Inhalt ein gesellschaftliches Phänomen. Die weitere Frage der soziologischen Untersuchung ist nur noch, wozu die menschliche Gesellschaft eine solche Erscheinungsform, eine solche politische Organisation braucht, wie der Staat als soziales Gebilde, als allseitig gesellschaftlich bedingte Organisation des Gemeinwesens notwendig geworden ist und wie er als notwendig geworden begriffen werden kann.

IV. Der Staat als soziales Gebilde

Klassenscheidung und Klassenherrschaft
Die materialistische Geschichtsauffassung begreift den Staat als gesellschaftliches Phänomen. Es ist in der bisherigen Darstellung gezeigt worden, wie in der Anfangsphase der Herausbildung der materialistischen Geschichtsauffassung sich die Einsicht in die soziale Natur des Staats herauskristallisiert. Der Mechanismus der Entfremdung, der Loslösung des Staates von seinem Mutterboden, von der Naturbasis der bürgerlichen Gesellschaft, wurde in der ersten umfassenden Marxschen Darstellung, die uns bekannt ist, skizziert und anschließend die Zurückführung der Staatsverfassung auf die Verfassung des Eigentums als die Aufgabe der konkreten soziologischen Untersuchung formuliert. Zwei Jahre nach der Abfassung der Randbemerkungen zur Hegelschen Rechtsphilosophie, an die die Darstellung im dritten Kapitel anknüpfen konnte, legte Marx, nunmehr in Gemeinschaft mit Engels, in einer großen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Junghegelianertums die Fundamente seiner Geschichtsauffassung nieder. Diese Auseinandersetzung, die Schrift Die deutsche Ideologie (1845)*IV.1 , bedeutet in dem Werdegang der materialistischen Geschichtsauffassung einen erheblichen Schritt vorwärts. Hier begnügt man sich nicht mehr mit der apodiktischen Feststellung der sozialen Natur des Staates, man geht weiter, man dringt in die Tiefen des gesellschaftlichen Lebens ein, man spürt dem Staat nach in allen Abzweigungen und Verästelungen des sozialen Zusammenlebens der Menschen; man läßt die gesellschaftliche Realität nicht mehr bloß aktive, aber doch im wesentlichen undifferenzierte Substanz sein, man sucht die Elemente des gesellschaftlichen Werdens dort, wo die Menschen als gesellschaftliche Wesen wirksam sind. Dabei drängt sich als erstes die Einsicht auf, daß es "die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeug-

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ten"
*IV.2 , sind, von denen jede gesellschaftswissenschaftliche Untersuchung auszugehen hat:
"Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. [...] Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst. Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab." (Marx)*IV.3
Dies, die Produktion des materiellen Lebens als gesellschaftliche Produktion, ist jener allein gegebene soziale Raum, in dem die menschliche Geschichte sich abspielt. Der materielle Produktionsprozeß ist zunächst der äußere Rahmen, in dem alles gesellschaftliche Geschehen vor sich geht. Aber er ist auch mehr:
"Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion." (Marx)*IV.4
Hegels trotz all ihrer Vernunftlisten leere absolute Substanz der Weltgeschichte ist verschwunden. An ihre Stelle tritt die Realität der menschlichen Geschichte, rahmenbestimmt, aber auch inhaltsbestimmt durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, der letztlich nichts anderes ist als die gesellschaftliche Lebensweise der Menschen. Zum Objekt einer soziologischen Interpretation der Geschichte müssen damit "sowohl die vorgefundenen als auch die durch die Aktion der Menschen erzeugten materiellen Lebensbedingungen" werden, d. h., auf der einen Seite die Natur, wie sie in ihrer Produktivkraft in den Bereich des gesellschaftlichen Lebens eintritt, seine Voraussetzung und (als gesellschaftliche Produktivkraft) seine bestimmende Basis wird, auf der anderen Seite die gleiche Naturbasis der menschlichen Gesellschaft, wie sie "durch die Aktion der Menschen modifiziert" wird.*IV.5 Wir

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erhalten die grundlegenden Kategorien der materialistischen Geschichtsauffassung: die gesellschaftlichen Produktivkräfte, sowohl die Produktivkräfte der Natur in ihrem Urzustände als auch die Produktivkräfte der Menschen (die menschliche Arbeitskraft) und die somit gegebenen natürlichen Produktivkräfte in ihrer gesellschaftlich-historischen Modifikation durch die Aktion der Menschen (Technik, soziale, durch die Umwälzungen der Technik bedingte Veränderungen der

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menschlichen Arbeitskraft)*IV.6 die Lebensweise der Menschen, ihre Art, zu produzieren, bestimmt durch die Merkmale der Objekte der Produktion und der Modalitäten der Produktion, die Produktionsweise*IV.7 , schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse*IV.8 , die die Menschen in ihrer Aktion, d. h., in der Produktion des materiellen Lebens eingehen.

Im Rahmen dieser Kategorienlehre ist der Standort der Entwicklung des Staates leicht zu bestimmen und damit auch die Methode der Aufdeckung seiner historischen Wurzeln unschwer zu finden.

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"Bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor, aber dieser Individuen nicht, wie sie in der eigenen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d. h. wie sie wirken, materiell produzieren also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind." (Marx)*IV.9
Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat sind hier einander nebengeordnet als Ergebnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Ihr gegenseitiger Zusammenhang ist noch nicht näher definiert. Es kommt nun darauf an, das wechselseitige Verhältnis zwischen der Produktion des materiellen Lebens und der gesellschaftlichen Gliederung (den Produktionsverhältnissen) wie sie aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß hervorgeht, im Detail zu bestimmen.*IV.10 Die erste entscheidende gesellschaftliche Gliederung - das steht für Marx und Engels bereits im Jahre 1845 fest - ist die Arbeitsteilung innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, die Aussonderung einzelner gesellschaftlicher Funktionen, die einzelnen Individuen oder ganzen Schichten übertragen werden und auf deren Basis dann die Aneignung von Produktionsmitteln durch einzelne Mitglieder der Gesellschaft bzw. durch einzelne Familien und Kasten erfolgt. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird abgeleitet aus den Produktionsvorgängen selbst, sie erscheint als die Grundlage der Entstehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit, da der Besitz oder Nichtbesitz an Produktionsmitteln das primäre Merkmal der Klassenscheidung ist, auch als Grundlage der Bildung von Gesellschaftsklassen*IV.11 Somit sind die ersten grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche gegeben, ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Ganze ist es, die zunächst einmal einer näheren Betrachtung unterliegt:

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"Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke - in dem einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem andern in Beziehung auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird. - Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existiert dies gemeinschaftliche Interesse nicht etwa bloß in der Vorstellung als »Allgemeines«, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist. Eben aus diesem Widerspruch des besonderen und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- und Stammkonglomerat vorhandenen Bande, von Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit in größerem Maßstäbe und sonstigen Interessen - und besonders [...] der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle anderen beherrscht. Hieraus folgt, daß alle Kämpfe innerhalb des Staats, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokratie und Monarchie, der Kampf um das Wahlrecht etc. etc., überhaupt das Allgemeine als die illusorische Form des Gemeinschaftlichen, nichts als die illusorischen Formen sind, in denen die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen untereinander geführt werden [...] und ferner, daß jede nach der Herrschaft strebende Klasse, wenn ihre Herrschaft auch, wie dies beim Proletariat der Fall ist, die Aufhebung der ganzen alten Gesellschaftsform und der Herrschaft überhaupt bedingt, sich zuerst die politische Macht erobern muß, um ihr Interesse wieder als das allgemeine, wozu sie im ersten Augenblick gezwungen ist, darzustellen. Eben weil die Individuen nur ihr Besonderes, für sie nicht mit ihren gemeinschaftlichen Interessen Zusammenfallendes suchen, wird dies als ein ihnen »fremdes« und von ihnen »unabhängiges«, als ein selbst wieder besonderes und eigentümliches »Allgemein«-Interesse geltend gemacht, oder sie selbst müssen sich in diesem Zwiespalt begegnen wie in der Demokratie. Anderseits macht denn auch der praktische Kampf dieser beständig wirklich den gemeinschaftlichen oder illusorischen gemeinschaftlichen Interessen entgegentretenden Sonderinteressen die praktische Dazwischenkunft und Zügelung durch das illusorische »Allgemein«-Interesse als Staat nötig." (Marx)*IV.12
Dies ist also die nähere Bestimmung der Funktionen des Staates als der Organisation des herrschenden Sonderinteresses innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen. Diese Definition soll freilich nicht besagen, daß der Staat nunmehr oberhalb der Gesellschaft ein eigengesetzliches Dasein führt. Seine Entstehung wie sein Funktionieren sind bedingt durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind es, die den Staat entstehen lassen und ihn sozusagen "zusammenhalten", nicht umgekehrt.*IV.13 Damit aber der Staat

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seiner Funktion der Wahrnehmung des Sonderinteresses der herrschenden Klasse gerecht werde, muß er - wir haben das im dritten Kapitel bereits im einzelnen gesehen, und das soeben angeführte Zitat unterstreicht es besonders deutlich - die Vertretung des vermeintlichen Allgemeininteresses für sich in Anspruch nehmen, worin die Ausübung der ideologischen Herrschaft der die Gesellschaft beherrschenden Klasse vermittels des Staates sowohl als Ideologie wie auch als Apparat zum Ausdruck kommt.*IV.14 Immer deutlicher wird somit die ideologische Funktion des Staates sichtbar, die aber auch wiederum nicht ausgeübt werden kann, solange der Staat nicht einen besonderen Herrschaftsapparat mit einer besonderen Schicht der Apparatfunktionäre herausgebildet hat.*IV.15 Dies alles verdeutlicht nun die Herrschaft einer einzelnen Gesellschaftsklasse innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen als das konstitutive Element des Staates. Der Staat geht aus der gesellschaftlichen Gliederung hervor, er ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der ihr folgenden Entstehung des Privateigentums an

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den Produktionsmitteln und der auf diesem basierenden Klassenschichtung, die Herrschaft von Klassen wird nichts anderes als "die Form der gesellschaftlichen Ordnung."*IV.16 Wir erhalten somit für die Bestimmung der Funktionen und des Wesens des Staates folgende zusammenfassende Darstellung:
"Bei den aus dem Mittelalter hervorgehenden Völkern entwickelt sich das Stammeigentum durch verschiedene Stufen [...] bis zum modernen, durch die große Industrie und universelle Konkurrenz bedingten Kapital, dem reinen Privateigentum, das allen Schein des Gemeinwesens abgestreift und alle Einwirkung des Staates auf die Entwicklung des Eigentums ausgeschlossen hat. Diesem modernen Privateigentum entspricht der moderne Staat. [...] Die Bourgeoisie ist schon, weil sie eine Klasse, und nicht mehr ein Stand ist, dazu gezwungen, sich national, nicht mehr lokal zu organisieren, und ihrem Durchschnittsinteresse eine allgemeine Form zu geben. Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er ist aber weiter nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin, zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben [...] Da der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt, so folgt, daß alle gemeinsamen Institutionen durch den Staat vermittelt werden, eine politische Form erhalten. Daher die Illusion, als ob das Gesetz auf dem Willen, und zwar auf dem von seiner realen Basis losgerissenen, dem freien Willen beruhe. Ebenso wird das Recht dann wieder auf das Gesetz reduziert." (Marx)*IV.17
Diese letzte zusammenfassende Definition, die wir aus der Marx-Engelsschen Arbeit Die deutsche Ideologie anführen, enthält die Charakterisierung der zweifachen Art der Funktionen des Staates, von der schon oben die Rede gewesen ist, in der denkbar präzisesten Form. Für die Klassenherrschaft einer besonderen Gesellschaftsklasse ist die "Dazwischenkunft" des Staates einerseits ein Instrument zur organisierten gewaltsamen Durchsetzung ihrer Sonderinteressen (Staat als Organisation, Apparat des Staates) und anderseits wiederum das Mittel, das Bewußtsein der anderen Gesellschaftsklassen zu beeinflussen, die gesellschaftlichen Bewußtseinsinhalte zu bestimmen, die Ideen der herrschenden Klasse zu den herrschenden Ideen der Zeit zu machen. So erhält die "soziale, aus ihrem Besitz hervorgehende Macht" der herrschenden Klasse "in der jedesmaligen Staatsform ihren praktisch-idealistischen Ausdruck".*IV.18 Der Staat als Organisation von Klassenherr-

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schaft ist aber, darauf wird von vornherein der Nachdruck gelegt, keineswegs die Urform des menschlichen Gemeinwesens, keineswegs ihre "naturwüchsige" und einzig denkbare Organisation; er ist vielmehr die Aufhebung, Auflösung und Vernichtung der aus der primitiven Organisation der Produktionsverhältnisse entquollenen Formen der Urgemeinschaft:
"In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat usw. existierte die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen und nur insofern sie Individuen dieser Klasse waren. Die scheinbare Gemeinschaft, zu der sich bisher die Individuen vereinigten, verselbständigte sich stets ihnen gegenüber und war zugleich, da sie eine Vereinigung einer Klasse gegenüber einer anderen war, für die beherrschte Klasse nicht nur eine ganz illusorische Gemeinschaft, sondern auch eine neue Fessel. In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit." (Marx)*IV.19
Die Herbeiführung der wirklichen Gemeinschaft, die Wiederherstellung der Einheit des gesellschaftlichen Ganzen, die Beseitigung der Klassenschichtung und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft werden somit zur Voraussetzung der Emanzipation der beherrschten Klasse. Diese Emanzipation schließt aber, weil der Staat die Organisa-

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tion der Klassenherrschaft ist, die Aufhebung des Staates schlechthin ein:
"Während [...] die entlaufenden Leibeigenen nur ihre bereits vorhandenen Existenzbedingungen frei entwickeln und zur Geltung bringen wollten und daher in letzter Instanz nur bis zur freien Arbeit kamen, müssen die Proletarier, um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigene bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit [das heißt: das System der Lohnarbeit. - A.G.], aufheben. Sie befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck geben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen." (Marx)*IV.20
Die Aufhebung des Staates als der Organisation der Klassenherrschaft ist mithin die historische Aufgabe der letzten unterdrückten Klasse, des Proletariats, durch deren Verwirklichung der dialektische Umschlag der Geschichte von der in Klassen gespaltenen zur klassenlosen Gesellschaft vollzogen wird.

Die hier skizzierte Darstellung der geschichtlichen Entwicklung und der aus ihr erwachsenden historischen "Mission des Proletariats" besitzt freilich nur dann Gültigkeit, wenn die historische Voraussetzung richtig ist, das heißt, wenn der Staat in der Tat aus der Klassenspaltung der menschlichen Gesellschaft als Organisation der herrschenden Klasse entstanden ist. Der Abriß der geschichtlichen Entwicklung, wie er im Jahre 1845 vom Standort der materialistischen Geschichtsauffassung aus gegeben werden konnte, hat selbstverständlich mit der weiteren Fortbildung der Marx-Engelsschen Geschichts- und Gesellschaftstheorie, mit der Vertiefung der geschichtlichen und ökonomischen Kenntnisse der Schöpfer der materialistischen Geschichtsauffassung in manchem Detail gewichtige Modifikationen erfahren. Aber das Ergebnis ist das gleiche geblieben. In der Spätperiode seines Schaffens hat Friedrich Engels im Anti-Dühring noch einmal einen summarischen Abriß der Geschichte der Entstehung der Klassen und des Staates gegeben, und er kam zu einem Ergebnis, das in allen wesentlichen Punkten mit dem oben dargestellten übereinstimmt.
"Es herrschte in der primitiven Gesellschaft,"
schrieb Engels,
"eine gewisse Gleichheit der Lebenslage und für die Familienhäupter auch eine Art Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung - wenigstens eine Abwesenheit von Gesellschaftsklassen, die noch in den naturwüchsigen ackerbautreibenden Gemeinwesen der späteren Kulturvölker fortdauert. In jedem solchen Gemeinwesen bestehen von Anfang an gewisse gemeinsame Interessen, deren Wahrung einzelnen, wenn auch unter Aufsicht der Gesamtheit, übertragen werden muß. [..1 Dergleichen Beamtungen finden sich in den urwüchsigen Gemeinwesen zu jeder Zeit. [...] Sie sind selbstredend mit einer gewissen Machtvollkommenheit [64] ausgerüstet und die Anfänge der Staatsgewalt. Allmählich steigern sich die Produktivkräfte, die dichtere Bevölkerung schafft hier gemeinsame, dort widerstreitende Interessen zwischen den einzelnen Gemeinwesen, deren Gruppierung zu größeren Ganzen wiederum eine neue Arbeitsteilung, die Schaffung von Organen zur Wahrung der gemeinsamen, zur Abwehr der widerstreitenden Interessen hervorruft. Diese Organe, die schon als Vertreter der gemeinsamen Interessen der ganzen Gruppe jedem einzelnen Gemeinwesen gegenüber eine besondere, unter Umständen sogar gegensätzliche Stellung haben, verselbständigen sich bald noch mehr, teils durch die [...] fast selbstverständlich eintretende Erblichkeit der Amtsführung, teils durch ihre, mit der Vermehrung der Konflikte mit anderen Gruppen wachsende Unentbehrlichkeit [...] Es kommt hier nur darauf an, festzustellen, daß der politischen Herrschaft überall eine gesellschaftliche Amtstätigkeit zu Grunde lag." (Engels)*IV.21
Wir sehen hier den Staat als Organ der Beherrschung einzelner Gesellschaftsschichten durch andere aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung - und zwar nicht nur innerhalb einer Gesellschaftseinheit sondern auch zwischen verschiedenen Gemeinwesen - hervorgehen. Das Ergebnis wird von Engels an einer anderen Stelle zusammengefaßt:
"Die bisherige, sich in Klassengegensätze bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, d. h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebenen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unserer Zeit der Bourgeoisie." (Engels)*IV.22
Die gleiche Entwicklung des Staates aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gibt Engels auch später in Ursprung der Familie anhand der historischen Darstellung einzelner Typen des primitiven Gemeinwesens und des Ursprunges der Staatsbildung.*IV.23 Dabei wird immer wieder davon ausgegangen, daß die gesellschaftliche Arbeitsteilung zur Herausbildung des Privateigentums und zur Bildung von Klassen führt, deren charakteristisches Merkmal die Stellung zu den gesellschaftlichen Produktionsmitteln ist. Man spricht daher summarisch von dem Besitz oder Nichtbesitz an den Produktionsmitteln als dem Merkmal der Scheidung einer gesellschaftlichen Einheit in verschiedene Gesellschaftsklassen; summarisch ist das zweifellos auch richtig, und von der näheren Interpretation des Klassenbegriffs, die uns noch weiter wird zu

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beschäftigen haben, kann vorerst abgesehen werden. Auch im Ursprung der Familie kommt Engels zu dem gleichen Ergebnis wie im Anti-Dühring:
"Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er »die Wirklichkeit der sittlichen Idee«, »das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft«, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der »Ordnung« halten soll; und diese aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat. Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird, und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse." (Engels)*IV.24
Dieser Darstellung des Werdens des Staates in ihrer konkreteren geschichtlichen Präzisierung liegt Morgans Hypothese der Entstehung der gesellschaftlichen Gliederung aus der innergesellschaftlichen Arbeitsteilung zugrunde.*IV.25 Seit Engels die Morgansche Hypothese

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aufnahm und sie im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung weiterentwickelte, sind gegen die Richtigkeit der Morganschen Ausgangspunkte und Schlußfolgerungen wesentliche Einwände geltend gemacht worden. Die Hypothese der Genesis des Staates, wie sie Engels aufgestellt hat, läßt sich natürlich nur aufrechterhalten, wenn der Staat tatsächlich die Organisation einer aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervorgegangenen Klassenschichtung und Klassenherrschaft ist. Nun ist in jüngster Zeit von Karl Kautsky in seinem Werk Die materialistische Geschichtsauffassung an der Morgan-Engelsschen Hypothese vom Standort der materialistischen Geschichtsauffassung Kritik geübt worden.*IV.26 In seiner Kritik geht Kautsky davon aus, daß die Engelssche Hypothese die Klassenbildung ausschließlich auf die innergesellschaftliche Arbeitsteilung zurückführe. Wir haben inzwischen gesehen, daß das nicht der Fall ist, daß Engels vielmehr auch die Arbeitsteilung "zwischen den einzelnen Gemeinwesen" als Basis der Klassenbildung gelten läßt. Die Hypothese, die Kautsky alsdann aufstellt, kann also auch durchaus im Rahmen der Engelsschen Theorie der Entstehung der Klassen und des Staates Beachtung finden. Sie beruht vornehmlich darauf, daß die "außergesellschaftliche" Arbeitsteilung in den Vordergrund gerückt wird.*IV.27 Es ist dies eine Art "Arbeitsteilung" zwischen seßhafter, ackerbautreibenden Stämmen und nomadischen Hirtenvölkern, die auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte in der ackerbautreibenden Gemeinwesen die Möglichkeit erhalten, ein gewisses Überprodukt dieser Gemeinwesen sich als Ausbeutungsrate nach erfolgter Eroberung anzueignen. Die Klassenbildung entsteht hier aus der Unterwerfung der seßhaften Ackerbauer durch die nomadischen Hirten und ist eine Scheidung zwischen Eroberten und Eroberern.

Was besagt aber diese Hypothese für die Marx-Engelssche Theorie der Staatsbildung und für die Staatssoziologie der materialistischen Geschichtsauffassung? Zunächst ist zu bemerken, daß sie in keiner Weise die Geltung der materialistischen Geschichtsauffassung aufhebt. Auch die Eroberung des Gemeinwesens der ackerbautreibenden Stämme durch die kriegerischen Nomaden erfolgt nur im Rahmen und auf der Basis des gesellschaftlichen Produktionsprozesses und hat einen

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bestimmten Stand der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zur Ursache: eine Verknappung der Subsistenzmittel für die nomadischen Hirtenvölker, einen gewissen Produktionsüberschuß bei den seßhaften Ackerbauern. Die Anerkennung dieser geschichtlichen Tatsache ist daher mit der marxistischen Erklärung der Entstehung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung durchaus vereinbar. Für die Staatsauffassung aber folgt aus der Kautskyschen Hypothese nicht etwa eine Milderung der These vom Klassencharakter des Staates und der gesellschaftlichen Gliederung als seiner Basis, sondern vielmehr ihre Vertiefung und Verschärfung. Denn diese Hypothese zeigt den Staat als von vornherein zufolge seiner ursprünglichen Funktionen mit einer viel größeren Repressionsgewalt ausgestattet, als sich dies nach der Hypothese der Staatsentstehung lediglich aus der innergesellschaftlichen Arbeitsteilung ergeben müßte. Hier ist es nicht mehr eine Absonderung bestimmter gesellschaftlicher "Amtstätigkeiten", aus der der Staat entsteht, sondern der einmalige Akt der Unterwerfung eines Stammes durch einen anderen Stamm, der als solcher die Scheidung des neu entstehenden Gemeinwesens in zwei Gesellschaftsklassen involviert.

Wie ist aber die Herausbildung einer solchen übermächtigen Repressionsgewalt möglich? Die Antwort, die Kautsky gibt und die durch die moderne völkerkundliche Forschung bestätigt wird, ist für die Interpretation der Staatsauffassung des Marxismus von überaus großer Bedeutung. Sie besagt, daß es die spezifischen Produktionsbedingungen eines ackerbautreibenden Gemeinwesens sind, die eine Zersplitterung der ackerbautreibenden Stämme in zahlreiche kleine, voneinander abgesonderte Gemeinwesen mit sich bringen, denen eine gesellschaftliche Triebkraft zur Bildung von Staaten als gesellschaftlichen Organisationen mit Repressionsgewalt nicht innewohnt. Typisch für die gesellschaftliche Struktur dieser Gemeinwesen ist ihr ökonomischer Untergang oder zum mindesten ihre über Jahrtausende hinaus sich erstreckende ökonomische Stagnation unter klimatischen Bedingungen, unter denen die Ackerwirtschaft von der Wasserregulierung abhängig ist und somit umfangreiche, kostspielige Wasserbauten erfordert. Die Durchführung solcher Wasserbauten wird hier zu einer wesentlichen Funktion der neuen Amtstätigkeit der aus dem Eroberervolk hervorgegangenen herrschenden Klasse.*IV.27 Für das amorphe, gestaltlose Bauerntum ist die Schaffung der gewaltigen gesellschaftlichen Organisationen, die sich der

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Aufgabe der Errichtung großer Wasserbauten unterziehen können, nicht möglich. Die Bauernwirtschaft stagniert daher, die Produktivkräfte der Landwirtschaft, die sehr leicht einen Produktionsüberschuß ergeben könnten, können nicht verwertet werden, und auf der andern Seite läßt die Zersplitterung, die mangelhafte Organisation, das Fehlen eines organisierten gesellschaftlichen Apparates die Widerstandskraft der Bauernschaft gegen die Unterdrückung und Niederhaltung durch eine herrschende Klasse so gering werden, daß die Eroberung solcher ackerbautreibenden Gemeinwesen durch nomadische Hirtenstämme hier genauso zu einer geschichtlichen Unumgänglichkeit wird, wie innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion die "Verselbständigung" der Staatsgewalt auf dem Rücken unzähliger parzellierter, zersplitterter Bauernbetriebe, die zufolge ihrer wirtschaftlichen Organisation eine Herausbildung der selbständig produzierenden landwirtschaftlichen Bevölkerung zu einer Gesellschaftsklasse nicht zulassen.

Die Weiterführung und Modifizierung der Engelsschen Hypothese der Staatsentstehung in dem aufgezeigten Sinne ist freilich nicht erst Kautsky*IV.28 zu verdanken. Wir finden sie bereits in Rosa Luxemburgs Einführung in die Nationalökonomie, und hier zeigt die Entwicklung der inner- und außergesellschaftlicher Arbeitsteilung im wesentlichen die gleichen Züge wie im Rahmen der Engelsschen Hypothese. Anhand der wirtschaftlichen Entwicklung der alten peruanischen Markgenossenschaft zeigt Rosa Luxemburg jene nämliche Klassenbildung, die Kautsky als die Arbeitsteilung zwischen den seßhafter Ackerbauern und den nomadischen Hirten bezeichnet:
"Das Eigentümliche an dem alten Inkareich"
, schreibt Rosa Luxemburg,
"ist, daß es ein erobertes Land ist, in dem sich Fremdherrschaft festgesetzt hatte. Die eingewanderten Eroberer, die Inkas, gehörten zwar auch zu den Indianerstämmen, sie unterwarfen sich aber die friedlichen seßhaften Vechuastämme, gerade dank der Weltabgeschiedenheit in der diese in ihren Dörfern lebten, jede Mark nur für sich sorgend in ihren vier Pfählen, ohne Zusammenhang auf größeren Gebieten, ohne Interessen für alles, was außerhalb der Markgrenzen lag und Vorgehen mochte. Diese im höchsten Grade partikularistische soziale Organisation, die den Inkas ihren Eroberungsfeldzug so sehr erleichtert hatte, wurde von ihnen im allgemeinen unangetastet gelassen. Sie pfropften aber auf dieselbe ein raffiniertes System der wirtschaftlichen Ausbeutung und der politischen Herrschaft auf. [...] Was das Merkwürdige jedoch ist: die kommunistische Dorforganisation erwies sich nicht bloß wie schon soviel mal in der Geschichte als solide und geduldige Basis für ein jahrhundertelanges System der Ausbeutung und der Knechtschaft, sondern dieses System seinerseits war auch kommunistisch organisiert. Die Inkas nämlich, die sich auf dem Rücken der unterworfenen peruanischen Stamme wohnlich einrichteten, lebten selbst in Geschlechtsverbänden und markgenossenschaftlichen Verhältnissen. [...] Hier haben wir also vor uns gewissermaßen zwei übereinandergelagerte soziale Schichten, die, beide kommunistisch im Innern organisiert, zueinander in einem Verhältnis der Ausbeutung und Knechtung standen. [...] Die urkommunistische Gesellschaft kannte keine allgemei- [69] nen Prinzipien für alle Menschen; ihre Gleichheit und Solidarität erwuchs aus den Traditionen der gemeinsamen Blutbande und aus dem gemeinsamen Besitz der Produktionsmittel." (Luxemburg)*IV.29
Wir sehen demnach als Merkmal der Klassenbildung nicht die bloße Scheidung der Angehörigen eines gesellschaftlichen Ganzen in "Besitzer und Nichtbesitzer von Produktionsmitteln", sondern den Besitz an verschiedenen Produktionsmitteln, die in der Art ihrer gesellschaftlichen Organisation verschiedene Produktionssysteme, eine verschiedene Produktionsweise bedingen, so daß jene Produktionsweise, die zur gesellschaftlich herrschenden wird, ihre Träger zugleich zur herrschenden Klasse macht.*IV.30 Geht man nun den tieferen Ursachen der Klassenscheidung innerhalb der Inkagesellschaft nach, so gelangt man zu einem Ergebnis, das die Prämisse der materialistischen Geschichtsauffassung durchaus bestätigt und sich mit der Engelsschen Hypothese deckt:
"[...] die im Innern auf wirtschaftlicher Solidarität beruhenden Gemeinwesen konnten und mußten durch die tiefe Stufe der Produktionsentwicklung, durch Unergiebigkeit oder Erschöpfung der Nahrungsquelle bei zunehmender Bevölkerung periodisch dazu getrieben werden, mit anderen gleichgearteten Gemeinwesen in tödlichen Interessenkonflikt zu geraten, in dem der tierische Kampf, der Krieg, entscheiden mußte und dessen Ausgang die Ausrottung einer der streitenden Seiten oder - viel häufiger - die Etablierung eines Ausbeutungsverhältnisses war . [...] Dieselbe geringe Beherrschung der Natur aber war es anderseits, die zugleich den gemeinsamen Plan und das gemeinsame Vorgehen bei der Arbeit nur auf ein verhältnismäßig ganz geringes Gebiet natürlicher Wiesen oder urbar gemachter Dorfansiedelungen beschränkte und sie für ein gemeinsames Vorgehen auf größerem Maßstab ganz ungeeignet machte. [...] Und dieselbe mangelhafte Entwicklung der Produktivität der Arbeit war es endlich, die zugleich auch den periodischen Interessengegensatz zwischen den einzelnen sozialen Verbänden hervorbrachte und damit die rohe Gewalt als das einzige Mittel, diesen Gegensatz zu lösen." (Luxemburg)*IV.30
Hatten wir schon bei Engels (vgl. Anmerkung 108) die Erschöpfung der Nahrungsquellen und die geringe Produktivität der Arbeit in den primitiven Gemeinwesen als einen Umstand kennengelernt, der einer herrschenden Klasse dank einer mehr oder minder zufälligen Anhäufung von Reichtümern in ihren Händen die Etablierung eines Ausbeutungsverhältnisses erlaubte, so sehen wir jetzt die gleichen Momente als

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die Ursachen gesellschaftlicher Konflikte, aus denen kriegerische Zusammenstöße hervorgehen, die ihrerseits wieder die Bildung von gesellschaftlichen Klassen zur Folge haben.
"War aber der Zusammenstoß verschiedener urkommunistischer Gemeinwesen als ständige Erscheinung gegeben, dann entschied über den Ausgang wieder die jeweilige Entwicklung der Produktivität der Arbeit. [...] Wo [...] der Ackerbau bereits so weit gediehen war, daß er seine Leute gut und sicher ernähren konnte, ohne die gesamten Arbeitskräfte und die gesamte Lebenszeit der Betreffenden in Anspruch zu nehmen, da war auch die Grundlage für eine systematische Ausbeutung dieser Ackerbauer durch fremde Eroberer gegeben. Und so sehen wir denn auch solche Verhältnisse entstehen wie in Peru, wo sich ein kommunistisches Gemeinwesen als Ausbeuter eines anderen festsetzt."
Der Zusammenhang zwischen dem Auseinanderfallen des gesellschaftlichen Ganzen in verschiedene Gesellschaftsschichten, der Bildung von Klassen, der gesellschaftlichen Gliederung, und dem Unterbau der Gesellschaft in ihrem materiellen Produktionsprozeß ist somit aufgewiesen. Die Eroberung bäuerlicher Gemeinwesen durch nomadische Stämme ist keine zufällige Erscheinung, kein Deus ex machina, der plötzlich die Klassen und den Staat aus dem Nichts entstehen läßt, sondern ein notwendiges Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung, als deren Anzeiger die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte auftritt. Hier können wir aber auch deutlich sehen, daß es sich nicht um Kräfte einer abstrakten Natur handelt, sondern daß die Produktivkraft der Natur als treibendes Moment der gesellschaftlichen Entwicklung nur so weit in die Erscheinung tritt, als sie zur gesellschaftlichen Produktivkraft wird und in einer Verknappung oder Vermehrung der Subsistenzmittel, in dem Stand der Entwicklung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit einen sozial relevanten Faktor bildet. Als Voraussetzung der Entstehung des Staates auf der Basis der Klassenscheidung innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen sehen wir hier wiederum das Vorhandensein einer breiten Schicht von selbständigen bäuerlichen Produzenten, die zwar in diesem Stadium in einem gewissen Sinne als gesellschaftliche Klasse aufzufassen sind (s. Kap. V), die aber zufolge ihrer ganzen gesellschaftlichen Struktur ein Klassenbewußtsein nicht hervorzubringen vermögen und als aktiver Faktor im gesellschaftlichen Klassenkampf auch nicht auftreten.*IV.31 Die gestaltlose, zersplitterte

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Bauernmasse ist zwar zur Bildung einer staatlichen Organisation des gesellschaftlichen Ganzen nicht befähigt, aber sie ist um so besser dazu geeignet, das Fundament für die im Staat organisierte Klassenherrschaft einer anderen Gesellschaftsklasse abzugeben, wobei diese herrschende Klasse nicht einmal darauf angewiesen ist, ihre Klassenherrschaft selbst auszuüben, sondern sich zu diesem Zweck der Repressionsgewalt des Staatsapparats bedienen kann, dem die Bauernmasse als solche keinen Widerstand entgegensetzt.

Haben wir so den Ursprung der staatlichen Organisation verfolgt, so können wir nunmehr den Prozeß der Entstehung von Gesellschaftsklassen und der Herauskristallisierung ihrer Herrschaftsorganisation als Staat auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft diktiert auf einer bestimmten Stufe die Aussonderung einzelner gesellschaftlicher Funktionen, die nunmehr von besonderen Funktionären verrichtet werden müssen. Innerhalb der Gesellschaft entsteht eine Teilung der Arbeit, und in dem Maße, wie die Entwicklung der Produktivkräfte einzelne Gesellschaftseinheiten auf bestimmte Nahrungsquellen angewiesen sein läßt, die diese gesellschaftliche Organisation zu ihrem Monopolbesitz macht, entsteht auch eine Teilung der Arbeit zwischen verschiedenen Gemeinwesen in dem Sinne, daß es, durch die Natur der ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmittel bestimmt, verschiedene Produktionssysteme sind, in denen sie die Produktion ihres materiellen Lebens vollziehen. Mit dieser Arbeitsteilung schreitet die Aneignung bestimmter Funktionen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß entweder durch eine besondere Gruppe von Menschen innerhalb eines Gemeinwesens oder durch ein einzelnes Gemeinwesen zum Unterschied von den andern fort, es erfolgt die Konzentrierung bestimmter gesellschaftlicher Produktionsmittel, an denen die Verrichtung dieser Funktionen zu geschehen hat, in den Händen der Funktionsträger (sei es einer Schicht innerhalb eines Gemeinwesen, sei es einer besonderen Gesellschaftseinheit). Mit der Monopolisierung dieser Produktionsmittel, die erst nach und nach zu Privateigentum werden, durch die gesellschaftlichen Funktionsträger entstehen Gegensätze zwischen ihnen und den übrigen

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gesellschaftlichen Schichten bzw., wenn es sich um besondere Gemeinwesen handelt, zwischen dem Gemeinwesen dieser Funktionsträger und anderen Gemeinwesen, deren Art, ihr materielles Leben zu produzieren, sie dazu geeignet macht, zum Objekt eines Ausbeutungsverhältnisses zu werden. Hier ist der geschichtliche Standort der Entstehung der Gesellschaftsklassen, der beginnenden Klassenkämpfe, die gerade hier, nämlich auf der Basis eines monopolistischen Besitzes an bestimmten Produktionsmitteln, unmittelbar kein anderes Ergebnis haben können, als die Unterwerfung einer Gesellschaftsklasse durch eine andere; handelt es sich um verschiedene Gemeinwesen mit verschiedenen Produktionssystemen, zwischen denen sich ein gesellschaftliche Gegensatz herausgebildet, so ist für die Entstehung von Gesellschaftsklassen auf dieser Basis die Herrschaft einer von ihnen, die durch die Unterwerfung eines Gemeinwesens durch ein anderes zustande kommt und somit den Grundstein legt für den Klassengegensatz innerhalb eines neuen, vereinigten Gemeinwesens, bereits ein konstitutives Element. Die Organisation dieser Klassenherrschaft, ob sie nun durch innere oder durch äußere Arbeitsteilung, durch Arbeitsteilung innerhalb einer einzelnen Gesellschaftseinheit oder durch Arbeitsteilung zwischen zwei Gemeinwesen entsteht, ist der Staat. Die gesellschaftliche Entwicklung, die zur Staatsbildung führt, ist bestimmt durch die jeweils gegebene Gestaltung der gesellschaftliche Produktionsweise, und der Staat ist dann im Augenblick seines Entstehens nichts anderes als der Ausdruck der innerhalb der Gesellschaft entstandenen Produktionsverhältnisse. Aber als Organisation, als Apparat und als Ideologie erstarrt der Staat zu einem Gebilde, das sich in den Gefilden des gesellschaftlichen Überbaus zu einem Beharrungsfaktor ausbildet, dessen Umwälzung und Veränderung langsamer vor sich geht als die entsprechenden Prozesse im gesellschaftliche Unterbau. Während die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte fortschreitet und aus sich heraus die Grundlage neuer gesellschaftliche Produktionsverhältnisse hervorbringt, bleibt der Staat als die Organisation der alten Produktionsverhältnisse bestehen und wird somit zu einer Fessel für die Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die sie auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung sprengen müssen.

So haben wir aus der Betrachtung des Ursprunges der Klassenbildung innerhalb der menschlichen Gesellschaft auch unter Verwertung der von Engels noch nicht in vollem Umfange berücksichtigten Ergebnisse der ethnologischen Forschung ein Resultat gewonnen, das sich mit der bekannten klassischen Formulierung von Marx deckt:

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"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktionskräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.." (Marx)*IV.32
So erkennen wir den Staat als den politischen Überbau bestimmter Produktionsverhältnisse, als einen Überbau, in dem diese Produktionsverhältnisse gerinnen, erstarren. Sie können nunmehr nicht zerbrochen werden, ohne daß das Gebilde des Staates, in dem sie zu einer festgefügten Organisation geworden sind, zerbrochen wird. Sind die Elemente einer neuen Produktionsweise im Rahmen der alten Produktionsverhältnisse so weit ausgereift, daß schon im Schoße der alten Gesellschaft neben den alten Produktionsverhältnissen neue Produktionsverhältnisse sich mit Naturgewalt durchsetzen, so ist deren Entfaltung nicht anders möglich als durch eine Beseitigung der politischen Organisation der alten Produktionsverhältnisse, des Staates, nicht anders möglich als durch politische Revolution. Neue Produktionsverhältnisse, die die Fundamente der Herrschaft der bis dahin herrschenden Klasse bereits erschüttert haben, bedürfen zu ihrer Festigung auch eines endgültigen Sturzes ihrer politischen Herrschaft, damit der Prozeß der sozialen Revolution, aus dem Widerspruch zwischen der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und den geronnenen alten Produktionsverhältnissen entstanden, in einer politischen Revolution seine Vollendung finde. Ist dagegen im Schoße der alten Gesellschaft die Entstehung neuer Produktionsverhältnisse ihrer ökonomischen Struk-

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tur zufolge nicht möglich - und, wie noch weiter zu zeigen ist, ist das in der kapitalistischen Produktionsweise der Fall -, so muß die in den alten Produktionsverhältnissen begründete Klassenherrschaft gebrochen werden, damit die Elemente der neuen Produktionsweise sich zu neuen Produktionsverhältnissen kristallisieren können. Die Entstehung einer neuen Gesellschaftsordnung die Herausbildung neuer Produktionsverhältnisse ist hier an die Vorbedingung des Sturzes der politischen Herrschaft der bis dahin herrschenden Klasse geknüpft; dieser Sturz der alten Klassenherrschaft, die politische Revolution, ist die Voraussetzung der gesellschaftlichen Umwälzung. Die politische Herrschaft einer Gesellschaftsklasse ist stets an den Bestand einer bestimmten Produktionsweise gebunden, weil sie nichts anderes ist als lediglich politische Organisation der dieser Produktionsweise entsprechenden Produktionsverhältnisse. Ebensowenig wie die volle Entfaltung einer neuen Produktionsweise im Schoße alter Produktionsverhältnisse unter Beibehaltung der alten Klassenherschaft möglich ist, ebensowenig ist auch die Aufhebung der politische Herrschaft einer Klasse möglich, ohne daß die Produktionsverhältnisse zerbrochen werden, deren Politischer Ausdruck sie ist, und ohne daß die Produktionsweise, der diese Produktionsverhältnisse entsprechen, durch eine neue abgelöst wird.

V. Die »Anatomie« des Kapitalismus und die »Mission des Proletariats«

Klassengegensätze, Klassenbewußtsein und Klassenkampf in der kapitalistischen Gesellschaft
Im Verlauf der bisherigen Darstellung wurde das Ergebnis gewonnen, daß eine Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise nach der materialistischen Geschichtsauffassung ohne den Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie ebensowenig möglich ist, wie etwa der Sturz der Klassenherrschaft, die der kapitalistischen Produktionsweise entspricht, ohne die Aufhebung dieser Produktionsweise gedacht werden könnte. Nun ist es nicht zweifelhaft, daß das Marx-Engelssche Denken von dem Moment der revolutionären gesellschaftlichen Aktivität auch seinen wissenschaftlichen Ausgangspunkt genommen hat. Denn Geschichte ist - so weit hatte die Hegelsche Philosophie ihren Triumph bereits verankert - nie anders als im Zusichkommen ihrer Substanz, in der Tätigkeit, in der Entfaltung ihrer Anlage, in der gesellschaftlichen Aktivität. Das geschichtliche Material, das wir erfahren, ist nicht in der Potentia, sondern nur im Fürsichsein der Geschichte, das heißt in der Entfaltung der gesellschaftlichen Tätigkeit gegeben. Insofern ist das geschichtliche Erfahrungsmaterial, das Objekt des wissenschaftlichen Denkens ist, nie außerhalb des erkennenden Subjekts vorhanden, und dieses erkennende Subjekt ist wiederum die Substanz der Geschichte in ihrem Zusichkommen, wiederum also nichts anderes als das tätige, aktive Element des geschichtlichen Prozesses. So ist aber auch die Wissenschaft stets und allenthalben subjektbedingt. Das Subjekt der wissenschaftlichen Erkenntnis modifiziert das Resultat des Erkennens sowohl der Form als auch dem Inhalt nach.
"Die sogenannte historische Entwicklung"
, sagt Marx*V.1 ,
"beruht überhaupt darauf, daß die letzte Form die vergangenen als Stufen zu sich selbst betrachtet und sie immer einseitig auffaßt, da sie selten und nur unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ist, sich selbst zu kritisieren - es ist hier natürlich nicht von solchen historischen Perioden die Rede, die sich selbst als Verfallzeit [76] vorkommen."
Idealtypisch richtige Erkenntnis, eine Erkenntnis, die frei ist von der Einseitigkeit des gegebenen geschichtlichen Erkenntnissubjektes, die frei ist von historischer und sozial querschnittlicher Bedingtheit, kann daher nur in einer Richtung gesucht werden, in der das Resultat der Erkenntnis nicht mehr modifiziert werden kann durch die historische und soziale Determination des erkennenden Subjektes, das heißt nur in einer Richtung, in der das Zusammenfallen des Erkenntnissubjektes mit dem Objekt der Erkenntnis wenigstens in geschichtlicher Perspektive gedacht werden kann. Sie kann nur gesucht werden in einer Richtung, in der das erkennende Subjekt nicht außerhalb der Totalität des Erkenntnismaterials steht und umgekehrt das Objekt des Erkennens nicht außerhalb der geschichtlichen Totalität des Erkenntnissubjektes, als welches in der Ganzheit der gesellschaftlichen Entwicklung soll gedacht werden können. Das Subjekt der Erkenntnis ist indes zu jeder Zeit und in jeder geschichtlichen Situation gegeben. Marx sagt zu der sozialen Bedingtheit der ökonomischen Erkenntnis:
"Wie überhaupt bei jeder historischen sozialen Wissenschaft, ist bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten, daß wie in der Wirklichkeit, so im Kopfe das Subjekt, hier [das heißt in der politischen Ökonomie des Bürgertums. - A. G.] die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjektes, ausdrücken." (Marx)*V.2
Da das Subjekt des Erkennens nun die menschliche Gesellschaft ist oder, konkreter gesprochen, der gesellschaftliche Klassenkampf als die Realität des gesellschaftlichen Daseins der Menschen, rahmenbestimmt durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, so ist ohne weiteres einzusehen, daß das erkennende Subjekt mit der gesellschaftlichen Totalität, die zum Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis gemacht werden soll, nicht zusammenfällt, daß man, wenn man als das Erkenntnissubjekt die Gesellschaft schlechthin unterstellt, jedesmal nur eine pars pro toto, einen isolierten Teil an Stelle des gesellschaftlichen Ganzen setzt. Denn in der Tat ist das wissenschaftlich erkennende Subjekt in der in Klassen gespaltenen Gesellschaft nie die Gesamtheit ihrer Gesellschaftsklassen, und wäre sie dies, so wäre damit doch noch nicht der Standpunkt des gesellschaftlichen Ganzen als für das erkennende Subjekt charakteristisch gegeben.
"Die Gedanken der herrschenden Klasse [77] sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten, herrschenden materiellen Verhältnisse; also die Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrscher. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter anderem auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter anderem auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind." (heißt es in dem Feuerbach-Fragment der Deutschen Ideologie)*V.3
So wird denn das Bewußtsein der in der Gesellschaft zufolge der Struktur der jeweiligen Produktionsweise herrschenden Klasse zum konkreten Erkenntnissubjekt. Soll also die Auflösung der Subjektbedingtheit des Erkenntnisresultates angestrebt werden, soll in irgendeiner Form eine Subjekt-Objekt-Einheit für das erkennende Denken gesucht, das Zusammenfallen des Subjektes mit dem Objekt in der geschichtlichen Wirklichkeit als Voraussetzung einer idealtypischen Erkenntnis aufgefaßt werden, so muß das erkennende Subjekt mit der gesellschaftlichen Totalität identisch, die gesellschaftliche Totalität als solche, die in der Klassengesellschaft aufgehoben ist, wiederhergestellt werden. Die Voraussetzung jener idealtypisch richtigen Erkenntnis kann daher nicht anders gefaßt werden denn als Beseitigung der Klassengegensätze, Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft. Dann aber wird ebensosehr zur Voraussetzung wissenschaftlichen Erkennens auch die Auffindung einer geschichtlichen Prognose für das tendenzielle Eintreten der klassenlosen Gesellschaft, mit anderen Worten: es muß zuallererst die Erkenntnis der Möglichkeiten bzw. der Notwendigkeit der Herbeiführung einer klassenlosen Gesellschaft aufgespürt werden. Da aber letztlich auch diese Erkenntnis, auch die Feststellung der etwa zur klassenlosen Gesellschaft führenden oder von ihr entfernenden Tendenzen subjektbedingt sein muß, ist es unerläßlich, daß zunächst einmal die Modifizierung auch dieser Feststellung durch die nun einmal noch nicht überwundene Klassenspaltung des gesellschaftlichen Ganzen erkannt werde, daß Richtung und Gewicht der Erkenntnismodifizierung durch die Tatbestände der Klassengesellschaft, durch die Klassenlage und das ihr zugerechnete Klassenbewußtsein bestimmt werden.

Was die Differentia specifica, das bestimmende Merkmal einer Gesellschaftsklasse ist, wurde in der voraufgegangenen Darstellung erörtert.

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Aber auch wir hatten im Verlauf unserer Darstellung gesehen, daß die materialistische Geschichtsauffassung zweierlei Klassenmerkmale kennt, daß nicht nur der Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln als Klassenmerkmal zu beachten ist, sondern darüber hinaus innerhalb der Besitzer der Produktionsmittel noch ein anderes Merkmal Geltung beansprucht: die Monopolisierung bestimmter Produktionsmittel durch eine einzelne Gesellschaftsschicht. Wir haben es weiterhin auch nicht nur mit zweierlei Klassenmerkmalen, sondern auf den ersten Blick auch mit zweierlei Typen von Klassen im Gange der geschichtlichen Entwicklung zu tun. So sagt Marx einmal, daß man bei der oberflächlichen geschichtlichen Analogie zwischen den Klassenkämpfen im alten Rom etwa und den Klassenkämpfen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft die Hauptsache übersehe, "daß nämlich im alten Rom der Klassenkampf nur innerhalb einer privilegierten Minorität spielte, zwischen den freien Reichen und den freien Armen, während die große produktive Masse der Bevölkerung, die Sklaven, das bloß passive Piedestal für jene Kämpfer bildete. Man vergißt Sismondis bedeutenden Ausspruch: Das römische Proletariat lebte auf Kosten der Gesellschaft, während die moderne Gesellschaft auf Kosten des Proletariats lebt."*V.4 Was aber ist dann das Merkmal der Klassenspaltung innerhalb jener privilegierten Klassenschicht, in der die Klassenkämpfe spielten? Der Besitz von Produktionsmitteln ist für diese Gesellschaftsschicht in ihrer Gesamtheit kennzeichnend. Eine Spaltung innerhalb dieser Schicht von Produktionsmittelbesitzern kann also nur dann entstehen, wenn, wie in Kapitel IV gezeigt worden ist, bestimmte Produktionsmittel (ungeteilte Gemeindeländereien, der ager publicus im alten Rom) von einzelnen Angehörigen oder einer Gruppe von Angehörigen dieser Schicht monopolisiert werden. Dieses Monopol an bestimmten Produktionsmittel-

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teln
untergräbt die Existenzgrundlagen anderer Teile derselben Gesellschaftsschicht, die von der Benutzung dieser Produktionsmittel ausgeschlossen sind, so daß innerhalb der Herrenschicht ein Klassengegensatz auftritt, ein Klassenkampf zwischen zwei Schichten, deren charakteristisches Merkmal letzten Endes die Zugehörigkeit zu verschiedenen Produktionssystemen ist.

Diese Klassenschichtung innerhalb der Produktionsmittelbesitzer läßt sich im einzelnen sehr genau auch für die kapitalistische Produktionsweise aufzeigen, in Gestalt des Klassengegensatzes zwischen den Grundeigentümern als den Beziehern der Grundrente und den Kapitalisten als den Beziehern des Profits.
Der Kapitalist, sagt Marx,
"ist dem Arbeiter gegenüber der unmittelbare Besitzer des ganzen Mehrwerts, wenn er ihn auch später mit Geld verleihenden Kapitalisten, Grundeigentümern usw. teilen mag. Die Produktion [...] könnte daher ungestört fortgehen, wenn der Grundrentner verschwände und der Staat an seine Stelle träte. Er - der Privatgrundeigentümer - ist kein notwendiger Produktionsagent für die kapitalistische Produktion, obgleich es nötig für sie ist, daß das Grundeigentum jemandem, nur nicht dem Arbeiter, also z. B. dem Staate, gehöre. Diese im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise [...] gegründete Reduktion der unmittelbar in der Produktion beteiligten Klassen [...] auf die Kapitalisten und Lohnarbeiter mit Ausschluß des Grundeigentümers, der erst post festum hineinkommt infolge nicht aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgewachsener, sondern ihr überlieferter Eigentumsverhältnisse an Naturkräfte -‚ [...] macht sie zum adäquaten theoretischen Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweise, drückt ihre differentia speciflca aus." (Marx)*V.5
Der Grundeigentümer erscheint somit als ein Fremdelement in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, er gehört im Grunde genommen einer anderen Produktionsweise an, und würde sein spezifisches Produktionsmerkmal, die Bodenbearbeitung auf der Basis des Grundrentenbezuges, zum beherrschenden Produktionssystem werden, so würde die Existenzgrundlage der kapitalistischen Produktion vernichtet sein; ebenso hat umgekehrt die kapitalistische Produktionsweise die Tendenz, den Grundeigentümer, je weiter sie fortschreitet und sich ausdehnt, um so mehr seiner Subsistenzquellen zu berauben, so daß in der finanzkapitalistischen Phase das Finanzkapital in immer größerem Ausmaß die eigentliche gesellschaftliche Funktion des Grundeigentümers, das Einstreichen der Grundrente, selbst übernimmt. Der Tatbestand des Klassengegensatzes unter den Produktionsmittelbesitzern ist hier daher so lange gegeben, als nicht die kapitalistische Produktion die Existenzgrundlagen des freien Grundeigentums als einer nichtkapitali-

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stisch produzierenden Formation vernichtet hat. Die dem Kapitalismus wesenseigene ökonomische Struktur schließt daher das Bestehen einer anderen Gesellschaftsklasse neben der Klasse der Kapitalisten und der der Lohnarbeiter tendenziell aus: "Vergegenständlichte und lebendige Arbeit sind die beiden Faktoren, auf deren Gegenübersetzung die kapitalistische Produktion beruht. Kapitalist und Lohnarbeiter sind die einzigen Funktionäre und Faktoren der Produktion, deren Beziehung und Gegenübertreten aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise entspringt."*V.5a

Hier nun liegt der ursprüngliche und ökonomisch entscheidende Unterschied zwischen der Klasse der kapitalistischen und der Klasse der vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung. In der vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung beruht die Existenz von Gesellschaftsklassen auf der gleichzeitigen Koexistenz verschiedener Produktionssysteme, die zwar miteinander in diametralem Gegensatz stehen und einander gegenseitig negieren, die aber trotzdem nebeneinander bestehen können, solange ihre eigentümlichen Produktionsmerkmale durch ein rechtlich fixiertes Monopol geschützt sind. Schwindet dieses Monopol, das zumeist die Form der ständischen Absonderung der Gesellschaftsklassen voneinander annimmt, so gipfelt der bis dahin bestehende Klassengegensatz darin, daß entweder das gesellschaftliche Ganze zerfällt und dem Untergang anheimfällt, oder daß die eine der früher durch Monopol geschützten Klassen den Sieg davonträgt, die Existenzgrundlage der gegnerischen Klasse vernichtet, somit diese Klasse als Klasse zum Verschwinden bringt und den Klassengegensatz innerhalb der Gesellschaftseinheit aufhebt. Diese Tendenz des Klassengegensatzes innerhalb der vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß er nämlich zum Verschwinden einer ganzen Gesellschaftsklasse und auf dieser Basis zu einer vorübergehenden Beseitigung des akuten Klassengegensatzes führen kann, enthält zugleich die andere charakteristische Differenz gegenüber der Klassenstruktur, wie sie der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist. Denn ein solches sichtbares Schwinden der Klassengegensätze an der Oberfläche der vorkapitalistischen Gesellschaft bedeutet in der Wirklichkeit keineswegs die Beseitigung des Ausbeutungs- und Knechtschaftsverhältnisses innerhalb einer solchen Gesellschaftsorganisation, die vielmehr fast ausschließlich auf der Ausbeutung der Sklavenarbeit durch die Herrenschicht beruht. Trotz diesem Ausbeutungsverhältnis und dem dadurch konstituierten Gegen-

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satz der gesellschaftlichen Interessen, tritt ein akuter Klassengegensatz - wenigstens in der Form gesellschaftlicher Klassenkämpfe - nicht in die Erscheinung.

Das aber liegt nun daran, daß in diesen gesellschaftlichen Formationen die Herausbildung eines Klassenbewußtseins nicht möglich ist, ja, daß nicht einmal das Bewußtwerdenkönnen der gesellschaftlichen Struktur in den Schranken der jeweiligen vorkapitalistischen Produktion tendenziell erreichbar ist. Damit aber aus einem latent vorhandenen Klassengegensatz ein akuter Klassenkampf entsteht, muß wenigstens die verschiedene Struktur der Klasseninteressen der einzelnen Klassen in das Stadium des Bewußtwerdenkönnens getreten sein. In dem einzelnen vorkapitalistischen Produktionssystem ist das nie der Fall, und der einzige Klassengegensatz, der hier akut als Klassenkampf in die Erscheinung treten kann, ist der Klassengegensatz, der auf der Verschiedenheit von Produktionssystemen und der aus ihnen hervorwachsenden Monopolisierung von Produktionsmitteln beruht. Daß weder Klassenbewußtsein im Sinne einer Einsicht in die Stellung der eigenen Klasse im Produktionsprozeß noch ein Bewußtwerdenkönnen dieser Klassenstrukturen der vorkapitalistischen Produktionsweise möglich ist, ergibt sich nun aber aus der eigentümlichen Gestalt, die für Klassenbewußtsein schlechthin konstitutiv ist. Folgen wir hier der Untersuchung von Lukács, so erhalten wir für die Bestimmung der Klassenbewußtseinsstruktur die folgende Definition:
"Indem das Bewußtsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den - diesen Interessen gemäßen - Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären; die Gedanken usw. also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind. Die Anzahl solcher Lebenslagen ist in keiner Gesellschaft eine unbeschränkte. Mag ihre Typologie durch eingehende Einzelforschungen noch so verfeinert werden, es ergeben sich doch einige sich klar voneinander abhebende Grundtypen, deren Wesensart durch die Typik der Stellung der Menschen im Produktionsprozesse bestimmt wird. Die rationell angemessene Reaktion nun, die auf diese Weise einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozeß zugerechnet wird, ist das Klassenbewußtsein." (Lukács)*V.6
Im Vorkapitalismus ist der Aufbau der ganzen Gesellschaft aus einem einzelnen Klasseninteresse heraus nicht möglich, weil die Struktur der vorkapitalistischen Klasse, wie wir gesehen haben, auf der Monopolisierung bestimmter Produktionsmittel beruht und die Organisation der ganzen Gesellschaftsformation auf der Basis dieses Monopols seine

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unmittelbare Aufhebung zur Folge haben müßte. Eine Gesellschaftsklasse, die mithin aufgrund ihrer eigentlichen Struktur nicht imstande ist, den Aufbau der ganzen Gesellschaft gemäß ihren Klasseninteressen - zu organisieren, kann daher auch kein Klassenbewußtsein haben. Auch dann noch nicht, wenn die ständische Starrheit des Klassenmonopols bereits gelockert ist; so bezeichnet Marx einmal die sozialen Schichten in Deutschland am Ausgang des 18. Jahrhunderts als "gewesene Stände und ungeborene Klassen"*V.7 . Dem zufolge ist der Klassenkampf in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformen auch mehr "versteckt" als offen*V.8 Klassen mit Klassenbewußtsein werden infolgedessen erst in der kapitalistischen Produktionsweise möglich, wo die Struktur der herrschenden Klasse, der Besitzer der Produktionsmittel, die gleichzeitige Existenz einer anderen Gesellschaftsklasse, die vom Produktionsmittelbesitz entblößt ist, nicht nur nicht ausschließt, sondern geradezu zur Voraussetzung hat.
"Die Beziehung des Klassenbewußtseins zur Geschichte ist [...] in den vorkapitalistischen Zeiten eine völlig andere, wie im Kapitalismus. Denn dort waren die Klassen selbst nur vermittelts der Geschichtsdeutung des historischen Materialismus aus der unmittelbar gegebenen geschichtlichen Wirklichkeit zu gewinnen, während sie hier diese unmittelbare, geschichtliche Wirklichkeit selbst sind. [...] Zum Kapitalismus selbst besteht aber der unüberbrückbare Unterschied, daß in ihm die ökonomischen Momente nicht mehr ´hinter´ dem Bewußtsein verborgen, sondern im Bewußtsein selbst (nur unbewußt oder verdrängt usw.) vorhanden sind. Mit dem Kapitalismus, mit der Abschaffung der Ständestruktur und mit dem Aufbau einer rein ökonomisch gegliederten Gesellschaft ist das Klassenbewußtsein in das Stadium des Bewußtwerdenkönnens getreten." (Lukács)*V.9
Wollen wir also die Modifizierung der wissenschaftlichen Erkenntnis durch die Struktur der Klasse und des Klassenbewußtseins bestimmen, so müssen wir die konkreten Klassen, wie sie im Kapitalismus gegeben sind, in den Umkreis unserer Betrachtungen ziehen. In der empirischen Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise unterscheidet Mar-

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xens Analyse ihrer ökonomischen Struktur drei Gesellschaftsklassen. Es sind dies die Klassen der Kapitalisten, der Grundeigentümer und der Lohnarbeiter, deren respektive Klassenmerkmale zunächst aus ihren spezifischen Revenuequellen an der Oberfläche der ökonomischen Erscheinungen bestimmt werden können.*V.10 Aber auch dort, wo Marx von der Existenz dieser drei Klassen spricht, in dem unvollendet gebliebenen Bruchstück des Schlußkapitels des dritten Bandes des Kapital, wird nicht nur darauf verwiesen, daß das eigentliche Unterscheidungsmerkmal der Klasse keineswegs die nur "auf den ersten Blick" so anmutende "Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen" ist, sondern darüber hinaus bereits unterstrichen, daß die Grundeigentümer nicht als zur spezifischen Struktur der kapitalistischen Produktion gehörig gerechnet werden können. Heißt es doch dort:
"Man hat gesehen, daß es die beständige Tendenz und das Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise ist, die Produktionsmittel mehr und mehr von der Arbeit zu scheiden, und die zersplitterten Produktionsmittel in große Gruppen zu konzentrieren, also die Arbeit in Lohnarbeit und die Produktionsmittel in Kapital zu verwandeln. Und dieser Tendenz entspricht auf der andern Seite die selbständige Scheidung des Grundeigentums von Kapital und Arbeit, oder Verwandlung alles Grundeigentums in die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechende Form des Grundeigentums." (Marx)*V.11
Da diese der kapitalistischen Produktionsweise eigene Form des Grundeigentums die des kapitalistischen Besitzes an Rententiteln ist und somit mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Finanzkapital in die höhere Einheit des fluktuierenden Kapitals eingeht, entfällt die Sonderstellung des Grundeigentümers im kapitalistischen Produktionsprozeß. Freilich ist für die Klasse der Grundeigentümer die Möglichkeit, vom Standpunkte einer Organisation der Gesellschaft gemäß ihrem eigenen Interesse zu einem Klassenbewußtsein vorzudringen, nicht von vornherein zu verneinen. Aber eine solche Organisation des gesellschaftlichen Ganzen gemäß den Interessen des Grundbesitzes würde die Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise negieren, soweit zum beherrschenden Prinzip der gesellschaftlichen Produktion erhoben. In dem Maße, wie das Klasseninteresse der Grundeigentümer eine Negierung der kapitalistischen Produktionsweise einschließt, ist der Klassengegensatz gegenüber der Kapitalistenklasse und somit auch

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das Bewußtwerdenkönnen des eigenen Interesses für die Grundbesitzerklasse gegeben. Mit der fortschreitenden Entwicklung der kapitalistischen Produktion aber findet gleichzeitig die Auflösung der eigentümlichen Produktionsfunktionen der Grundbesitzer statt, die Grundlage ihrer Existenz als Klasse wird vernichtet, es vollzieht sich die Eingliederung der Grundeigentümer in die Kapitalistenklasse. Damit schwindet auch das Klassenbewußtsein der Grundeigentümer als gesellschaftlich relevanter Faktor dahin.

Als spezifische Klassen der kapitalistischen Produktionsweise, deren Existenz Voraussetzung für die kapitalistische Produktion, bleiben nur Bourgeoisie und Proletariat bestehen. Für unsere Aufgabe der Analyse der Entstellung der Wahrheitsgehalte der wissenschaftlichen Erkenntnis durch ihre Klassenbedingtheit, können somit nur das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie und das des Proletariats als entscheidend für die Bewußtseinsinhalte der kapitalistischen Epoche ins Gewicht fallen. Die Frage, ob die Bourgeoisie ein Klassenbewußtsein erlangen, d. h., die Gesellschaft gemäß ihren Interessen als Ganzes organisieren und damit einen Einblick in deren Struktur und ihre eigene Struktur als Klasse gewinnen kann, ist in der Tendenz sicherlich zu bejahen. Da aber die Möglichkeit der Organisation des gesellschaftlichen Ganzen auf der Basis des Klasseninteresses der Bourgeoisie in dem Maße eingeengt wird, wie sie sich in praxi erweitert, in dem Maße schwerer zu realisieren ist, wie die kapitalistische Produktionsweise zur beherrschenden wird - und darüber soll weiter unten besonders gehandelt werden -‚ wird der soziale Raum der Entfaltung des Klassenbewußtseins der Bourgeoisie um so enger, je weiter die kapitalistische Produktionsweise entwickelt und je mehr der nichtkapitalistische Raum ausgeschöpft ist. Darüber hinaus kann aber das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie nie zum Bewußtsein der gesellschaftlichen Totalität werden, weil der Erkenntnis dieser Totalität durch die Struktur des kapitalistischen Produktionsprozesses - schon von der Ökonomie aus - enge Grenzen gezogen sind:

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"Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz, und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klar zu werden suchen, sind sehr verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu ihrer inneren, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff." (Marx)*V.12
Das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie, das dem zufolge notwendig ein falsches ist, erhält nun seine eigentümliche Beschaffenheit aus dem mit der Warenproduktion verknüpften Warenfetischismus, dem von Lukács sogenannten Verdinglichungsphänomen. Die Verdinglichung der sozialen Beziehungen und Tätigkeiten als unumgängliches Produkt der Warenproduktion wurde von Marx schon im Feuerbach-Fragment der Deutschen Ideologie aufgezeigt. Dort heißt es:
"[...] endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen den besonderen und gemeinsamen Interessen existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht." (Marx)*V.13
Die primäre Rolle dieser Verselbständigung und Verdinglichung der sozialen Beziehungen im Bewußtsein der Menschen sehen wir dann später im Kapital als Ergebnis der Warenstruktur der Produktion aufgewiesen:
"Das Geheimnisvolle der Warenform besteht [...] einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich der Lichteindruck eines Dinges auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dinges außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein anderes Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der [86] Warenproduktion unzertrennlich ist. Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert." (Marx)*V.14
Damit ein wahres Bewußtsein der gesel1schaftliche Totalität möglich werde, muß das Verdinglichungsphänomen überwunden, also die Warenproduktion die es erzeugt, aufgehoben werden. Somit ergibt sich aber auch die Folgerung, daß Klassenbewußtsein, das eine wahre Erkenntnis der gesellschaftliche Totalität vermittelt, unter der kapitalistischen Warenproduktion nicht möglich sein kann. Somit also auch die Feststellung, daß das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie notwendigerweise falsches Bewußtsein sein muß. Somit hinwiederum die Feststellung, daß auch das Klassenbewußtsein des Proletariats kein vollkommen wahres Bewußtsein der gesellschaftlichen Totalität sein kann, solange es in der Empirie der kapitalistischen Warenproduktion zur Entfaltung gelangt. Erst mit der Abschaffung der Klassen, erst mit der Überwindung der Warenschranke des Bewußtseins in der klassenlosen Gesellschaft wird das proletarische Klassenbewußtsein, indem es sich aufhebt, zum wahren Bewußtsein. Wie jede dialektische Kategorie findet auch das Klassenbewußtsein des Proletariats erst mit seiner historischen Aufhebung sein Zusichkommen in seiner begrifflichen Verwirklichung.

Nichtsdestoweniger ist freilich in der empirischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ein stetig fortschreitender Prozeß der Herausbildung des proletarischen Klassenbewußtsein, der Loslösung des Proletariats von dem herrschenden Bewußtsein der Zeit, dem durch das Verdinglichungsphänomen beschränkten Klassenbewußtsein der

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Bourgeoisie, ein Prozeß der Herauslösung des Proletariats aus der Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft nicht nur denkbar, sondern auch wirklich. Denn das Klassenbewußtsein ist seiner Natur gemäß in seiner historischen Verwirklichung nichts anderes als eine Funktion der im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft sich abspielenden Auseinandersetzung der Gesellschaftsklassen, nichts anderes als eine Funktion des proletarischen Klassenkampf es:
"Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf [...] findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf." (Marx)*V.15
Ist so die Entfaltung des Klassenbewußtseins im Proletariat nichts anderes als die Funktion seiner unmittelbaren Aktion im gesellschaftlichen Klassenkampf, so ist doch dieser Klassenkampf seinerseits, wie bereits mehrfach angedeutet worden ist, wiederum nichts anderes als der Ausdruck bestimmter Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Produktionsweise entsprechen:
"Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten." (Marx)*V.16

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Die Entwicklung des Klassenbewußtseins im Proletariat tritt uns damit als dialektischer Prozeß entgegen. Die Wahrnehmung der Schranken der wissenschaftlichen Erkenntnis vom Standpunkt des Proletariats ist selbstverständlich durch die historische und soziale Situation, in der sich das erkennende Subjekt befindet, determiniert, insofern also keine wahre Einsicht in die Struktur der gesellschaftlichen Totalität. Aber auch die Erkenntnis der Tendenzen, die zur Aufhebung der Klassengesellschaft als Voraussetzung einer Verwirklichung des proletarischen Klassenbewußtseins in seiner Aufhebung führen, ist subjektbedingt. Und diese Modifizierung der wahren Erkenntnis des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch die Klassenstruktur der kapitalistischen Gesellschaft kann sich erst in dem Maße dem Idealtypus einer wahren Erkenntnis nähern, als die Produktivkräfte im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft sich so weit entfaltet haben, daß sie in Widerspruch mit den bestehenden Produktionsverhältnissen geraten müssen. Noch lange bevor der Zusammenstoß zwischen den sich entfaltenden Produktivkräften und den geronnenen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen so akut geworden ist, daß er die Bande der gesellschaftlichen Organisation sprengt, machen sich aus der inneren Gesetzlichkeit der kapitalistischen Produktion Krisen geltend, die diesen Zusammenstoß in der Tendenz sichtbar werden lassen. Diesen Krisensituationen im ökonomischen Unterbau der Gesellschaft entsprechen auch Krisenzustände in dem ideologischen Überbau adäquat; in solchen Krisensituationen, wo die Eingeweide der bürgerlichen Gesellschaft bloßgelegt werden, wird der kämpfenden Klasse der Zusammenhang des gesellschaftlichen Ganzen, seine innere Struktur, urplötzlich offenbar, und eine Vorwegnahme jenes Idealtypus des proletarischen Klassenbewußtsein, der von der Gesamtheit der Klasse erst mit der sozialen Revolution erreicht werden kann, wird für einzelne Teile der Klasse bereits jetzt in ihrer alltäglichen Aktion möglich.

Inwieweit die Aktion des Proletariats als Aktion, in ihrer unmittelbaren Praxis, nicht nur als solche umwälzende Praxis ist, die die Voraussetzungen schafft für die Verwirklichung bestimmter theoretischer Erkenntnismöglichkeit, sondern darüber hinaus eben als Praxis zugleich auch eine Entwicklung und Entfaltung des proletarischen Klassenbewußtseins bedeutet, kann erst gezeigt werden, wenn man die Wurzeln vor Augen hat, die diese Aktion in der "Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft", die ihre politische Ökonomie ist*V.17 , veran-

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kern. Nun muß allerdings eine solche anatomische Untersuchung der inneren Struktur der kapitalistischen Gesellschaft von methodischen Voraussetzungen ausgehen, die in der Empirie der kapitalistischen Produktion nicht in reiner Gestalt gegeben sind. Denn die Aufdeckung der Entwicklungstendenz und der Gesetzlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise wird kompliziert und erschwert durch die intermittierenden Tatbestände vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen. Die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise muß dementsprechend von diesen überkommenen Bestandteilen anderer Produktionssysteme abstrahieren: "Um den Gegenstand der Untersuchung", sagt Marx, "in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen, müssen wir [...] die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehen und voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Produktionszweige bemächtigt hat."*V.18 Es ist daher selbstverständlich, daß die Ergebnisse, die aus einer solchen Analyse des reinen Kapitalismus gewonnen werden, sehr wesentlich modifiziert werden durch die Koexistenz vorkapitalistischer Produktionssysteme, so daß für die Aufhellung der Prozesse der Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins auch die Analyse dieser modifizierten Tatbestände neben die reine Anatomie der inneren Gesetzlichkeit der kapitalistischen Produktion zu treten hat.

Beschränken wir uns zunächst auf die Anatomie des reinen Kapitalismus, so läßt sich die beherrschende Tendenz des kapitalistischen Produktionsprozesses mit Marx folgendermaßen zusammenfassen:
"Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeits- [90] mittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarktes und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Druckes, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt, die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Exproprtateurs werden expropruert." (Marx)*V.19
Die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation erzeugt beständig eine wachsende Empörung der Arbeiterklasse, die durch den kapitalistischen Produktionsprozeß selbst aus einer bloßen Klasse an sich zu einer Klasse für sich, zu einer Klasse mit Klassenbewußtsein wird. Die entscheidende Frage ist dann die, ob dieser Prozeß der Steigerung des Widerspruches zwischen der Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und den sie einengenden Produktionsverhältnissen sich sozusagen automatisch vollzieht. Und die Kehrseite dieser Frage ist, ob eine Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus bis ins Unendliche denkmöglich ist, ob die Entfaltung der Produktivkräfte jenen inneren Widerspruch der kapitalistischen Produktion jeweils selbsttätig überwinden kann, oder ob dieser Widerspruch zu einem automatisch erfolgenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise führen muß, oder ob schließlich weder eine Überwindung dieser Widersprüche auf erweiterter Stufenleiter noch ein automatischer Zusammenbruch des Kapitalismus ohne Hinzutreten einer gesellschaftlichen Aktivität (der unterdrückten Klasse) gedacht werden kann.

Konkret stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten einer unendlichen Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus dar als die Frage nach der Möglichkeit der Realisierung des gesellschaftlichen Mehrprodukts, das sich die Kapitalistenklasse aus der unbezahlten Arbeit der Lohnarbeiterklasse aneignet: ob dieses Mehrprodukt von der Kapitalistenklasse im Rahmen der inneren Gesetzlichkeit der kapitalistischen Produktion auch tatsächlich realisiert werden kann.
"Sobald das auspreßbare Quantum Mehrarbeit in Waren vergegenständlicht ist" (Marx)*V.20
, sagt Marx,
"ist der Mehrwert produziert. Aber mit dieser Produktion des Mehrwerts ist nur der erste Akt des kapitalistischen Produktionsprozesses, der unmittelbare Produktionsprozeß beendet. Das Kapital hat soundsoviel unbezahlte Arbeit eingesaugt. Mit der Entwicklung [91] des Prozesses, der sich im Fall der Profitrate ausdrückt, schwillt die Masse des so produzierten Mehrwerts ins Ungeheure. Nun kommt der zweite Akt des Prozesses. Die gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable Kapital erzeugt, wie der den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden. Geschieht das nicht, oder nur zum Teil, oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehen, so ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten, kann mit gar keiner oder nur teilweisen Realisation des abgepreßten Mehrwerts, ja mit teilweisem oder mit ganzem Verlust seines Kapitals verbunden sein. Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die anderen durch die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Diese letztere ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein, nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. Dies ist Gesetz für die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständige Revolution in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandenem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als Erhaltungsmittel und bei Strafe des Unterganges."
Daraus folgt, daß der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion in die Tiefe enge Schranken gesetzt sind und daß die größte dieser Schranken der Antagonismus zwischen der Entfaltung der Produktivkräfte und der durch die kapitalistischen Distributionsverhältnisse bestimmten Entwicklungen der Konsumtionskraft der Gesellschaft ist. Der Widerspruch konkretisiert sich innerhalb der gesellschaftlichen Produktion als das Mißverhältnis zwischen den beiden Abteilungen, die Marx innerhalb der kapitalistischen Produktion unterscheidet, zwischen der Erzeugung der Produktionsmittel und der Erzeugung der Konsumtionsmittel. Da aber die gesellschaftliche Konsumtionskraft für Produktionsmittel bestimmt ist durch die Größe des konstanten Kapitals, das in toter, vergegenständlichter Arbeit angelegt ist, und die Konsumtionskraft für Konsumtionsmittel durch die Größe des variablen Kapitals, das die Subsistenzquelle des Trägers der lebendigen Arbeit, des Arbeiters, bildet, erscheint der Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Produktion als der Widerspruch zwischen der Entfaltung der Produktivkräfte der vergegenständlichten toten Arbeit und der Entfaltung der Produktivkräfte der lebendigen Arbeit, der Arbeiterklasse selbst. So wird der grundlegende Antagonismus der kapitalistischen Produktionsweise auch in der Sphäre des ökonomischen Unterbaus wiederum als ein

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Widerspruch zwischen der sozialen Aktivität der Gesellschaft, die in der lebendigen Arbeit der Produzenten ihren konkreten Ausdruck findet, und den zu toten Gegenständen erstarrten Produkten der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, wie sie in ihrer historischen Entwicklung geworden waren, gefaßt. Auf der einen Seite steht das geronnene, erstarrte Gebilde überlieferter Produktionsverhältnisse (und das Kapital ist ja auch nichts weiter als ein Produktionsverhältnis), auf der anderen Seite die lebendige, revolutionäre Aktivität der letzten auf steigenden Klasse der kapitalistischen Gesellschaft. Und so nimmt der scheinbar automatische Mechanismus der inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktion die Gestalt eines dialektischen Widerspruches der geschichtlichen Entwicklung an, dessen synthetische Überwindung erst in der höchsten Entfaltung der Aktivität der revolutionären Klasse, in der sozialen Revolution des Proletariats, denkmöglich ist.

Nun ist freilich dieser beherrschende Widerspruch der kapitalistischen Produktion nichts Akzessorisches, nichts zufällig in die kapitalistische Produktion von außen Hineinkommendes; er ist der adäquate Ausdruck der inneren Struktur der kapitalistischen Produktionsweise selbst:
"Der Widerspruch, ganz allgemein ausgedrückt, besteht darin, daß die kapitalistische Produktionsweise eine Tendenz einschließt nach absoluter Entwicklung der Produktivkräfte, abgesehen vom Wert und dem in ihm eingeschlossenen Mehrwert, auch abgesehen von den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren die kapitalistische Produktion stattfindet; während sie anderseits die Erhaltung des existierenden Kapitalwerts und seine Verwertung im höchsten Maß (d. h. stets beschleunigten Anwachs dieses Wert,) zum Ziel hat. Ihr Spezifischer Charakter ist auf den vorhandenen Kapitalwert als Mittel zur größtmöglichen Verwertung dieses Werts gerichtet. [...] Die periodische Entwertung des vorhandenen Kapitals, die ein der kapitalistischen Produktionsweise immanentes Mittel ist, den Fall der Profitrate aufzuhalten und die Akkumulation von Kapitalwert durch Bildung von Neukapital zu beschleunigen, stört die gegebenen Verhältnisse, worin sich der Zirkulations- und Reproduktionsprozeß des Kapitals vollzieht, und ist daher begleitet von plötzlichen Stockungen und Krisen des Produktionsprozesses. Die mit der Entwicklung der Produktivkräfte Hand in Hand gehende relative Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante gibt dem Anwachs der Arbeiterbevölkerung einen Stachel, während sie fortwährend künstliche Übervölkerung schafft. Die Akkumulation des Kapitals, dem Wert nach betrachtet, wird verlangsamt durch die fallende Profitrate, um die Akkumulation des Gebrauchswerts noch zu beschleunigen, während diese wieder die Akkumulation, dem Wert nach, in beschleunigten Gang bringt. [...] Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint, daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloßes Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. [...] Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck der Verwertung des vorhandenen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktiv- [93] kraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftliche Produktionsverhältnissen." (Marx)*V.21
Hieraus ergibt sich, daß der Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus und ihrer konkreten Gestalt, der Akkumulation von Kapital, enge Grenzen gezogen sind, die sich mit der zunehmenden Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise immer mehr verengen. Die Realisation des gesellschaftlichen Mehrprodukts wird immer schwieriger, die Krisengesetzlichkeit des Kapitalismus tritt immer mehr in ihrer Idealform in die Erscheinung. Freilich überwindet der Krisenmechanismus des Kapitalismus die immer von neuem ausbrechende akute Krise, aber er überwindet sie nur, um die ihr zugrunde liegenden Widersprüche auf erweiterter Stufenleiter zu reproduzieren. Auch der Krisenmechanismus ändert nichts daran, daß die Schranken der Akkumulation immer unüberwindlicher werden. Die spezielle Untersuchung, die Marx im zweiten Bande des Kapital*V.22 dem Problem einer dank dem Krisenmechanismus unendlich fortschreitenden erweiterten Reproduktion des Kapitals gewidmet hat, hat gezeigt, daß diese Möglichkeit nur unter bestimmten, genau abgegrenzten Voraussetzungen gegeben ist. Die ökonomischen Voraussetzungen der zahlenmäßigen Schemata, an denen Marx diesen begrenzten Fall der Möglichkeit einer unbeschränkten Akkumulation des Kapitals veranschaulicht, sind von Rosa Luxemburg*V.23 und in neuerer Zeit von Fritz Sternberg*V.24 einer Nachprüfung unterzogen worden. Die ökonomische Analyse der Marxschen Schemata ergab, daß eine störungslose erweiterte Reproduktion des Kapitals, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Abteilungen der kapitalistischen Produktion nur möglich ist, wenn entweder das Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital in beiden Abteilungen das gleiche ist oder die Rate der Akkumulation in den beiden Abteilungen verschieden ist, so daß in der Abteilung der Konsumtionsmittel eine ständig fortschreitende Minderakkumulation stattfindet. Nun bedeutet die erste Voraussetzung einen technischen Stillstand, eine Ausschaltung aller technischen Errungenschaften, da eine solche, solange die gesellschaftliche Produktion nicht planmäßig organisiert ist, eine stetige und dabei für die beiden Abteilungen der Produktion verschiedene Veränderung der organi-

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sehen Zusammensetzung des Kapitals zur Folge haben muß. Die zweite Voraussetzung dagegen ist im Kapitalismus nicht möglich, da sie eine planmäßige Verteilung des gesellschaftlichen Kapitals auf die beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion zur Vorbedingung haben müßte*V.25 .

Es sind denn auch die Schranken der kapitalistischen Akkumulation selbst von den Kritikern Rosa Luxemburgs*V.26 sehr wohl gesehen und teilweise noch nachdrücklicher unterstrichen worden. Ist dem aber so, daß die Akkumulation des Kapitals unter der Voraussetzung einer ausschließlichen Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in enge Schranken gebannt ist, so ist daraus zu folgern, daß das Gleichgewicht des kapitalistischen Produktionsprozesses "bei der naturwüchsi-

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gen Gestaltung der Produktion selbst ein Zufall ist"
*V.27 . Ist für den Kapitalismus auf der Basis seiner ausschließlichen Herrschaft im Produktionsfelde einer bestimmten Gesellschaftseinheit eine Ausdehnungsmöglichkeit nach außen nicht gegeben, so tritt die Krisengesetzlichkeit seiner Produktionsweise in Reinkultur an die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen, die Widersprüche verdichten sich, die Krisen werden häufiger und erschüttern das gesamte Gebäude der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Wenn daher auch nur irgendeine Möglichkeit einer Ausdehnung in die Breite auf Kosten nichtkapitali-

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stisch produzierender Gesellschaftsschichten oder Länder besteht, so wird der Kapitalismus durch seine eigenen Bewegungsgesetze mit unüberwindlicher Gewalt zu einer solchen Ausdehnung des auswärtigen Marktes, zum imperialistischen Vorbruch getrieben *V.28 . Durch den imperialistischen Vorbruch wird zweifellos sowohl die Krisengesetzlichkeit des Kapitalismus als auch die Existenzgrundlage der Arbeiterklasse wesentlich modifiziert, die Tendenzen, die zur Erschöpfung der Entwicklungsmöglichkeiten der Produktivkräfte im Kapitalismus und zur Verwandlung der Arbeiterklasse in einen revolutionierenden Faktor führen, werden abgeschwächt. Ist aber der nichtkapitalistische Raum einmal erschöpft und das Ventil des imperialistischen Vorbruches verstopft, so tritt die reine Gesetzlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie oben in Anlehnung an die Darstellung im dritten Bande des Kapital geschildert wurde, wieder in Kraft.

Es ersteht die Frage, ob nunmehr der Kapitalismus aus seiner inneren Struktur heraus, automatisch, von innen heraus zusammenbrechen müßte. Konkreter gesprochen: Ist bei der Verschärfung der Krisenwirkungen im Kapitalismus der Widerspruch zwischen der Entfaltung der Produktivkräfte und den bestehenden Produktionsverhältnissen darin gegeben, daß die Schranke der Akkumulation des Kapitals erreicht ist, und muß dieser Widerspruch nunmehr dazu führen, daß der Kapitalismus in seiner Struktur als Produktionsweise, in seiner Eigenart als kapitalistisches Produktionssystem aufhört zu sein? Diese Frage muß verneint werden. Denn die Unmöglichkeit einer weiteren unbeschränkten Akkumulation des Kapitals würde nur eine Stagnation in der Entwicklung der Produktivkräfte involvieren, einen Rückschlag in der aufsteigenden Entwicklung des Kapitalismus, einen quantitativen und

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qualitativen Verfall, jedoch nicht das Ende der kapitalistischen Produktionsweise. Sie könnte gewiß eine Rückentwicklung erleiden, so daß man im Sinne des Kommunistischen Manifestes von einem "gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen"*V.29 sprechen könnte, aber der Wiederauferstehung der kapitalistischen Produktionsweise, und sei es auch auf einer verengerten Stufenleiter, wäre durch eine solche Stagnation und Rückentwicklung kein Riegel vorgeschoben*V.30 .

Verfall Stagnation, Rückentwicklung, gemeinsamer Untergang der kämpfenden Klassen ist aber in keiner Weise eine historisch endgültige Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise. Von einem Sturz des Kapitalismus, von seinem - von wem immer herbeigeführten - Zusammenbruch als Produktionsweise könnte nur dann die Rede sein, wenn es sich nicht darum handeln würde, daß die Produktivkräfte stagnieren, daß eine Rückentwicklung in dem Grade der gesellschaftlichen Produktivität stattfindet, sondern darum, daß gerade die höchste Entfaltung, die fortschreitende und sich stetig übersteigernde Entfaltung der Produktivkräfte jenes festgeronnene System der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, als welches wir die kapitalistische Produktionsweise begreifen, mit uneindämmbarer Explosivkraft sprengt. Indes haben wir gesehen, daß "die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst"*V.31 ist. Und es wurde auch weiter gezeigt, daß die wesentlichste Schranke der kapitalistischen Akkumulation in der Disproportionalität zwischen der Produktion der toten Produktionsmittel

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und der Reproduktion der lebendigen Arbeitskraft besteht, daß also die Akkumulation des Kapitals gerade dadurch in enge Grenzen gebannt ist, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine Entfaltung der menschlichen Arbeitskraft als Produktivkraft nicht zulassen. Erst wenn der Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise für die Entfaltung der gesellschaftlichen Arbeitskraft der Menschen, für den Aufstieg des Proletariats zu eng geworden ist, wird er gesprengt. Das kapitalistische Lohngesetz aber, das den Arbeitslohn auf die Dauer nicht hinauswachsen läßt über die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft und das für den einzelnen Produktionszyklus seinen Inhalt findet in dem Gesetz der industriellen Reservearmee und der relativen industriellen Surplusbevölkerung*V.32 , das die Existenzgrundlagen der Arbeiterklasse abhängig sein läßt von dem Druck der industriellen Reservearmee auf den Arbeitsmarkt; das die industrielle Reservearmee in dem Maße anwachsen läßt, wie die kapitalistische Produktionsweise den außerkapitalistischen Raum zum Verschwinden bringt; das somit die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse tendenziell verschlechtert und die Empörung des Proletariats, die Herausbildung seines Klassenbewußtseins als Funktion des Klassenkampfes beschleunigt - dieses Lohngesetz wird zweifellos in seiner Wirkung abgeschwächt, solange der Kapitalismus die Möglichkeit einer Ausdehnung seines Produktionsfeldes auf Kosten des außerkapitalistischen Raumes hat; die Arbeiterklasse der imperialistisch aktiven Länder kann hier eine "Schonzeit" durchmachen*V.33 . Daher ist auch der Widerspruch zwischen dem Proletariat als der größten Produktivkraft der kapitalistischen Gesellschaft und den herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der von Marx aufgezeigten reinen Gesetzlichkeit erst in dem Maße sich vollendende Wirklichkeit, in dem das Proletariat in seinem Kampf um die Schmälerung der Ausbeutungsrate einen Druck auf die Profitrate des Kapitalisten ausübt, der den Kapitalismus zur Erweiterung des Feldes der Kapitalakkumulation, das heißt zur Durchkapitalisierung des außerkapitalistischen Raumes und somit zur fortschreitenden Erschöpfung und Einengung der Akkumulationsmöglichkeiten zwingt. Durch die eigene Aktivität der proletarischen Klasse wird die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bis zu jener Grenze fortgetrieben, an der die Entfaltung der

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Produktivkräfte in einen unversöhnlichen Widerspruch geraten muß zu Die Aktion des Proletariats, die aus seinem alltäglichen Existenzkampf erwächst, erzwingt eine Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus, die, je weiter sie fortschreitet, um so weniger einer weiteren Steigerung in den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise fähig ist, den Widerspruch zwischen dem Wachstum der Produktivkräfte und den bestehenden Produktionsverhältnissen immer tiefer, akuter und drückender macht, die Stunde der "Expropriation der Expropriateure" immer näher heranrücken läßt. So wird durch die proletarische Aktion selbst eine Entwicklung auf jenen Zustand hin erzwungen, den die materialistische Geschichtsauffassung als Aufhebung der historischen und sozialen, im Warenfetischismus begründeten Schranke einer wahren Erkenntnis begreift, als Herstellung der Subjekt-Objekt-Einheit im Erkenntnisprozeß, die nichts als der Ausdruck des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der menschlichen Gesellschaft ist. Die Herbeiführung dieses Zustandes ist aber - das hat die bisherige Darstellung gezeigt - für die materialistische Geschichtsauffassung nie die Tat irgendeines automatischen Mechanismus, nie die Tat einer abstrakten "Geschichte":
"Die Geschichte tut nichts, sie ´besitzt keinen ungeheuren Reichtum´, sie ´kämpft keine Kämpfe´! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts, als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen." (Marx)*V.34
Diese Menschen sind in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft nach der Geschichtsauffassung des historischen Materialismus die Menschen der letzten unterdrückten Klasse, das Proletariat. Ihre Tat ist der aus der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise hervorquellende, zur Umwälzung des Kapitalismus und der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft verdichtete Klassenkampf. So gipfelt die Analyse der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie die materialistische Geschichtsauffassung vornimmt, in der Erkenntnis, daß es nur die geschichtliche Tat des Proletariats, die durch seine Diktatur verwirklicht werde, sei, die das Ende der kapitalistischen Produktionsweise herbeizuführen vermöge:
"Was mich nun betrifft"
, sagt Marx,
"so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft, noch ihren Kampf untereinander [100] entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie der Klassen dargestellt. Was ich neu tat, war, nachzuweisen:
  1. daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte, historische Entwicklungskämpfe der Produktion gebunden sei;
  2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe;
  3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde..
"
(Marx)*V.35

VI. Klassenherrschaft und Diktatur

Juristischer oder soziologischer Diktaturbegriff?
Die materialistische Geschichtsauffassung begreift die "Diktatur des Proletariats" als ein notwendiges Produkt des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft, als letzte geschichtliche Aktion des Proletariats als Klasse. Ist die Verwirklichung des Klassenbewußtseins als Idealtypus erst mit der Aufhebung der Klassenspaltung der menschlichen Gesellschaft gegeben, so erweist sich die letzte geschichtliche Handlung des Proletariats, die auf die Herbeiführung der klassenlosen Gesellschaft gerichtet ist, als die Kulmination des ganzen geschichtlichen Prozesses, wie er bis dahin abläuft. In der Errichtung der proletarischen Diktatur gipfelt somit - der Geschichtsdeutung des Historischen Materialismus zufolge - der Prozeß der Herausbildung des proletarischen Klassenbewußtseins als Prozeß des Fortschreitens zur erstmalig gegebenen wahren Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität. Es ist dies, ins Soziologische übersetzt, eine der kardinalen Kategorien der Hegelschen Geschichtsphilosophie: das Zusichkommen der geschichtlichen Realität in ihrem Auftreten als Tätigkeit, als Bewegung, hier als gesellschaftliche Aktivität. Ist somit im Begriffe der proletarischen Diktatur der Standort der als "umwälzende Praxis" begriffenen Offenbarung des Wahrheitsgehaltes der materialistischen Geschichtsauffassung aufgewiesen, so ist auch ohne weiteres ersichtlich, daß dieser Begriff für die ganze Kategorienlehre der Marxschen Soziologie ein zentraler Begriff ist und einer immanenten Einordnung und Eingliederung in ihr Kategoriensystem bedarf.

Es ist nicht die Aufgabe unserer Untersuchung, anhand einer geschichtlichen Analyse zu ermitteln, warum bis zu den Revolutionen von 1918 und 1919 der Begriff der Diktatur in der marxistischen Literatur so gut wie gar keine Berücksichtigung findet und auch in den Diskussionen innerhalb der sozialistischen Bewegung kaum den Anlaß zu nennenswerten Erörterungen gibt. Ja, auch die Programme der sozialistischen Parteien gehen an dem Begriff der Diktatur, der, wie wir gesehen haben, eine zentrale Stelle im Gedankenbau der materialistischen Geschichts-

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auffassung einnimmt, vorbei, und mit einer einzigen Ausnahme*VI.1 findet der Diktaturbegriff in den Vorkriegsprogrammen der sozialistischen Parteien nicht einmal Erwähnung. Erst seit der russischen Revolution von 1917/18 tritt der Diktaturbegriff in den Mittelpunkt der Diskussionen und Erörterungen in der sozialistischen Öffentlichkeit. Dabei kann, da ja die Diskussion an die Schriften von Marx und Engels anknüpft, nicht daran vorübergegangen werden, daß der Begriff der proletarischen Diktatur keineswegs eine einmalige geschichtliche Situation umfaßt, sondern daß er in logischer und historischer Bezogenheit auf einen Oberbegriff der Klassenherrschaft schlechthin, als Diktatur gefaßt, von den Begründern der materialistischen Geschichtsauffassung gedacht worden ist, daß es folglich darauf ankommt, ihn nicht nur aus einer bestimmten geschichtlichen Situation für eine einmalige Aktion des Proletariats abzuleiten, sondern ihn einzuordnen in die Kategorienlehre der Marxschen Soziologie als eine für die Epoche der Klassengesellschaft entscheidende Kategorie. So tritt in der Diskussion von vornherein als erörterungsbedürftig neben dem Begriff der Diktatur des Proletariats auch der der Diktatur der Bourgeoisie auf, ohne daß freilich die nötige logische Klarheit bei der gegenseitigen Abgrenzung der beiden Begriffe und ihrer etwaigen Subsumtion unter einen Oberbegriff der Klassenherrschaft als Diktatur in der Diskussion zu verzeichnen wäre.

Karl Kautsky, ein sicherlich berufener Interpret der materialistischen Geschichtsauffassung, unterscheidet in verschiedenen Schriften zwischen der Diktatur als "Zustand" und der Diktatur als "Regierungsform".*VI.2 Aber diese Unterscheidung ist von Kautsky selbst nicht exakt durchgeführt worden und hat in der polemischen Literatur zu verschiedenen Mißdeutungen Anlaß gegeben. Würde Kautsky, wie Max Adler*VI.3 annimmt, lediglich meinen, "daß man sich hüten müsse, Diktatur des Proletariats als eine bleibende Form der sozialistischen Gesellschaft und nicht als einen vorübergehenden Übergangszustand zu ihr aufzufassen", so würde dieser Gedanke in der Tat "durch die Gegenüberstellung der Begriffe von Zustand und Regierungsform sehr unglücklich zum Ausdruck gebracht" sein. Indes scheint uns der Gedankengang Karl

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Kautskys ein wesentlich anderer zu sein. Die von ihm vorgenommene Unterscheidung geht ohne Zweifel auf die in der Literatur und in der politischen Diskussion sonst übliche Gleichsetzung von Diktatur und terroristischer Form der Ausübung einer bestimmten Klassenherrschaft zurück, und gegenüber dieser Gleichsetzung begreift Kautsky die Diktatur im Marxschen Sinne als sozialen Inhalt einer bestimmten Klassenherrschaft, ohne freilich über das spezifische Merkmal, das die Klassenherrschaft zur Diktatur werden läßt, Näheres auszusagen und ohne die Verwendung des merkwürdigen Terminus "Zustand" für die Dynamik einer ganzen Geschichtsepoche zu rechtfertigen. Von dieser Unterscheidung, von der Abgrenzung der Diktatur gegenüber einer bloßen Form der Herrschaftsübung durch eine bestimmte Klasse, muß im folgenden, soll der Diktaturgedanke der materialistischen Geschichtauffassung zu seinem Rechte kommen, auch ausgegangen werden. In der marxistischen Diskussion ist freilich über der nicht ganz glücklichen Form des Kautskyschen Gedankenganges der richtige Kern übersehen worden, und die ganze Auseinandersetzung über den Diktaturbegriff, die in den Nachrevolutionsjahren zu verzeichnen ist, setzt Diktatur und terroristische Regierungsform nahezu ausnahmslos als identische Begriffe voraus. Unter diesem Aspekt ist die Auffassung verständlich, daß beispielsweise die Diktatur des Proletariats durchaus nicht die ganze Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, für die sie gedacht ist, zu beherrschen braucht, daß fernerhin der Ausdruck Diktatur der Bourgeoisie nur sehr bedingt gültig ist, insofern er auf exzeptionelle Einzelfälle, nicht auf eine ganze Epoche Anwendung findet. Unter diesem Aspekt entfällt aber auch jeder Anlaß, für Klassenherrschaft des Proletariats den Begriff Diktatur zu prägen, da ja dann auch durch diesen neuen Begriff nicht ausgedrückt werden kann, was nicht schon im Begriff Klassenherrschaft von vornherein enthalten wäre. In dieser Richtung bewegt sich nun die ganze Argumentation von Otto Bauer in seiner zu wiederholten Malen aufgenommenen Auseinandersetzung mit Max Adler, der den Diktaturbegriff festhalten will und mit seiner theoretischen Begründung dieses Begriffes in den Mittelpunkt der ganzen einschlägigen Diskussion gerückt worden ist. Auf dem Linzer Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs wurden von Otto Bauer in der Erörterung des Diktaturbegriffes eben diese Argumente gegen Max Adler ins Feld geführt. Otto Bauer*VI.4 führte aus:

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"Die Herrschaft der Bourgeoisie in der Republik beruht darauf, daß sie die Mehrheit Volkes in ihrer Gefolgschaft hat. Wir wollen diesen geistigen Einfluß den Kapitalisten und Großgrundbesitzern in der Republik entwinden und selber zur Mehrheit im Volke werden und mit demokratischen Mitteln die Macht erobern. Damit richten wir die Herrschaft des Proletariats auf, die Klassenherrschaft der Arbeiterklasse auf, nicht um eine neue dauernde Klassenherrschaft zu begründen, sondern um den Kapitalisten und Großgrundbesitzern die Produktionsmittel zu entreißen, damit die Scheidung der Gesellschaft in Klassen aufzuheben und damit erst eine Demokratie, die nicht mehr Klassenherrschaft, sondern nur noch Selbstregierung eines solidarischen Volkes ist, zu begründen. [...] Aber wir täuschen uns nicht darüber, daß die Bourgeoisie, die sich schwer genug mit der Demokratie abgefunden hat, obwohl sie die Demokratie beherrscht, antidemokratisch, monarchistisch oder faschistisch werden wird, sobald die Demokratie in unsere Hände fällt. [...] Gerade, wenn der Moment kommt, da wir mit den Mitteln der Demokratie die Macht erobern, wird die Bourgeoisie, wenn sie das wagen kann, es versuchen, die Demokratie zu stürzen und eine faschistische Diktatur aufzurichten. Deshalb sagt unser Programmentwurf, daß wir nur dann mit demokratischen Mitteln werden Siegen können, wenn wir das Proletariat selbst wehrhaft erhalten. [...] Unser Programm sagt: Nur wenn das gelingt, wird die Bourgeoisie nicht wagen können, die Demokratie anzugreifen, nur dann werden wir mit demokratischen Mitteln siegen können. [...] Ja, aber es kann auch anders kommen: es kann, auch wenn wir noch so entschlossen sind, den demokratischen Kampfboden zu verteidigen, der Bourgeoisie in einem Moment gelingen, den demokratischen Kampfboden zu sprengen. Dann, sagt das Programm, in diesem Falle allerdings, bleibt uns nichts anderes übrig als die Gewalt, dann hätte das Proletariat keine andere Wahl mehr. Wenn es der Bourgeoisie gelingt, die Demokratie zu zerstören, wenn wir nicht imstande sind, diese Zerstörung zu verhindern, dann allerdings hätte das Proletariat keine andere Wahl mehr, als die Staatsmacht nur noch zu erobern im Bürgerkrieg. Und eine im Bürgerkrieg eroberte Staatsmacht könnte nicht anders ausgeübt werden als in der Form der Diktatur." (Bauer)
Der zitierte Gedankengang veranschaulicht recht deutlich, wie hier der Diktaturbegriff definiert wird. Es handelt sich um Diktatur als ein bestimmtes System von terroristischen Gewaltmitteln (im Gegensatz zu "demokratischen Mitteln"), als eine Regierungsform, in der die Klassenherrschaft ausgeübt werden müßte, falls die Eroberung der Staatsmacht im Bürgerkriege erfolgen sollte. Dementsprechend wird ausdrücklich von der Diktatur als einer "Form" gesprochen, einer bestimmten Staatsform, in die der Inhalt der Klassenherrschaft gegossen werden kann. Im besonderen auf die Konkretisierung dieser Auffassung des Diktaturbegriffes eingehend, fährt Otto Bauer fort:
"Der Zustand einer Diktatur, die alle wirkliche Entscheidung in die Hände einer kleinen Gruppe von Leuten legt und legen muß, das ist nicht der Zustand, wo die initiative Position des Proletariats möglich ist, ohne die wirklicher Sozialismus unmöglich ist. Auch hier wiederhole ich, das soll durchaus nicht sagen, daß das Proletariat nicht einmal in einem historischen Augenblick gezwungen sein könnte, vorübergehend die Mittel der Gewalt zur Niederhaltung eines Gegners, eines unbarmherzigen, eines grausamen, eines durch den Kampf um seinen Besitz wütend gewordenen Gegners anzuwenden, daß selbstverständlich das Proletariat irgendwann, irgendwo, wo es das muß, zur Gewalt und damit zur Diktatur greift."

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Wir sehen, die Gleichsetzung von Diktatur und Gewalt ist völlig eindeutig. Es sind die Mittel der Gewalt, die Mittel der Niederhaltung eines Gegners, die Mittel der Vergewaltigung, kurz, die Mittel der terroristischen Herrschaftsausübung, die hier als mit Diktatur gleichbedeutend in den Vordergrund gerückt werden. Unter diesem Gesichtswinkel ist es naturgemäß unzweckmäßig, eine Klassenherrschaft, die nur ausnahmsweise, in einer bestimmten Situation, "irgendwann, irgend wo", zu den Mitteln greifen muß, die hier als Mittel der Diktatur verstanden werden, schlechterdings Diktatur zu nennen. So sagt Otto Bauer in der näheren Begriffsbestimmung seiner Diktaturauffassung :
"Karl Marx hat 1875 an Bracke einen Brief geschrieben, worin der oft zitierte Satz vorkommt, daß zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und der sozialistischen eine Geschichtsperiode liegen müsse, deren Verfassung keine andere sein kann als die Diktatur des Proletariats. Anderseits haben Engels und Marx wiederholt gesagt, die demokratische Republik sei die spezifische Form der Diktatur des Proletariats. Das heißt, Marx und Engels haben Demokratie und Diktatur nicht als Gegensätze einander gegenübergestellt, sondern sie haben gemeint, das Proletariat könne sich seiner Staatsmacht innerhalb der demokratischen Republik, sobald es diese Staatsmacht erobert hat, bedienen, um die Bourgeoisie niederzuwerfen und niederzuhalten: und das sei eben die Diktatur des Proletariats. Diktatur und Demokratie sind erst durch den Bolschewismus zu Gegensätzen geworden. [...] Die Gegner unserer Terminologie stehen auf folgendem Standpunkt: Sie sagen, auch wenn das Proletariat mit den Mitteln der Demokratie die Macht erobert und sie innerhalb der Demokratie ausübt, sei das doch eine Diktatur des Proletariats. Das sei die Auffassung von Marx - und das ist tatsächlich die Auffassung von Marx - und das bedeute also - das ist aber nicht mehr die Auffassung von Marx, sondern die Schlußfolgerung dieser Kritiker -‚ daß jede Klassenherrschaft, und sei sie noch so demokratisch ausgeübt, eine Diktatur ist: eine Diktatur der Bourgeoisie, auch wenn diese noch so demokratisch herrscht, eine Diktatur des Proletariats, auch wenn dieses mit allen Bürgschaften der Demokratie regiert. Angenommen, diese Ausdrucksweise sei richtig, dann frage ich: welchen Sinn soll es dann haben, überhaupt das Wort Diktatur zu gebrauchen? Dann spreche man einfach von Klassenherrschaft. [...] Aber nicht jede Klassenherrschaft der Bourgeoisie würde man zweckmäßig eine Diktatur nennen. [...] Wir kennen eben verschiedene Formen der Klassenherrschaft der Bourgeoisie. [...] Gewiß, der Kritiker hat recht. Jede noch so demokratische Herrschaft der Bourgeoisie kann umschlagen in die Diktatur, wenn die Bourgeoisie Angst hat vor dem Proletariat. Aber daß die Herrschaft der Bourgeoisie in die Diktatur umschlagen kann, wenn die Arbeiterschaft nicht stark genug ist, das zu verhindern, das sagt noch nicht, daß diese Herrschaft an sich Diktatur ist. [...] Diktatur heißt die Terrorisierung eines Konvents durch bewaffnete Volksmassen, heißt die Vernichtung aller Agitations- und Organisationsmöglichkeiten gegen die Staatsmacht, heißt die Guillotine von 1793 und das Erschießen von 1917. Man rede uns nicht ein, daß Diktatur und Terrorismus zu scheiden sind. [...] Wenn die Bourgeoisie einen dieser Versuche (der Erhebung gegen die proletarische Klassenherrschaft. - A. G.) macht, wird sich das Proletariat wehren und sich so wie jede Klasse wehren, die eine Herrschaft erobert hat und in dieser Herrschaft bedroht ist ... Natürlich schlägt in einer solchen Situation die proletarische Demokratie um in die Diktatur." (Bauer)
Nun haben wir also den Bauerschen Diktaturbegriff in vollendeter Gestalt. Diktatur sei nicht Klassenherrschaft schlechthin, sondern eine

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Form der Ausübung dieser Herrschaft, und zwar ihrer Ausübung mit den Mitteln der Gewalt. Es ist also der Diktaturbegriff ein Begriff, der in der Ebene des politischen Mittels liegt, ein staatsrechtlicher oder allenfalls ein politischer Begriff. Aus dieser Auffassung heraus wird es verständlich, daß die Marxsche Auffassung der Diktatur als des Staates der Übergangsperiode stillschweigend verkehrt wird in eine Auffassung der Diktatur als der "Verfassung" der Periode zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft. Soll aber die Diktatur des Proletariats in diesem Sinne eine "Verfassung" sein, so liegt in demselben Satze ein offenkundiger Widerspruch, wenn gleich hinzugefügt wird, die demokratische Republik sei die spezifische Form der Diktatur des Proletariats. Wenn die Diktatur eine "Verfassung" ist und die demokratische Republik eine Form der Diktatur, also eine Form dieser Verfassung, so wäre demnach die Diktatur als Staatsform etwas Verschiedenes von der Republik als Staatsform, Diktatur und Demokratie wären also in der Ebene der Staatsform, wohin sie im Rahmen der Bauerschen Auffassung beide gehören, Gegensätze, Gegensätze schon bei Marx und Engels, was Bauer wiederum verneint. Die Erklärung dieser Widersprüche besteht darin, daß für Marx und Engels die Diktatur keineswegs die Verfassung des Staates in einer bestimmten Periode gewesen ist - darüber soll im einzelnen noch gesprochen werden - und daß es nicht die Schlußfolgerung der Kritiker des Linzer Programms (Max Adler), sondern eben die Auffassung von Marx ist, daß die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, auch wenn sie noch so demokratisch ausgeübt wird, eine Diktatur, und die Klassenherrschaft des Proletariats, auch wenn sie im Rahmen einer demokratischen Staatsform ausgeübt wird, ebenfalls eine Diktatur ist.

Für Otto Bauer bedeutet, wie schon gezeigt worden ist, die Errichtung einer Diktatur nichts anderes als die Anwendung von terroristischen Herrschaftsmitteln, ja, er unterstreicht, daß im Rahmen seiner Auffassung Diktatur und Terrorismus nicht zu scheiden sind.*VI.5 Ähnlich äußerte sich Bauer bereits wesentlich früher in seiner Schrift Bolschewismus oder Sozialdemokratie? Es hieß dort:

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"Allerdings, auch wenn das Proletariat die politische Macht mit den Mitteln der Demokratie erobert, wird sich die Bourgeoisie seiner Herrschaft widersetzen. [...] Auch ein demokratisches Parlament wird diktatorische Machtmittel für sich in Anspruch nehmen müssen, es wird die Sabotage, vielleicht den aktiven Widerstand der Bourgeoisie mit diktatorischen, vielleicht auch mit terroristischen Mitteln zu brechen haben. [...] Auch das kann man Diktatur des Proletariats nennen. [...] Es ist nicht eine Diktatur gegen die Demokratie, sondern die Diktatur der Demokratie. [...] In der Periode der entscheidenden Machtkämpfe zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat wird der Klassengegensatz überaus verschärft. [...] Kann der demokratische Apparat nicht mehr funktionieren, so muß entweder die Bourgeoisie oder das Proletariat mit den Mitteln der Gewalt seine Klassenherrschaft aufrichten. Die Diktatur des Proletariats wird in diesem Falle zum einzigen Mittel, die brutale, konterrevolutionäre Diktatur der Bourgeoisie zu verhindern. In diesem Falle wird die Diktatur des Proletariats andere Formen annehmen müssen als dort, wo das Proletariat bereits die gesetzgebenden Körperschaften der Demokratie erobert hat. Hier kann die Diktatur des Proletariats nicht die Form einer Diktatur der Demokratie, sondern nur die Form einer Diktatur proletarischer Klassenorganisationen annehmen." (Bauer)*VI.6
Die Bauersche Auffassung ist hier etwas modifiziert. Aber um so größer werden ihre inneren Widersprüche. Einmal wird hier zwischen diktatorischen und terroristischen Mitteln unterschieden, zum anderen die Diktatur des Proletariats als eine Ausübung seiner Klassenherrschaft "mit den Mitteln der Gewalt", also doch wieder mit terroristischen Mitteln, aufgefaßt. Schließlich erscheint die Diktatur nicht lediglich als eine Einschränkung der Demokratie durch terroristische Herrschaftsmittel, sondern als eine Aufhebung der Demokratie, wobei anderseits keineswegs klar gemacht wird, was in diesem Zusammenhang unter Demokratie zu verstehen ist und warum die Diktatur proletarischer Klassenorganisationen eine Aufhebung der Demokratie bedeutet. Nun ist in dieser Auffassung aber nicht nur ein innerer Widerspruch zu konstatieren, sondern auch ein offensichtlicher Widerspruch zu der bekannten Auffassung von Engels, auf die sich Bauer in anderem Zusammenhang beruft, zu der Auffassung, die in den Sätzen zum Ausdruck kommt:
"Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats." (Engels)*VI.7
Dieser Widerspruch zwischen der Auffassung von Bauer und der von Engels beruht darauf, daß die

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beiden Diktaturbegriffe aus völlig verschiedenen Ebenen hergeleitet sind und einen gänzlich verschiedenen Inhalt haben. Bei Engels ist der Begriff der Diktatur, wie noch weiter gezeigt werden wird, ein soziologischer, der seinen Inhalt erhält aus einer bestimmten Struktur der jeweils gegebenen Produktionsweise, während der Diktaturbegriff von Otto Bauer der Ebene des politischen Mittels der Klassenherrschaft entnommen ist und seine Begriffsbestimmung mit dem konkreten sozialen Gehalt einer solchen Klassenherrschaft nichts zu tun hat.

Wie stellt sich nun Max Adler zu der gegen ihn gerichteten Bauerschen Beweisführung? Sein Standpunkt wurde bereits in der Debatte des Linzer Parteitages präzisiert, in Kürze zwar, aber gerade im Hinblick auf die Ausführungen von Otto Bauer wohl mit polemischer Eindeutigkeit. Dabei ist festzuhalten, daß Max Adler stets von der grundlegenden Unterscheidung zwischen der politischen Demokratie als der bloßen Rechtsgleichheit im Rahmen der Klassengesellschaft und der sozialen Demokratie als der Verwirklichung des Idealsbegriffes der Demokratie in der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft ausgeht. Im Rahmen dieser Betrachtungsweise sind für ihn politische Demokratie und Diktatur keine Gegensätze, insofern die politische Demokratie als eine Form der Klassenherrschaft gefaßt wird. Wenn aber die Vereinbarkeit der Diktatur mit der politischen Demokratie ganz besonders, wie das Max Adler tut, in den Vordergrund gerückt wird, so ist erst recht eine präzise Begriffsbestimmung der Kategorie Diktatur unentbehrlich. Nun führte Max Adler auf dem Linzer Parteitag aus:
"Solange dieser Klassengegensatz in der Gesellschaft besteht, gibt es kein eigentliches Volk, infolgedessen keine Demokratie im eigentlichen Sinne des Wortes, weil die Demokratie heute [...] erst die Demokratie der bloßen Rechtsgleichheit ist, in der aber immer ein Teil der Gesellschaft über den andern Teil herrscht; das ist das, was Marx als Diktatur bezeichnet hat. Man sagt: Klassenherrschaft ist keine Diktatur. Der sozialen Funktion nach ist jede Klassenherrschaft Diktatur. Sie äußert sich nicht immer als Diktatur. Aber sie äußert sich sofort als Diktatur, wenn sie bedroht ist. Wer ein Beispiel haben will, der sehe auf England hin [...] wie dort wegen des Kohlenarbeiterstreiks die demokratischen Freiheiten sistiert werden. [...] Das ist die Diktatur der Bourgeoisie, die nicht immer mit der Guillotine arbeitet, aber hierzu jeden Augenblick bereit ist. [..] Nun hat man weiters gesagt, Klassenherrschaft - selbstverständlich, die Demokratie muß zur Klassenherrschaft des Proletariats führen. Klassenherrschaft ist aber noch nicht Diktatur. Aber [...] Bauer hat [...] selbst dargelegt, daß die Klassenherrschaft der Bourgeoisie die Tendenz hat, in Diktatur umzuschlagen. Und das genügt, um den Zusammenhang zwischen Diktatur und politischer Demokratie richtig zu würdigen. Das Proletariat muß erkennen, daß alle politische Demokratie, d. h. alle Majoritätsherrschaft in Diktatur übergehen kann und daher ihrer Anlage nach Diktatur ist." (Adler)*VI.8

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Für Max Adlers Diktaturbegriff erhalten wir hier eine Reihe wesentlicher Merkmale. Zunächst heißt es, daß jede Herrschaft ihrer sozialen Funktion nach Diktatur sei. Dieses Merkmal der sozialen Funktion wird aber späterhin als bloße "Anlage" der Klassenherrschaft in der Demokratie gekennzeichnet, so daß die Klassenherrschaft durchaus nicht zu jeder Zeit Diktatur ist, sondern nur gelegentlich in Diktatur umschlagen kann. Klassenherrschaft braucht sich also keineswegs immer als Diktatur zu äußern. Und schließlich erscheint als Merkmal der Diktatur die Sistierung der demokratischen Freiheiten, d. h., eine Einschränkung oder Aufhebung der politischen Demokratie. Träfen nun diese Merkmale auf den Marxschen Diktaturbegriff zu, so läge in der Tat keine Veranlassung vor, als Diktatur etwas zu bezeichnen, was nur gelegentlich sich als Diktatur äußert bzw. in Diktatur umschlägt. Wenn Diktatur zugleich eine ganze Epoche der Klassenherrschaft charakterisieren soll, anderseits aber ein politisches Mittel ist, als das sich die Klassenherrschaft durchaus nicht immer äußert, so hat gegenüber Max Adler Friedrich Adler recht, wenn er sagt*VI.9 , daß sich im Sinne der Max Adlerschen Auffassung des Diktaturbegriffes mit den Begriffen der "Mittel der Diktatur" und der "demokratischen Mittel" der Klassenherrschaft, auf denen das Linzer Programm aufgebaut ist, ohne daß Max Adler an diesen Formulierungen Kritik geübt hätte, nichts anfangen ließe.*VI.10 Denn entweder sind die Mittel der Diktatur die adäquaten Mittel der Klassenherrschaft - dann ist diese Klassenherrschaft nicht nur der Anlage nach*VI.11 Diktatur; oder es sind dies exzeptionelle Mittel, zu denen die Klassenherrschaft nur gezwungenermaßen in besonderen historischen Situationen greift - dann ist die Klassenherrschaft ihrem Wesen nach keine Diktatur und hat mit Diktatur nur das eine gemeinsam, daß sie die Tendenz hat, "in Diktatur umzuschlagen".

Um dem Widerspruch des Max Adlerschen Diktaturbegriffes auf die

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Spur zu kommen, müssen wir die näheren Begriffsbestimmungen analysieren, die er an verschiedenen Stellen seiner Werke, insbesondere in der Staatsauffassung des Marxismus und in der Schrift Politische oder soziale Demokratie? verwendet. In der erstgenannten Schrift erhalten wir zunächst folgende Definition des Diktaturbegriffes:
"Der eigentliche Sinn des Begriffes der Diktatur ist [...] erst dann zu erfassen, wenn man sich jene Doppelbedeutung des Begriffes der Demokratie klar vor Augen hält, wonach es sowohl die politische als die soziale Demokratie bedeutet; und dann besagt die Idee der Diktatur, daß politische Demokratie, weil stets eine Form der Klassenherrschaft, ohne Diktatur überhaupt nie möglich war noch möglich sein wird [...] In der bürgerlichen Demokratie besteht zweifellos die Diktatur der herrschenden Klassen, und dies komm sofort auch grob sichtbarlich zum Ausdruck, wenn sie in sogenannten politischen Zeitei die Staatsgrundgesetze suspendieren, den Ausnahmezustand verhängen und Soldaten Richter, Polizei über die ´aufrührerisch´ gewordenen Massen loslassen." (Adler)*VI.12
Was ist aber dann das Wesen der Diktatur? Soll sie ihr Merkmal darin finden, daß die Verfassung der politischen Demokratie suspendiert, alsso die Demokratie eingeschränkt wird? Aber wenn diese Aufhebung oder Beschränkung der Demokratie, letztere etwa als Zustand gefaßt, Diktatur sein soll, dann ist offensichtlich dieser Zustand selbst, der nunmehr aufgehoben wird, keine Diktatur, denn sonst könnte nicht die Aufhebung eines Zustandes, der Diktatur ist, zugleich ihrerseits wiederum Diktatur sein.

Wir erfahren neuerlich, daß die Klassenherrschaft nicht jederzeit Diktatur ist, sondern nur die Tendenz hat, sich in einer Aufhebung oder Beschränkung der Demokratie in Diktatur zu verwandeln. Daß der Begriff der Diktatur in diesem Zusammenhang von Max Adler tatsächlich so aufgefaßt wird, bestätigen auch die folgenden Sätze:
"Es ist [...] gar kein Problem mehr, das die proletarische Diktatur innerhalb der politischen Demokratie darstellt. Herrscht das Proletariat, so wird es naturgemäß seine Herrschaft ebenso als eine Machtfrage gegenüber widerstrebenden sozialen Bestrebungen betätigen, wie es bisher die Bourgeoisie tat. Daß also die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinsfreiheit usw. für gewisse Volksteile, die sich dann mit der gestürzten herrschenden Klasse decken werden, in kritischen Situationen beschränkt oder aufgehoben werden, ist gar kein ´Widerspruch gegen die Demokratie´. Denn es handelt sich ja bis jetzt immer erst nur um die politische Demokratie, die noch keinen klassenlosen Staat zur Grundlage hat." (Adler)*VI.13
Wieder ist Diktatur in diesem Rahmen immer nur Einschränkung der politischen Demokratie. Wenn der Begriff der Diktatur so gefaßt wird, so kann man Max Adler auch nicht zustimmen, wenn er meint, daß sich

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hieraus kein Widerspruch zur Demokratie ergebe. Faßt man überhaupt die Diktatur als einen Komplex bestimmter staatsrechtlich zu definierender Mittel der Rechtsverfolgung auf, so ist der Widerspruch zur Demokratie, die dann einen anderen Komplex solcher staatsrechtlicher Mittel darstellen muß, gar nicht zu umgehen. Wäre kein Widerspruch zwischen der Demokratie als einem politischen System und der Diktatur als einem politischen System - und wir sehen ja immer wieder, daß Max Adler die Diktatur eben als ein solches politisches System definiert - vorhanden, so müßten offensichtlich Diktatur und politische Demokratie in ihren Mitteln der Rechtsverfolgung identisch sein, der Begriff der Diktatur wäre nicht nur inhaltlos, sondern auch überflüssig. Indes wird von Max Adler im Verlauf seiner Erörterungen die Diktatur weiter umschrieben als "Klassengewalt" und von ihr, auf den Spezialfall der proletarischen Diktatur bezogen, gesagt: "Die Diktatur des Proletariats ist Gewalt einer Klasse gegen die andere, nicht gegen eine Partei, eine Gewalt, die fortgesetzt werden muß nicht bloß bis zur Entthronung dieser Klasse, sondern bis zu ihrer Vernichtung, weil erst dann eine klassenlose Gesellschaft möglich ist."*VI.14

Ist dem aber so, daß die Diktatur nichts anderes ist als die Gewalt einer Klasse gegen eine andere, so entsteht die Frage, warum hier in der Tat nicht der Begriff Klassenherrschaft ausreichend wäre. Für Max Adler reicht der Begriff Klassenherrschaft nicht aus, weil er unter Diktatur nicht Klassenherrschaft schlechthin, sondern, wie sich aus der bisherigen Darstellung ergab, eine spezifische Form der Klassenherrschaft, nämlich die Vergewaltigung einer Klasse durch eine andere, also eine terroristische Herrschaftsausübung versteht - ein Resultat, das feststeht, wiewohl über die Definition des Begriffes der Diktatur nähere Ausführungen in Staatsauffassung des Marxismus explizit nicht zu finden sind. Eine nähere Umschreibung des von Max Adler verwendeten Diktaturbegriffes läßt sich mit Leichtigkeit aus seiner Schrift Politische oder soziale Demokratie? entnehmen. Der Ausgangspunkt ist hier ebenfalls die Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie und die These, daß politische Demokratie mit Diktatur durchaus vereinbar sei; freilich wird auch hier eine nähere Definition des Begriffes Diktatur der Darstellung und Begründung dieser These nicht vorausgeschickt. Die zentrale Stelle nimmt die Feststellung ein, daß die politische Demokratie der spezifischen Form der Diktatur zu ihrer Ausübung bedürfe:

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"Es ergibt sich, daß die Behauptung, Demokratie und Diktatur sei ein Widerspruch, gar keinen Sinn hat, solange man nicht klar bestimmt, was man unter Demokratie versteht. Sobald dies aber geschieht, zeigt sich, daß Diktatur im Widerspruch steht nur mit der sozialen Demokratie, dagegen so wenig mit der politischen Demokratie, daß sie geradezu die Form ist, in der diese ausgeübt wird." (Adler)*VI.15
Die Verwandtschaft dieser Definition mit dem Sinn der Auffassung von Otto Bauer springt in die Augen: die Diktatur wird als Form gefaßt, als Form der Demokratie, während diese aber doch schließlich auch nichts anderes ist als Form der Klassenherrschaft. Aber diese Form ist doch wiederum etwas Abweichendes von der Staatsform der Demokratie, insofern nämlich, als sie Einschränkung der Demokratie bedeutet: gerade in dieser Einschränkung der Demokratie liegt für Adler das bestimmende Merkmal der Diktatur. So wird der Charakter der Klassenherrschaft der Bourgeoisie als Diktatur von Max Adler in einer Darstellung der Wahrscheinlichkeit häufiger Beschränkungen der Demokratie im Kapitalismus dargelegt:
"Daß dies wirklich der eigentliche Charakter aller ´demokratischen´ Gesetzgebung ist, sobald die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung oder auch nur der ökonomischen und politischen Vorzugsstellung der herrschenden Schichten in Betracht kommen, das zeigt sich sofort, wenn die bürgerliche Demokratie in eine kritische Epoche gerät, in welcher sie mit einem großen Widerstand des Proletariats oder überhaupt mit der Unzufriedenheit großer Massen zu rechnen hat. Dann werden sofort die Machtmittel des Staates aufgeboten, um den Willen der regierenden Schichten zu verstärken und durchzusetzen." (Adler)*VI.16
Das besagt aber nicht mehr, als daß die politische Demokratie als Form der Klassenherrschaft ihre eigene Suspendierung in ihrem Begriffe einschließt, und das ist ja eben jenes politische Merkmal, das sie von der sozialen Demokratie unterscheidet. Wäre aber Diktatur lediglich der Ausdruck für eine solche Selbstaufhebung der politischen Demokratie, so wäre Diktatur mit politischer Demokratie schlechterdings gleichzusetzen oder eben nur als exzeptioneller Zustand zu fassen, der keineswegs die Signatur einer ganzen Epoche angibt. Auch daß es zum Wesen der politischen Demokratie gehört, "daß eine Regierung, gestützt auf die Majorität im Parlamente, sich jede Diktatur durch Majoritätsbeschluß legitimieren lassen kann"*VI.17 , unterstreicht nur, daß hier die Diktatur zwar eine in der Struktur der politischen Demokratie vorgesehene Ausnahme, aber doch eine Ausnahme ist. Und dann haben wir die Diktatur lediglich als ein bestimmtes staatsrechtliches Mittel der Rechts-

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verfolgung
, dessen Identifizierung mit der sozialen Struktur der Klassenherrschaft weder logisch zulässig noch historisch berechtigt ist.

Max Adler beschränkt sich jedoch nicht darauf, die Diktatur in diesem Sinne als eine bestimmte Äußerungsform der Verfassung der politischen Demokratie zu charakterisieren, sondern er geht auch weiter und grenzt die Diktatur in seinem Sinne namentlich von den undemokratischen Formen der Klassenherrschaft ab:
"Die Diktatur beruht"
, führt er aus,
"[...] auf der politischen Demokratie, d. h. auf der Majoritätsherrschaft, und deshalb ist zwischen formaler Demokratie und Diktatur kein Widerspruch. Dagegen bedeutet die Herrschaft einer Minorität über die Majorität einen absoluten Widerspruch zur Demokratie. Sie hat in der Geschichte zwei Formen, in denen sie auftritt. Die eine Form, welche den allergrößten Teil der bisherigen Geschichte ausfüllt, ist die der undemokratischen Klassenherrschaft, wo eine kleine Schicht der Besitzenden und sozial Mächtigen die überwiegende Masse der übrigen beherrscht[...]. Die andere Form dagegen ist gleichsam eine akute Überrumpelung einer Majorität durch eine sich aufschwingende Minorität in revolutionären Zeiten. Für diese hat man, weil hier die Vergewaltigung der Mehrheit durch die Minderheit besonders in die Augen fällt, den Ausdruck des ´Terrorismus´ geprägt." (Adler)*VI.18
Nun ist aber Diktatur nach der Definition von Max Adler vom Terrorismus wesensverschieden. Es empfehle sich, sagt er, den Ausdruck Terrorismus von dem der Diktatur streng zu scheiden. "Denn damit wird viel Verwirrung aufgeklärt, die sich sonst an die Gleichsetzung von Diktatur und Terrorismus knüpft. Sicherlich sind beide Begriffe darin übereinstimmend, daß sie eine Vergewaltigung anderer bedeuten. Aber beim Terrorismus ist es die Majorität, die vergewaltigt wird, bei der Diktatur bloß die Minorität. Beim Terrorismus sind die Nutznießer lediglich die Wenigen, bei der Diktatur die Vielen."*VI.19 Welches ist also das charakteristische Unterscheidungsmerkmal der Diktatur? Daß sie eine Vergewaltigung einer Minorität durch eine Majorität ist. Vergewaltigung besagt hier aber, daß die politische Demokratie, die Majoritätsherrschaft, eingeschränkt oder aufgehoben wird. Zum Unterschied vom Terrorismus ist dann Diktatur eine "demokratische" Form der Aufhebung der Demokratie. In Wirklichkeit indes schließt die in der politischen Demokratie organisierte Klassenherrschaft der Bourgeoisie beide Formen der Einschränkung bzw. der Aufhebung der Demokratie ein,

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sowohl die "undemokratischen", die Max Adler als Terrorismus bezeichnet, als auch die "demokratische", die nach seiner Prämisse die Diktatur ist. Und das weiß schließlich auch Adler, wenn er in einer Fußnote bemerkt, aus der Unterscheidung von Terrorismus und Diktatur ergebe sich, "daß anderseits auch die bürgerliche Klassenherrschaft, obgleich sie in letzter Linie die Interessen bloß einer Minorität vertritt und auch lange genug eine mehr oder minder verhüllte Art des Terrorismus war, doch auch eine demokratische Diktatur sein konnte und gegenwärtig sein kann, sobald nämlich und solange sie sich auf die Majorität in einer demokratischen Verfassung stützen kann."*VI.20 Hervorzuheben ist dieses "solange". Tritt nämlich eine Situation ein, wo die Bourgeoisie ihre Klassenherrschaft vermittels der Demokratie (Majoritätsherrschaft) nicht mehr ausüben kann, so muß nach dieser Darlegung von Max Adler die Diktatur der Bourgeoisie in Terrorismus umschlagen. Aber anderseits betont Adler auch, daß die Diktatur der Bourgeoisie in der geschichtlichen Wirklichkeit zumeist tatsächlich eine Diktatur der Minorität ist, im Rahmen seiner Definition also keine Diktatur mehr, sondern Terrorismus. Sagt er doch: "[...] dabei ist noch zu bedenken, daß diese Diktatur (der Bourgeoisie. - A.G.] sicherlich die Diktatur einer Minorität über die Majorität ist, wenn sie auch nur dadurch möglich wird, daß die wirklich herrschenden Interessen große Volksteile in ihre Gefolgschaft zu bringen wissen, die ihr Interesse durch jene gefördert glauben."*VI.21 Wenn also die Herrschaft der Bourgeoisie "sicherlich die Diktatur einer Minorität über die Majorität ist", wenn sie "lange genug eine mehr oder minder verhüllte Art des Terrorismus war", wenn also letzten Endes die Tendenz, in Terrorismus (nach der Max Adlerschen Definition) überzugehen, für die Klassenherrschaft der

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Bourgeoisie zum mindesten ebenso kennzeichnend ist wie die Tendenz, in Diktatur (wiederum nach der Begriffsbestimmung von Max Adler) umzuschlagen, so ist es unlogisch und wenig zweckentsprechend, sie als Diktatur und nicht allenfalls als Terrorismus zu bezeichnen. So ist denn die Begriffsbestimmung der Diktatur bei Max Adler in keiner Weise sinnentsprechend. Der Grund dieser widerspruchsvollen Begriffsbestimmung der Diktatur liegt darin, daß Adler die Diktatur doch letzten Endes immer wieder als Regierungsform faßt. Sagt er doch: "[...] selbstverständlich ist der bloße Zustand der Diktatur des Proletariats, obwohl er ein nur vorübergehender ist und sein muß, doch während seiner Dauer notwendig eine Regierungsform, nämlich eben die Herrschaft des Proletariats, der proletarische Staat*VI.22 ." Daraus, daß die Diktatur des Proletariats zweifellos identisch ist mit dem proletarischen Staat, folgt an sich durchaus nicht, daß sie eben dadurch auch eine Regierungsform ist, sondern daraus folgt nur, daß der proletarische Klasseninhalt der Diktatur sich eine adäquate Staatsform schafft. Wird aber wortwörtlich gesagt, daß die Diktatur des Proletariats mit ihrer Regierungsform gleichzusetzen ist, und hinzugefügt, daß die Regierungsform der proletarischen Diktatur notwendigerweise die Tendenz einschließe, zur Einschränkung der Demokratie zu führen, während doch Demokratie ihrerseits auch eine Staatsform ist, so ergibt sich daraus ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen Demokratie als Staatsform und Diktatur als Staatsform, und eine sinnvolle Aufhebung dieses Widerspruches läßt sich nicht konstruieren. Denn eine Aufhebung des Widerspruches zwischen der Demokratie und ihrer prinzipiellen Beseitigung kann es offenbar in der Ebene des Staatsrechtlichen nicht geben. Verfolgen wir nun den Widerspruch der Max Adlerschen Begriffsbestimmung der Diktatur in seinem Ursprung, so müssen wir auf die folgende Darlegung zurückgehen. Max Adler führt an einer Stelle aus:
"Wir wissen bereits, daß das Wesen der politischen Demokratie bloß in der formalen Rechtsgleichheit besteht. Dies aber muß in einer unsolidarischen Gesellschaft, also im heutigen Klassenstaat, notwendig dahin führen, daß Beschlüsse über Lebensfragen des Staates zugleich immer Kampfentscheidungen sind, in denen um die Beherrschung des Staates durch die einander entgegenstehenden Interessenkomplexe verschiedener Klassen gekämpft wird. Und schließlich handelt es sich in letzter Linie innerhalb der bürgerlichen Demokratie um Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentums- und Staatsordnung gegen die Bestrebungen der proletarischen Demokratie, diese Staats- und Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Daher hat die Rechtsordnung im bürgerlichen Staate von vornherein den Charakter der Diktatur der besitzenden Klassen über die Besitzlosen." (Adler)*VI.23
Also geht der Diktaturcharakter der bürgerlichen Klassenherrschaft daraus hervor, daß sie an die "bürgerliche Eigentums- und Staatsordnung" (exakter wäre hier zu sagen: an die kapitalistische Produktionsweise) gebunden ist, und sehr richtig bemerkt Max Adler, daß durch die "Form der politischen Demokratie" (das heißt, gerade durch die Staatsform der Demokratie, die also nicht identisch ist mit Diktatur) der eigentliche Diktaturcharakter der bürgerlichen Klassenherrschaft verkleidet werde, "indem die Beschlüsse, durch welche die Gesetze der bürgerlichen Rechtsordnung zustande kommen, äußerlich ja als Majoritätsbeschlüsse eines Vertretungskörpers erscheinen, der [...] aus dem freien und gleichen Wahlrechte aller Bürger und Bürgerinnen hervorgegangen ist, und in dem alle Abgeordneten gleichberechtigt sind".*VI.24 Allein der sich hieraus aufdrängende Begriff der Diktatur, der als Diktatur eine Klassenherrschaft fassen müßte, die mit dem Bestand einer bestimmten Produktionsweise unzertrennlich verknüpft ist, wird von Adler aus der Sphäre der Produktionsverhältnisse wie sie auf der Basis einer gegebenen Produktionsweise entstehen müssen, in die Sphäre des juristischen Überbaus dieser Produktionsverhältnisse verlegt.*VI.25

Aus einem soziologischen Begriff wird ein juristischer, und es wird uns dies verständlich, wenn wir beachten, daß Adler seinen Diktaturbegriff der Diktaturlehre von Schmitt-Dorotic entlehnt. Nach Schmitt-Dorotic ist ja die Diktatur begrifflich a priori dadurch gekennzeichnet, daß sie immer ein Mittel der Rechtsverfolgung im Dienste einer bestimmten Rechtsidee darstellt, gleichgültig, ob es sich um Rechtsbehauptung oder um Rechtsschöpfung, um die Durchsetzung einer bereits bestehenden Rechtsordnung oder die Begründung einer neuen Rechtsordnung handelt. So sagt Schmitt-Dorotic: "Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus."*VI.26 Und er fügt hinzu:
"Die innere Dialektik dieses Begriffes [der Diktatur. - A. G. J liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden soll. Zwischen der Herrschaft der zu verwirklichenden Norm und der Methode ihrer Verwirklichung kann also ein Gegensatz bestehen. [117] Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverfolgung." (Schmitt-Dorotic)*VI.27
Indes haben wir gesehen, daß ja auch dem Adlerschen Begriff der Diktatur nichts anderes zugrunde liegt als die Vorstellung, daß die Diktatur als eine Form der demokratischen Majoritätsherrschaft eine in der Rechtsnorm der Demokratie einbegriffene, von ihr abweichende Norm der Rechtsverfolgung sei. Die Möglichkeit des Umschlagens in die Diktatur ist ja nach Max Adler das Charakteristikum der politischen Demokratie, also der Demokratie, wie sie allein in der Klassengesellschaft möglich ist. Dieses Umschlagen in die Diktatur soll, wie wir sahen, die Bezeichnung der ganzen Periode, in der diese Tendenz zum Umschlagen gegeben ist, als Diktatur rechtfertigen. Das ist aber eben dies, was auch den Sinn der rechtsphilosophischen Begriffsbestimmung von Schmitt-Dorotic ausmacht: die Diktatur ist eine Norm der Rechtsverfolgung, eingeschlossen in eine von ihr verschiedene Norm des Rechtes. So beruht auch Max Adlers Unterscheidung zwischen der "undemokratischen Form der Klassenherrschaft" einer Minorität und dem "Terrorismus", der doch wiederum eine undemokratische Vergewaltigung der Majorität durch eine Minorität ist, auf Dorotic‘ Begriffsbestimmung der Diktatur als Norm der Rechtsverfolgung, der gegenüber der Despotismus als eine Aufhebung der Rechtsnorm schlechthin soll konzipiert werden können. In dem gleichen Sinne finden sich denn auch Schmitt-Dorotie‘ Begriffe der souveränen (rechtsbegründenden) und der kommissarischen (rechtsbehauptenden) Diktatur bei Max Adler wieder, indem die Diktatur der Bourgeoisie in der politischen Demokratie als Rechtsbehauptung ("Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentums- und Staatsordnung"), die Diktatur des Proletariats als Rechtsschöpfung ("sie beruft sich [...] auf eine Verfassung, auf eine Norm, aber auf eine erst zu schaffende"*VI.28 ) gefaßt wird. Aber das ist ja eben der Sinn des juristischen Diktaturbegriffes von Schmitt-Dorotic, daß die Diktatur als solche keine Rechtsordnung ist, sondern ein System exzeptioneller Normen der Rechtsverfolgung, das in einer bestimmten Rechtsordnung enthalten ist!

Es entspricht jedoch nicht dem Sinn des Diktaturbegriffes im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung, seine Begriffsbestimmung in der Ebene des Formal-Rechtlichen zu suchen. So sagt schließlich Max

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Adler selbst, indem er die Mittel der proletarischen Diktatur von ihrem Inhalte unterscheidet:
"Welche Mittel diese Diktatur anwenden wird, um ihr Ziel zu erreichen, hängt ganz und gar von Zweckmäßigkeitsgründen ab. [...] Aber selbst wenn sie dazu schreiten müßte, die politischen Rechte ihrer Gegner, also ihr Wahlrecht, ihre Preßfreiheit, ihr Vereins- und Versammlungsrecht zu beschränken, so darf man [...] dabei nicht übersehen: daß[...] die Diktatur des Proletariats eine revolutionäre Epoche ist, bei der es sich um keinen normalen Ruhezustand der Gesellschaft handelt, sondern erst um einen Übergang zu einem solchen." (Adler)*VI.29
Freilich liegt bei Adler der Nachdruck auf der Kennzeichnung der Epoche der proletarischen Diktatur als einer revolutionären Epoche; aber das ändert nichts daran, daß es sich eben um den Klasseninhalt einer bestimmten Epoche handelt und nicht um die Mittel der Rechtsverfolgung, die die in dieser Epoche herrschende Klasse zur Durchsetzung der der gegebenen Produktionsweise entsprechenden Rechtsidee in Anwendung bringt. Dies, das Wesen des Diktaturbegriffes in der Gebundenheit des staatlichen Überbaus an eine bestimmte Produktionsweise zu suchen, ist nun auch der alleinige Sinn der marxistischen Staatsbetrachtung. So definiert Max Adler selbst die Aufgabe der Soziologie des Staates im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung:
"Der Marxismus"
, sagt er in "Gesellschaftsordnung und Zwangsordnung",
"ist Soziologie, er erforscht den Staat als ein Gebilde des gesellschaftlichen Seins und Geschehens durchaus im Sinne der Kausalbetrachtung. Die Staatslehre dagegen ist Normologie, sie betrachtet den Staat lediglich als ein Gebilde der Regelung des gesellschaftlichen Lebens. Der Staat ist ihr daher kein kausal, sondern ein normativ zu erfassendes Gebilde, und sie fragt daher nie danach, welche Art von Regelung gesellschaftlichen Lebens als Staat bezeichnet werden kann. Daher ist ihr Begriff vom Staate ein allgemeiner Begriff" (Adler)*VI.30
Dem wird nun vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung aus entgegengehalten: "Der Staat ist durchaus eine historische Kategorie. Es gibt für den Marxisten nicht einen Staat als solchen, und er wird es daher auch ablehnen, von einer Idee des Staates zu reden."*VI.30a In diesem Sinne freilich muß auch die Begriffsbestimmung der Diktatur angestrebt werden!

Daß der Marx-Engelssche Begriff der Diktatur sich nicht auf die Diktatur als Staatsform bezieht, ging schon aus der oben zitierten Bemerkung von Engels hervor, wonach die demokratische Republik die

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spezifische Form der Diktatur des Proletariats sei. Daß es sich aber auch in dem Zusammenhang, in dem Marx von der Diktatur der Bourgeoisie spricht, nicht um eine spezifische Form der Klassenherrschaft, sondern um ihren sozialen Inhalt handelt, ist vielmehr gerade der Sinn der ganzen einschlägigen Darlegung von Marx. Es ist die Ausübung der Diktatur der Bourgeoisie durch den militärischen Apparat des Staates in der Französischen Revolution von 1848, die Marx als ein Beispiel dafür anführt, daß es sich trotz dieser scheinbar "verselbständigten" Form der Diktatur doch um nichts anderes handelt als eben um die Diktatur der Bourgeoisie als Klasse. Wir führen die betreffende Stelle an:
"Einen Augenblick hatten Armee und Bauernklasse geglaubt, mit der Militärdiktatur sei gleichzeitig der Krieg nach außen und die ´gloire´ auf die Tagesordnung Frankreichs gesetzt. Aber Cavaignac, das war nicht die Diktatur des Säbels über die bürgerliche Gesellschaft, das war die Diktatur der Bourgeoisie durch den Säbel. Und sie brauchten jetzt vom Soldaten nur noch den Gendarm. Cavaignac verbarg unter den strengen Zügen antirepublikanischer Resignation die fade Unterwürfigkeit unter die demütigenden Bedingungen seines bürgerlichen Amtes. L‘argent n‘a pas de maitre! Das Geld hat keinen Herrn! Diesen alten Wahlspruch des tiers état idealisierte er, wie überhaupt die konstituierende Versammlung, indem sie ihn in die politische Sprache übersetzten: Die Bourgeoisie hat keinen König, die wahre Form ihrer Herrschaft ist die Republik." (Marx)*VI.31
So ist hier gerade der Sinn der Anwendung des exzeptionellen Mittels der Militärdiktatur der der Unterwerfung des militärischen Apparates unter die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, die ihrerseits ihre adäquate Staatsform in der Republik findet. Es geht um eine Klassenherrschaft also, die nicht durch bloße Gewalt ("Vergewaltigung" einer Minorität nach Max Adler) herrscht, sondern die über die Gewalt herrscht, der der Apparat der Gewalt unterworfen ist aufgrund ihrer Stellung als herrschende Klasse im gesellschaftlichen Produktionsprozeß.

Es ist dies auch der gedankliche Inhalt der Feststellung des Kommunistischen Manifestes, daß die Staatsgewalt "nur ein Ausschuß" sei, "der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet" Denn der vorhergehende Satz sagt sehr eindeutig, worauf diese Unterwerfung der Staatsgewalt unter die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeoisie als Klasse in ihrer Gesamtheit beruht:

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"Wir sehen [...]"
, sagt das Kommunistische Manifest,
"wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist. Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter, steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft." (Marx)*VI.32
Die große Industrie und der Weltmarkt, mit anderen Worten, die Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise: das ist die Basis, auf der sich das Gebäude der diktatorischen Beherrschung des Staates durch die Bourgeoisie erhebt. Aber auch 40 Jahre später heißt es bei Engels genau in dem gleichen Sinne, daß der Inhalt des Staates bestimmt werde durch den Klassengehalt der herrschenden Produktionsweise:
"Wie beim einzelnen Menschen alle Triebkräfte seiner Handlungen durch seinen Kopf hindurchgehen, sich in Beweggründe seines Willens verwandeln müssen, um ihn zum Handeln zu bringen, so müssen auch alle Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft - gleichviel, welche Klasse gerade herrscht - durch den Staatswillen hindurchgehen, um allgemeine Geltung in Form von Gesetzen zu erhalten. Das ist die formelle Seite der Sache, die sich von selbst versteht: es fragt sich nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Wille - des einzelnen wie des Staates - hat, und woher dieser Inhalt kommt. [...] Und wenn wir hier nachfragen, so finden wir, daß in der modernen Geschichte der Staatswille im ganzen und großen bestimmt wird durch die wechselnden Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Übermacht dieser oder jener Klasse, in letzter Instanz durch die Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhältnisse. [...] Ist der Staat noch heute [...] im ganzen und großen nur der Reflex, in zusammenfassender Form, der ökonomischen Bedürfnisse der die Produktion beherrschenden Klasse, so mußte er dies noch viel mehr sein zu einer Epoche, wo eine Menschengeneration einen weit größeren Teil ihrer Gesamtlebenszeit auf die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse verwenden mußte, also weit abhängiger von ihnen war, als wir heute sind." (Engels)*VI.33
Der Inhalt des Staates ist und bleibt die Widerspiegelung der ökonomischen Bedürfnisse der die Produktion beherrschenden Klasse. Und diese Herrschaft einer Klasse über die gesellschaftliche Produktion bleibt so lange bestehen, als die Produktionsweise unerschüttert ist, aus der sie hervorgegangen ist. Für die materialistische Geschichtsauffassung genügt es nicht, aus der historischen Untersuchung der Entstehung des Staates zu folgern, daß der Staat der Ausdruck einer bestimmten Klassenherrschaft sei. Sie muß weiterforschen, sie muß danach fragen, welches die Voraussetzungen dieser Klassenherrschaft sind, und wenn

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sie dann zu dem Ergebnis gelangt, daß die Herrschaft einer bestimmten Gesellschaftsklasse unzertrennlich verknüpft ist mit der beherrschenden Stellung dieser Klasse im gesellschaftlichen Produktionsprozeß und daß diese beherrschende Stellung wiederum nur der Ausdruck einer bestimmten Struktur der gesellschaftlichen Produktion, einer bestimmten Produktionsweise ist, dann muß sie logischerweise konstatieren, daß hier der Ausdruck Klassenherrschaft zur Bezeichnung der Verankerung der Herrschaft einer bestimmten Klasse in der entsprechenden Produktionsweise nicht mehr ausreicht, daß die soziologische Forschung hier eines Begriffes bedarf, der diese unzerreißbare Bindung zwischen Produktionsweise und Klassenherrschaft ausdrücklich hervorhebt. Nicht deswegen reicht der Begriff "Klassenherrschaft" nicht aus, weil diese Klassenherrschaft jederzeit in die Vergewaltigung einer Minorität ausarten kann, sondern er reicht nicht aus, weil diese Klassenherrschaft für die Dauer des Bestandes der ihr entsprechenden Produktionsweise unzerreißbar, wir möchten sagen: unabdingbar ist.

Es ist dies aber auch im juristischen Begriff der Diktatur gelegen: daß, welches immer die Rechtsquelle der Diktatur sei, ob eine bereits bestehende oder eine erst zu begründende Rechtsordnung, sie ihre Machtvollkommenheit als eine, solange sie besteht, unzerbrechliche in sich trage. Daß die Diktatur, juristisch gefaßt, die Geltung bestimmter Rechtsgarantien aufhebt, ist nichts weiter als der Ausdruck dafür, daß sie jene Rechtsnorm, die sie zu verwirklichen vorgibt, als souveräner Träger der Rechtsidee entweder selbst verwirklicht oder selbst begründet, ohne daß hieran von anderen Rechtssubjekten als den Trägern der Diktatur irgend etwas geändert werden könnte. In dem Augenblick, da die Diktatur - immer juristisch gefaßt - Rechtsgarantien schafft, denen nicht nur die anderen Rechtssubjekte unterworfen sind, sondern auch sie selbst, in dem Augenblick hebt sie ihre Geltung als souveräner Träger der Rechtsidee auf und hört auf, Diktatur zu sein. Die Machtvollkommenheit der Träger der Klassenherrschaft als Diktatur im Marxschen Sinne quillt nun daraus hervor, daß das jeweilige gegebene Herrschaftsverhältnis ein integrierender Bestandteil, ein unentbehrlicher Tragpfeiler der ökonomischen Struktur der jeweils gegebenen Gesellschaftsformation ist. So sagt Marx einmal: "Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst, und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt" Und so ist es "das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedin-

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gungen zu den unmittelbaren Produzenten"
, das "die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion, und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses" bestimmt*VI.34 .

Das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, das Souveränitätsverhältnis in einer bestimmten Gesellschaftsformation ist nicht der Reflex eines zufälligen, jeweils verschiedenen Stärkeverhältnisses der gesellschaftlichen Klassen, sondern der Ausdruck einer in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft selbst verwurzelten Form des gegenseitigen Verhältnisses der Besitzer der Produktionsmittel zu den Nichtbesitzern der Produktionsmittel. Noch deutlicher wird dies für den Spezialfall der kapitalistischen Produktionsweise von Marx in der Schrift Lohnarbeit und Kapital formuliert, wo geradezu das ökonomisch Essentielle der kapitalistischen Produktionsweise, die Verwandlung von toter, vergegenständlichter Arbeit in Kapital, von der Herrschaft der Kapitalistenklasse als der Voraussetzung des Funktionierens des Produktionsprozesses abhängig gemacht wird:
"Wie nun wird"
, fragt Marx,
"eine Summe von Waren, von Tauschwerten zu Kapital? Dadurch, daß sie als selbständige gesellschaftliche Macht, d. h. als die Macht eines Teiles der Gesellschaft sich erhält und vermehrt durch den Austausch gegen die unmittelbare, lebendige Arbeit. Die Existenz einer Klasse, die nichts besitzt als die Arbeitsfähigkeit, ist eine notwendige Voraussetzung des Kapitals. Die Herrschaft der aufgehäuften, vergangenen, vergegenständlichten Arbeit über die unmittelbare lebendige Arbeit macht die aufgehäufte Arbeit erst zum Kapital." (Marx)*VI.35
Hier haben wir den spezifischen Inhalt des Diktaturbegriffes der materialistischen Geschichtsauffassung. Die Diktatur ist nicht eine bloße Klassenherrschaft, die durch eine politische Revolution beseitigt werden könnte. Sie ist eine Klassenherrschaft, die zur ökonomischen Struktur der entsprechenden Produktionsweise gehört, eine Klassenherrschaft, ohne die diese Produktionsweise gar nicht gedacht werden kann. Sie ist der politische Überbau bestimmter Produktionsverhältnisse, aber als Überbau ist sie zugleich eine Voraussetzung des Funktionierens der Dynamik im Unterbau des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, der der betreffenden Produktionsweise adäquat ist. Sie ist eine kommissarische, nie eine souveräne Diktatur, insofern sie ihre Machtvollkommenheit aus der Struktur der jeweiligen Produktionsweise bezieht, sie nicht aus sich selbst begründet.

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Nun scheint die Diktatur des Proletariats, wie sie die materialistische Geschichtsauffassung begreift, im Widerspruch zu diesem Diktaturbegriff zu stehen. Sagt doch das Kommunistische Manifest, daß die Entwicklung des Proletariats in einem Punkte gipfele, in dem "durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet".*VI.36 Und noch exakter wird die souveräne Macht- und Rechtsschöpfung durch das Proletariat hervorgehoben, wenn es im Kommunistischen Manifest heißt: "Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren."*VI.37 Allein dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Schon an der Stelle, wo Marx die lapidaren Sätze hinstellt: "Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats"*VI.38 , heißt es auch nachdrücklich: "Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat frei zu machen. [...] Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln."*VI.39 Nicht aus eigener Machtvollkommenheit kann also das Proletariat die neue Gesellschaft begründen, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie überwinden, um seine eigene Diktatur an ihre Stelle zu setzen; es erhält seine Machtvollkommenheit aus der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, die den proletarischen Staat, solange er noch auf der Unterdrückung der bis dahin herrschenden Klasse beruht, also Staat ist, "in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ verwandelt". Doch darüber soll im einzelnen noch gehandelt werden.

VII. Die scheinbare Verselbständigung der Staatsgewalt

Ausübung der Diktatur durch den Staatsapparat
Im vorauf gegangenen Kapitel hatten wir einen neuen Inhalt des Diktaturbegriffes gewonnen. Die Diktatur erscheint nunmehr nicht als eine besondere Form des Staates, sondern als Klasseninhalt des Staates, gebunden an eine bestimmte Produktionsweise und im Rahmen dieser Produktionsweise unabdingbar. Wir unterscheiden freilich nicht, wie es Kautsky tut, zwischen der Diktatur als Staatsform und der Diktatur als Zustand, weil erstens die Diktatur nach unserer Begriffsbildung keine Staatsform ist, weil sie zweitens nicht einem Zustand gleichgesetzt werden kann, sondern die Dynamik einer Produktionsweise zurückspiegelt.*VII.1

Aber wir wollen festhalten, daß der Diktaturbegriff der materialistischen Geschichtsauffassung nicht in der Ebene der politischen oder der rechtlichen Form des Staates liegt, kein staatsrechtlicher und kein rechtsphilosophischer Begriff ist, sondern ein soziologischer; und im Sinne der Abgrenzung des sozialen Inhaltes des Diktaturbegriffes von einem staatsrechtlichen Inhalt, den dieser Begriff erhalten muß, sobald die Diktatur als ein System politischer Mittel gefaßt wird, war wohl auch die Unterscheidung von Kautsky gemeint.*VII.2

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Der Diktaturbegriff der materialistischen Geschichtsauffassung gilt als Kategorie der Klassengesellschaft gewiß für alle ihre Formationen. Allein er sagt nichts aus über die Formen der Klassendiktatur oder über ihre sozialen Träger; er enthält nur eine Aussage über den Klasseninhalt des an eine bestimmte Produktionsweise gebundenen staatlichen Überbaus der Gesellschaft. Nun haben wir aber bereits gesehen, daß die Diktatur der Bourgeoisie sich des militärischen Apparates des Staates bedienen kann, ja, ihn zum eigentlichen Träger der Diktatur macht. Gewiß handelt es sich dabei trotzdem immer wieder um die Diktatur jener Klasse, deren Herrschaft in der jeweiligen Produktionsweise verankert ist, nicht um die Diktatur der Trägerschicht des Staatsapparates. So handelt es sich unter der Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise um die Diktatur der Bourgeoisie als Klasse. Aber die Ausübung der Diktatur kann einer anderen Gesellschaftsschicht, kann dem Staatsapparat übertragen werden, und dann haben wir gewissermaßen eine Verselbständigung der Staatsgewalt vor uns.

Was verstehen nun Marx und Engels unter Verselbständigung der Staatsgewalt? In einer der ersten Auslassungen darüber lesen wir:
"Die Selbständigkeit des Staates kommt heutzutage nur noch in solchen Ländern vor, wo die Stände sich nicht vollständig zu Klassen entwickelt haben, wo die in den fortgeschritteneren Ländern beseitigten Stände noch eine Rolle spielen und ein Gemisch existiert, in denen daher kein Teil der Bevölkerung es zur Herrschaft über die übrigen bringen kann." (Marx)*VII.3
Und an einer anderen Stelle wird nunmehr ausführlicher gesagt:
"Der Zersplitterung der Interessen [in Deutschland um die Wende des 18. Jahrhunderts. - A.G.] entsprach die Zersplitterung der politischen Organisation, die kleinen Fürstentümer und die freien Reichsstädte. Wo sollte politische Konzentration in einem Lande herkommen, dem alle ökonomischen Bedingungen derselben fehlten? Die Ohnmacht jeder einzelnen Lebenssphäre [...] erlaubte keiner einzigen, die ausschließliche Herrschaft zu erobern. Die notwendige Folge davon war, daß während der Epoche der absoluten Monarchie [...] die besondere Sphäre, welcher durch die Teilung der Arbeit die Verwaltung der öffentlichen Interessen zufiel, eine abnorme Unabhängigkeit erhielt, die in der modernen Bürokratie noch weiter getrieben wurde. Der Staat konstituierte sich so zu einer scheinbar selbständigen Macht und hat diese in anderen Ländern nur vorübergehende Stellung - Übergangsstufe - in Deutschland bis heute behalten. Aus dieser Stellung erklärt sich sowohl das anderwärts nie vorkommende redliche Beamtenbewußtsein, wie die sämtlichen in Deutschland kursierenden Illusionen über den Staat, wie die [126] scheinbare Unabhängigkeit, die die Theoretiker hier gegenüber den Bürgern haben - der scheinbare Widerspruch zwischen der Form, in der diese Theoretiker die Interessen der Bürger aussprechen, und diesen Interessen selbst." (Marx)*VII.4
Welches sind die Merkmale der geschichtlichen Situation, in der hier eine Verselbständigung der Staatsgewalt möglich ist, eine Verselbständigung, die Marx im Manuskript durch die Einfügung des Wortes scheinbar als eine Scheinverselbständigung ausdrücklich unterstreicht? Zuerst ist festzuhalten, daß es sich um eine Periode des Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Produktionsweise handelt. Die Fundamente der Herrschaft der alten herrschenden Schicht sind zwar erschüttert, aber die neue aufsteigende Klasse hat noch nicht einmal das Gewand des Standes völlig abgestreift, ist nicht stark, nicht entwickelt genug, um den gesellschaftlichen Überbau den Bedingungen ihrer künftigen Produktionsweise anzupassen. Die feudale und die kapitalistische Produktionsweise bestehen nebeneinander, aber auch die ökonomische Vorherrschaft einer einzelnen Klasse ist gerade dadurch nicht mehr gegeben, daß es sich um die Koexistenz zweier Produktionssysteme handelt, die verschiedene Gesellschaftsklassen als herrschende Klassen postulieren. Auf dieser Basis erhebt sich das Gebäude der verselbständigten Bürokratie, deren Bedeutung für die staatliche Organisation der menschlichen Gesellschaft von Marx schon früher (wir sprachen darüber in Kapitel III) mit Nachdruck hervorgehoben worden ist. Diese Verselbständigung der Verwaltungsfunktionen der Gesellschaft bedingt nicht nur die Herausbildung eines besonderen verselbständigten Apparates, sondern auch die Entstehung einer besonderen Staatsideologie, des "redlichen Beamtenbewußtseins", und zum Träger dieser Ideologie wird die staatliche Bürokratie, deren ausschlaggebende politische Bedeutung eben die Verselbständigung der Staatsgewalt repräsentiert. Aber aus alledem geht eben hervor, daß es sich bei dem verselbständigten Staatsapparat nur um eine scheinbare Verselbständigung handelt, daß diese Verselbständigung - genauso wie ihre ökonomische Grundlage - vergänglich ist, daß in Wirklichkeit sowohl diese scheinbare Verselbständigung der Staatsgewalt als auch ihre spätere Überwindung nur Reflexe einer bestimmten Lagerung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind. Dies alles ist nun nichts anderes, als was schon an anderer Stelle berührt wurde: die eigenartige Situation in der Epoche der bürgerlichen Revolution, in der die Herausbildung neuer Produktionsverhältnisse lange Zeit neben dem Fortbestehen der alten

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vor sich geht. Der Feudalismus wird Schritt für Schritt seiner politischen Macht beraubt - in dem Maße, wie seine ökonomische Macht dahinschwindet; der scheinbar verselbständigte Staat paßt sich schneller oder langsamer den neuen bürgerlichen Produktionsverhältnissen an. Wir haben eine Übergangsepoche vor uns, in der die Verselbständigung der Staatsgewalt den politischen Schein einer bestimmten Stufe des Fortschreitens der politischen Revolution des Bürgertums widerspiegelt.

In der letzten Phase seiner literarischen Tätigkeit hat Engels das Problem der Verselbständigung der Staatsgewalt im Ursprung der Familie erneut aufgeworfen. Es heißt dort:
"Ausnahmsweise [...] kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält. So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Adel und Bürgertum gegeneinander balanciert; so der Bonapartismus des ersten und namentlich des zweiten französischen Kaiserreichs, der das Proletariat gegen die Bourgeoisie und die Bourgeoisie gegen das Proletariat ausspielte. Die neueste Leistung in dieser Art, bei der Herrscher und Beherrschte gleich komisch erscheinen, ist das neue Deutsche Reich Bismarckscher Nation: hier werden Kapitalisten und Arbeiter gegeneinander balanciert und gleichmäßig geprellt zum Besten der verkommenen preußischen Krautjunker." (Engels)*VII.5
Die scheinbare Verselbständigung der absoluten Monarchie in der Periode des Übergangs zur bürgerlichen Revolution hatten wir soeben anhand einer Darstellung aus der Frühzeit von Marx und Engels analysieren können. Was die scheinbare Verselbständigung der Staatsgewalt im Bismarckschen Kaiserreich betrifft, so ist sie in ihrer sozialen Grundlage nur eine Fortentwicklung der gleichen geschichtlichen Situation: der Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Rahmen einer halbfeudalen Gesellschaftsordnung, in der die Bourgeoisie noch nicht endgültig zur Herrschaft gelangt ist und infolgedessen, soweit das Junkertum stärker ist als sie, von diesem "geprellt" werden kann.

Viel eigentümlicher ist die Struktur der Verselbständigung im zweiten französischen Kaiserreich, die erst eigentlich auch den retrospektiven Schlüssel zum Verständnis der Verselbständigung der Staatsgewalt im Kaiserreich des ersten Napoleon gibt. Über die Epoche des zweiten Kaiserreichs liegen ausführliche historische Arbeiten von Marx vor, die namentlich den Prozeß der Verselbständigung in seinem Werden, in der ersten Entwicklungsphase dieser Periode, in den Revolutionsjahren von

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1848 bis zum Staatsstreich des Louis Napoleon, zum Gegenstand haben. Die Verselbständigung der Staatsgewalt in der Französischen Revolution von 1848, wie sie Marx im 18. Brumaire und in den Klassenkämpfen in Frankreich schildert, kann freilich erst begriffen werden, wenn man sich die Klassengliederung im revolutionären Prozeß vor Augen hält. Die tragenden Faktoren der Revolution werden in den folgenden Sätzen umrissen:
"Die Februarrepublik mußte zunächst [...] die Herrschaft der Bourgeoisie vervollständigen, indem sie neben der Finanzaristokratie sämtliche besitzenden Klassen in den Kreis der politischen Macht eintreten ließ. Die Majorität der großen Grundbesitzer, die Legitimisten wurden von der politischen Nichtigkeit emanzipiert, wozu die Julimonarchie sie verurteilt hatte. [...] Durch das allgemeine Wahlrecht wurden die nominellen Eigentümer, welche die große Majorität der Franzosen bilden, die Bauern, zu Schiedsrichtern über das Schicksal Frankreichs eingesetzt. Die Februarrepublik ließ endlich die Bourgeoisherrschaft rein hervortreten, indem sie die Krone abschlug, hinter der sich das Kapital versteckt hielt." (Marx)*VII.6
Durch die Februarrevolution wurde die Möglichkeit einer schrankenlosen Herrschaft der Gesamtheit der Bourgeoisie eröffnet. Hatte unter dem Königtum des Louis Philipp ein Teil der Bourgeoisie, die Finanzaristokratie, geherrscht, so sollte nunmehr die Bourgeoisie als Klasse herrschen. "Die bürgerliche Republik siegte. Auf ihrer Seite stand die Finanzaristokratie, die industrielle Bourgeoisie, der Mittelstand, die Kleinbürger, die Armee, das als Mobilgarde organisierte Lumpenproletariat, die geistigen Kapazitäten, die Pfaffen und die Landbevölkerung."*VII.7 Ohne weiteres ist einzusehen, daß dies im Rahmen der Gesamtbourgeoisie als Klasse sehr verschiedene Schichten sind, Schichten mit divergierenden Interessen, mit unterschiedlichen Zielen und Bestrebungen. Welche von ihnen sollte denn nun die Herrschaft ausüben, den Staatsapparat in die Hand nehmen? Der Mittelstand, das Kleinbürgertum, die Intellektuellen als Ideologen dieser Schichten hatten zweifellos eine "Umänderung der Gesellschaft" angestrebt, "aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums".*VII.8 Diese Schichten sind gesellschaftliche Zwischenschichten oder, wie Marx sagt, "eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen", deren Ideologen also "sich über den Klassengegensatz überhaupt erhaben dünken".*VII.9 Freilich wurde das

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Kleinbürgertum auch unter der bürgerlichen Republik von der Großbourgeoisie ausgebeutet, aber es sah die Möglichkeit einer Aufhebung dieser Ausbeutung nicht im Klassenkampf, sondern im Hinaufrücken in die Großbourgeoisie. So übernahm es selbst die Rolle eines Beauftragten der Bourgeoisie, wurde zu ihrem Stellvertreter, zu ihrem unbezahlten Substitut.*VII.10 Das Kleinbürgertum wurde zum aktiven Faktor der Revolution im Dienste der Bourgeoisie, zum aktiven Faktor freilich nur so lange, als die Revolution sich in aufsteigender Linie bewegte. Mit der Stabilisierung der wirtschaftlichen Konjunktur und dem Abebben der revolutionären Welle vermehrte sich zwar die Ausbeutung einzelner Teile des Kleinbürgertums, aber anderseits auch die Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität. Das Kleinbürgertum fiel somit als selbständiger politischer Faktor aus, wurde zerrieben, ausgeschaltet. Wie stand es nun mit den großbürgerlichen Schichten? Hier sehen wir auf der einen Seite einen Gegensatz zwischen Kapital und Grundeigentum; aber die verschiedenen Interessen dieser beiden Schichten werden im Verlauf der Revolution, wie Marx hervorhebt, "zwei Interessen der Bourgeoisie, denn das große Grundeigentum, trotz seiner feudalen Koketterie und seines Rassenstolzes, war durch die Entwicklung der modernen Gesellschaft vollständig verbürgerlicht".*VII.11 So fanden diese widerstreitenden Interessen gerade in der bürgerlichen Republik, in dem Verzicht auf das verschieden orientierte monarchistische Programm der Legitimisten und Orleanisten, ihre Versöhnung. Die beiden Schichten
"verrichten ihr wirkliches Geschäft als Partei der Ordnung, [...] als Vertreter der bürgerlichen Weltordnung [...] als Bourgeoisklasse gegenüber anderen Klassen, nicht als Royalisten gegenüber den Republikanern. Und als Partei der Ordnung haben sie eine unumschränktere und härtere Herrschaft über die anderen Klassen der Gesellschaft ausgeübt als je zuvor [...] wie sie überhaupt nur unter der Form der parlamentarischen Republik möglich war, denn nur unter dieser Form konnten die zwei großen Abteilungen der französischen Bourgeoisie sich vereinigen, also die Herrschaft ihrer Klasse statt des Regimes einer privilegierten Fraktion derselben auf die Tagesordnung setzen." (Marx)*VII.12
Das widerstreitende Interesse dieser beiden Schichten der Bourgeoisie versöhnte sich gerade dort, wo die definitive Aufrichtung der Diktatur der Bourgeoisie als Klasse möglich wurde. Auf der anderen Seite und zugleich ist ein Gegensatz zwischen der vormals herrschenden Finanzaristokratie und der industriellen Bourgeoisie zu verzeichnen.*VII.13 Doch

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auch dieser Gegensatz findet mit dem Sturz der Finanzaristokratie seine Überwindung, insofern nämlich die verschiedenen Schichten der Bourgeoisie nunmehr gleichen Anspruch auf die Beteiligung am Staatsgeschäft anmelden dürfen und die Diktatur der Bourgeoisie als Klasse nicht anders verwirklicht werden kann als in der Widerspiegelung des stetigen Spannungszustandes zwischen den einzelnen Interessen und Tendenzen innerhalb der herrschenden Klasse. Der akute Gegensatz schwindet, an seine Stelle tritt eine latente Spannung, der gegenüber das Interesse der Gesamtheit der Klasse sich einstweilen nur mit außerordentlichen Mitteln durchsetzen kann. Was die hohe Finanz, die große Industrie, den Handel und das Grundeigentum auseinanderhielt, waren "ihre materiellen Existenzbedingungen"*VII.14 , wobei die Interessen der Finanz teils mit denen des Grundeigentums, teils mit denen der Industrie verschmelzen, so daß die Tendenzen der einzelnen bürgerlichen Schichten in ständiger Verflechtung und ständiger Durchkreuzung miteinander und gegeneinander stehen. Man muß sich in die Herrschaft teilen, die Industrie verschmilzt mit der Finanz, die Finanz mit dem Grundeigentum, man koaliert sich kreuz und quer*VII.15 , aber die Gegensätze bleiben doch bestehen, und die latente Spannung hört nicht auf.

Zu den Gegensätzen zwischen den einzelnen Schichten der Großbourgeoisie, den Gegensätzen zwischen Bourgeoisie und Kleinbürgertum, Bourgeoisie und Intellektuellen usw. tritt ein neuer Gegensatz als entscheidender Faktor der Weiterführung der Revolution: der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Gerade die parlamentarische Ausübung der Herrschaft der Bourgeoisie, die erstmalig die Versöhnung der divergierenden Interessen im Schoße der bürgerlichen Gesellschaftsschichten ermöglichte, erschwerte aber anderseits die Niederhaltung des Proletariats und die Vertuschung des beherrschenden gesellschaftlichen Klassengegensatzes und unterstrich schließlich ganz besonders die inneren Gegensätze im bürgerlichen Lager. Nichts logischer als eine Abkehr vom Parlamentarismus, eine Abkehr von dem System, das die gesellschaftlichen Gegensätze akut in die Erscheinung treten läßt:
"Indem [...] die Bourgeoisie, was sie früher als ´liberal´ gefeiert, jetzt als ´sozialistisch´ verketzert, gesteht sie ein, daß ihr eigenes Interesse gebietet, sie der Gefahr des Selbstregierens zu überheben, daß, um die Ruhe im Lande herzustellen, vor allem ihr Bourgeoisparlament zur Ruhe gebracht, um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu [131] erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; daß die Privatbourgeois nur fortfahren können, die anderen Klassen zu exploitieren [...] unter der Bedingung, daß ihre Klasse neben den anderen Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde." (Marx)*VII.16
Zu dieser eindeutigen und historisch zureichenden Begründung der Abkehr der Bourgeoisie von der parlamentarischen Form der Ausübung ihrer Herrschaft kam als weiteres Motiv noch hinzu, daß die wirtschaftliche Krise die Bourgeoisie veranlaßte, sich nach einer starken Hand umzusehen, die ihr die Niederhaltung der rebellierenden unteren Schichten der Gesellschaft erleichtern konnte. Die Exekutivgewalt wurde zum willkommenen Retter aus der Not. Der Parlamentarismus wurde beiseite geschoben. Der dritte Napoleon konnte nunmehr zum kommissarischen Beauftragten der Klassenherrschaft der Bourgeoisie werden. "Die Bourgeoisie schrie aber um so lauter nach einer ´starken Regierung´, sie fand es um so unverzeihlicher, Frankreich ´ohne Administration´ zu lassen, je mehr eine allgemeine Handelskrise [...] im Anmarsch schien und in den Städten für den Sozialismus warb, wie der ruinierend niedrige Preis des Getreides auf dem Lande."*VII.17 Während so die Bourgeoisie aus Angst davor, daß das Proletariat das Parlament für die Durchsetzung seiner Zwecke benutzen könnte, dieses selbe Parlament zur Ohnmacht verurteilt, macht wiederum diese Ohnmacht das Parlament verhaßt in den Augen der großen Masse der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerung.*VII.18 Eine Beseitigung der parlamentarischen Ausübung der bürgerlichen Klassenherrschaft kann nicht mehr schwerfallen. Alle Voraussetzungen für eine Verselbständigung der Staatsgewalt im Interesse der Bourgeoisie sind gegeben. An die Stelle der verschiedenen Fraktionsinteressen, der Interessen der verschiedenen Schichten muß eine Staatsgewalt treten, die das Gesamtinteresse der Bourgeoisie wahrzunehmen vermag. Indem aber die Bourgeoisie vor der Exekutivgewalt zurückweicht, verzichtet sie gleichzeitig darauf, die bürokratische Staatsmaschine des alten Staates zu zerstören. Und sie weiß, was sie tut, ist doch die Bourgeoisie in ihrer großen Masse mit dieser bürokratischen Staatsmaschine aufs engste verbunden:
"Man begreift sogleich, daß in einem Lande wie Frankreich, wo die Exekutivgewalt über ein Beamtenheer von mehr als einer halben Million von Individuen verfügt, also eine ungeheure Masse von Interessen und Existenzen beständig in der unbedingtesten Abhängigkeit erhält, wo der Staat die bürgerliche Gesellschaft von ihren umfassenden [132] Lebensäußerungen bis zu ihren unbedeutendsten Regungen hinab [...] umstrickt, kontrolliert, maßregelt, überwacht und bevormundet [...] daß in einem solchen Lande die Nationalversammlung mit der Verfügung über die Ministerstellen jeden wirklichen Einfluß verloren gab, wenn sie nicht gleichzeitig die Staatsverwaltung vereinfachte, das Beamtenheer möglichst verringerte. [...] Aber das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie ist gerade auf das innigste mit der Erhaltung jener breiten und vielverzweigten Staatsmaschine verwebt. Hier bringt sie ihre überschüssige Bevölkerung unter und ergänzt in der Form von Staatsgehalten, was sie nicht in der Form von Profiten, Zinsen, Renten und Honoraren einstecken kann. [...] So war die französische Bourgeoisie durch ihre Klassenstellung gezwungen, einerseits die Lebensbedingungen einer jeden, also auch ihrer eigenen parlamentarischen Gewalt zu vernichten, anderseits die ihr feindliche Exekutivgewalt unwiderstehlich zu machen." (Marx)*VII.19
Genauso wie die Bürokratie der Monarchie des Bürgerkönigs gedient hatte, wird sie nunmehr dem Kaiserreich dienen, und wie das Bürgerkönigtum die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechterhalten hat, so wird auch das Kaiserreich sie aufrechterhalten und somit die ökonomische Basis der Diktatur der Bourgeoisie zu immer größerer Entfaltung und Festigung bringen. Im Prozesse der Revolution mußte die Spaltung der Bourgeoisie*VII.20 um so weiter fortschreiten, je mehr die Konsolidierung der neuen sozialen Verfassung zur Tatsache wurde, je mehr sich die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen bürgerlichen Schichten im täglichen Handel und Wandel durchsetzen und somit an Kraft und Dringlichkeit gewinnen konnten. Auf der Basis der fortschreitenden ökonomischen Konsolidierung und Differenzierung festigte sich die Exekutivgewalt, baute sie ihre Positionen aus. Die Armee wurde eingegliedert in den Apparat der Diktatur. Das Lumpenproletariat wurde aus einem zersetzenden Faktor vermittels der Mobilgarde in einen staatserhaltenden verwandelt. Indem jedoch die Exekutivgewalt das Interesse der Bourgeoisie als Klasse vertritt, kann sie nicht umhin, zu allen Teilen der Bourgeoisie in Gegensatz zu geraten, mit allen Schichten der Bourgeoisie, über die sie im Namen der gesamten Bourgeoisie herrscht, in Konflikt zu kommen. Ihre Herrschaft im Interesse der Bourgeoisie ist zugleich Herrschaft über die einzelnen Schichten und Sparten der Bourgeoisie. Durch alle voraufgehenden Umwälzungen ist die Maschine der Staatsgewalt immer wieder vervollkommnet worden.
"Aber unter der absoluten Monarchie, während der ersten Revolution, unter Napoleon, war die Bürokratie nur das Mittel, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie vorzubereiten. Unter der Restauration, unter Louis Philipp, unter der parlamentarischen Republik war sie das Instrument der herrschenden Klasse, so sehr sie auch nach Eigenmacht strebte. Erst [133] unter dem zweiten Bonaparte scheint sich der Staat völlig verselbständigt zu haben. Die Staatsmaschine hat sich der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber so gefestigt, daß an ihrer Spitze der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember genügt, ein aus der Fremde herbeigelaufener Glücksritter, auf den Schild gehoben von einer trunkenen Soldateska, die er durch Schnaps und Würste erkauft hat, nach der er stets von neuem mit der Wurst werfen muß" (Marx)*VII.21
Also die Staatsgewalt gegen die Bourgeoisie? Ja. Aber die Staatsgewalt gegen die Bourgeoisie im Namen der Bourgeoisie. Denn die ökonomische Struktur Frankreichs mit ihrer noch nicht völlig ausgebildeten kapitalistischen Gestaltung verträgt keine Ausübung der Staatsgewalt durch die Bourgeoisie selbst. Einmal deswegen, weil die Bourgeoisie in verschiedene Schichten mit widerstreitenden Interessen zerfällt und so immer nur eine Schicht herrschen kann oder eine Koalition, die aufgelöst werden muß, wenn sie nicht selbst ihre Vollmachten, die Aufgabe des Ausgleichs der Interessen, abtritt an den Staatsapparat. Zum anderen deswegen, weil die Verelendung der großen Bauernmasse - und die Bauern sind ja die Schiedsrichter im Klassenkampf, von denen Marx spricht - in einer revolutionären Situation, in der Zeit einer wirtschaftlichen Krise die Gefahr herauf beschwört, daß die Bauernmasse, vom Proletariat geführt, zur stärksten Angriffswaffe auf das Bollwerk des kapitalistischen Besitzes werden, den Sturz der bürgerlichen Klassendiktatur herbeiführen könnte. Die Ausübung der Staatsgewalt durch die Bourgeoisie selbst, ohne Rücksichtnahme auf widerstrebende Interessen anderer bürgerlicher, proletarisierter und halbproletarisierter Schichten, ohne Rücksichtnahme auf die große Masse der Bauernbevölkerung, müßte den revolutionären Sturz der Bourgeoisie zur Folge haben. Die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise, die Aufrechterhaltung der Klassendiktatur der Bourgeoisie verlangt ihre Ausschaltung von der politischen Macht, das Interesse ihrer eigenen Klassenherrschaft erzwingt es, daß im Rahmen ihrer Diktatur auch die Interessen anderer nichtproletarischer Schichten wahrgenommen werden. Die größte dieser Schichten, die zwar nicht aktive, aber in ihrem passiven Beharrungsvermögen ausschlaggebende Schicht ist das Bauerntum. So kann denn Marx mit Recht sagen: "[...] dennoch schwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern".*VII.22

Gerade diese zahlreiche, die übrige Bevölkerung majorisierende Masse

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kann aber nicht selbst herrschen. Der Ackerbau ist wirtschaftlich ruiniert, verschuldet; die Bauern werden ausgebeutet vom Wucher- und Handelskapital, sie werden von der Steuerschraube erdrückt, von dem Klerus ausgepumpt, von der Armee ausgesaugt. Und dennoch wenden sie sich nicht gegen die in der Exekutivgewalt verdichtete Klassenherrschaft der Bourgeoisie; dennoch werden sie nicht zum revolutionären Faktor. Denn die Bauern, die als Grundeigentümer in den Bedingungen einer halbkapitalistischen Gesellschaftsordnung die Merkmale einer Klasse an sich aufweisen, sind keine Klasse für sich, sind keine Klasse, die Klassenbewußtsein erlangen und in den gesellschaftlichen Klassenkampf aus eigener Initiative gestaltend eingreifen kann:
"Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der anderen Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den anderen Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt. Der politische Einfluß der Parzellenbauern findet also darin seinen letzten Ausdruck, daß die Exekutivgewalt sich die Gesellschaft untergeordnet." (Marx)*VII.23
Die zersplitterte Existenz der Bauernmasse läßt auf ihrem Rücken eine neue Ausbeutung durch den Staat aufkommen.*VII.24 Die Armee, der Klerus, die Bürokratie, der Luxus des Hofes: dies alles, was zum ideologischen Mittel der Beherrschung der Bauernmasse wird, ist zugleich ein Mittel ihrer Ausbeutung. Ebenso wie die Bürokratie der dem Parzelleneigentum entsprechende organisatorische Überbau der Gesellschaft ist, so ist die Ausdehnung des Herrschaftsapparates in der Armee und dem Klerus nur eine Folgeerscheinung der beherrschenden Bauernwirtschaft, die den ökonomischen Unterbau für diesen Apparat der Verselbständigung der Staatsgewalt abgibt. Trägt der Staat den Interessen der bäuerlichen Bevölkerung bis zu einem gewissen Grade Rechnung, namentlich darin, daß er sich eine ihnen adäquate Ideologie aneignet, so muß er doch anderseits auch auf die anderen Gesellschaftsschichten Rücksicht nehmen.

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"Bonaparte als die verselbständigte Macht der Exekutivgewalt fühlt seinen Beruf, die ´bürgerliche Ordnung´ sicherzustellen. Aber die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist die Mittelklasse. Er weiß sich daher als Repräsentant der Mittelklasse und erläßt Dekrete in diesem Sinne. Er ist jedoch nur dadurch etwas, daß er die politische Macht dieser Mittelklasse gebrochen hat und täglich von neuem bricht. [...] Bonaparte weiß sich zugleich gegen die Bourgeoisie als Vertreter der Bauern und des Volkes überhaupt, der innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die unteren Volksklassen beglücken will [...] Diese widerspruchsvolle Aufgabe des Mannes erklärt die Widersprüche seiner Regierung, die bald diese, bald jene Klasse bald zu gewinnen, bald zu demütigen sucht und alle gleichmäßig gegen sich aufbringt. [...] Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der anderen zu nehmen." (Marx)*VII.25
So ist der Versuch des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten der soziale Inhalt des schwankenden Zickzack-Kurses der verselbständigten Regierungsgewalt. Allein dieser Versuch ist nur sinnentsprechend, wenn durchgeführt im Interesse der Erhaltung der Klassendiktatur der Bourgeoisie, im Interesse des Schutzes der kapitalistischen Produktionsweise vor der Gefahr der sozialen Revolution, und er ist nur möglich, wenn vorgenommen auf dem Rücken der passiven, widerstandslosen Bauernmasse. Und gerade deswegen ist eine solche Verselbständigung der Staatsgewalt, die im Interesse der Bourgeoisie als Klasse deren Diktatur gegen die einzelnen Schichten der Bourgeoisie ausübt, nur dort und nur so lange möglich, als eine undifferenzierte, amorphe Bauernmasse vorhanden ist, die sich regieren läßt. Hört die Bauernmasse, diese Klasse ohne Klassenbewußtsein, auf, selbst eine Klasse an sich zu sein, zerfällt sie, differenziert sie sich, führt sie zur Entstehung neuer sozialer Schichten innerhalb der Landbevölkerung, wird sie in ihrem zahlenmäßigen Bestand im Prozesse der sozialen Differenzierung unter die großen Gesellschaftsklassen aufgeteilt, so schwindet sie als Klasse dahin, und mit ihr verschwinden die Voraussetzungen der Verselbständigung der Staatsgewalt:
"Man sieht: alle ´idées Napoléoniennes´ sind Ideen der unentwickelten, jugendfrischen Parzellen, sie sind ein Widersinn für die überlebte Parzelle. Sie sind nur Halluzinationen ihres Todeskampfes, Worte, die in Phrasen, Geister, die in Gespenster verwandelt. Aber die Parodie des Imperialismus war notwendig, um die Masse der französischen Nation von der Wucht der Tradition zu befreien und den Gegensatz der Staatsgewalt zur Gesellschaft rein herauszuarbeiten. Mit der fortschreitenden Zerrüttung des Parzelleneigentums bricht das auf ihm aufgeführte Staatsgebäude zusammen." (Marx)*VII.26
Die Verselbständigung der Staatsgewalt löst sich auf; je reiner der beherrschende Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie

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in Erscheinung tritt, je weiter der Prozeß der Konsolidierung der Bourgeoisie als einheitliche Klasse, der Auflösung des Bauerntums als einer besonderen Klasse der Grundeigentümer in der kapitalistischen Gesellschaft fortschreitet, desto überflüssiger, aber auch desto schwieriger wird die Verselbständigung der Staatsgewalt. Die einzelnen Schichten der Bourgeoisie, denen gegenüber die verselbständigte Staatsmaschine das Gesamtinteresse der Bourgeoisie zu vertreten hatte, verschmelzen miteinander, und die große Masse der selbständigen landwirtschaftlichen Kleinproduzenten, die auf ihrem geduldigen Rükken die Fundamente der Staatsmaschine trug, ist nicht mehr vorhanden. Die Bourgeoisie selbst muß die Ausübung ihrer Diktatur übernehmen oder sie einem einzelnen Teil der Klasse übertragen - oder ihre Diktatur wird durch das Vordringen des Proletariates in einem revolutionären Umschlag gestürzt.

Haben wir anhand der Marxschen Darstellung in den sozialen Gehalt der Verselbständigung der Staatsgewalt unter dem zweiten Kaiserreich einen Einblick gewonnen, so sind wir jetzt auch in der Lage, den geschichtlichen Sinn und die sozialen und ökonomischen Wurzeln der Verselbständigung der napoleonischen Exekutivgewalt in der Französischen Revolution zu erkennen. War das Parzelleneigentum der großen Bauernmasse 1848 bereits die Existenzgrundlage der französischen Bauern und war diese Existenzgrundlage nur durch die starke Verschuldung vorübergehend gefährdet, so mußte in der Zeit, in der der Prozeß der sozialen Differenzierung innerhalb der Bauernbevölkerung, der Prozeß der Abstoßung der wirtschaftlich ruinierten Gruppen und der Konsolidierung der wohlhabenden Bauernschichten zu einer Fraktion der besitzenden Bourgeoisie vor sich ging, die Staatsgewalt erst recht von einer verselbständigten Exekutive ausgeübt werden. Unter Napoleon [...] war die soziale Basis der Verselbständigung der Staatsgewalt zwar auch das Bauerntum, aber in einer grundverschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Konstellation. Die Bauern hatten gerade ihren Grund und Boden bekommen, sie waren konservativ geworden, hatten kein unmittelbares Interesse an der staatlichen Politik, und zudem gingen ihre Interessen konform mit denen des besitzenden Bürgertums. Dieses selbst nun, eben erst aus den revolutionären Stürmen geschwächt hervorgegangen, hatte einen großen Teil seiner politischen Aktivität eingebüßt, mußte sich eher dem Geschäft als der großen Politik widmen und überließ die Staatsgewalt dem Apparat des Staates und der militärischen Organisation.*VII.27

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Von hier aus läßt sich schon mit Leichtigkeit der Schlüssel zur Erklärung der Wurzeln der Verselbständigung der Staatsgewalt auch in anderen historischen Situationen auffinden. Die den beiden Fällen der Ausübung der Staatsgewalt durch den militärischen Apparat in Frankreich gemeinsamen Elemente lassen sich nunmehr herausschälen. Als gewichtigstes Fundament einer Übertragung der Staatsgewalt, der Ausübung der Klassendiktatur der Bourgeoisie auf den Staatsapparat erscheint eine zahlreiche, wirtschaftlich undifferenzierte Bauernmasse. In dem Maße, wie die Differenzierung dieser Bauernmasse fortschreitet, schwindet die Basis der Verselbständigung des Staatsapparates dahin. Sosehr also die Verselbständigung der Staatsgewalt auf dem Vorhandensein einer breiten bäuerlichen Schicht beruht, so wenig ist doch hier die Verselbständigung etwas anderes als der Ausdruck - letzten Endes - der Klassendiktatur der Bourgeoisie. Denn in beiden Fällen besagt die Verselbständigung des Staatsapparates weiter nichts, als daß die politisch aktiven Schichten des Bürgertums aufgrund ihrer eigenen sozialen und wirtschaftlichen Stellung nicht imstande sind, das Interesse der gesamten Bourgeoisie als Klasse wahrzunehmen, daß infolgedessen dieses Interesse sich in einer besonderen Schicht der Träger des Staatsapparates verkörpern muß. Man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht mit größerer Exaktheit von einer Diktatur der kapitalistischen Produktionsweise sprechen. Aber indem wir die Diktatur als eine an eine bestimmte Produktionsweise gebundene Klassenherrschaft auffassen, können wir auch hier die der kapitalistischen Produktionsweise adäquate Diktatur tendenziell stets als Diktatur der Bourgeoisie begreifen, insofern die Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise an die gesellschaftliche Vorherrschaft der Kapitalistenklasse gebunden ist. In den analysierten Fällen wurde eine geschichtliche Konstellation beobachtet, in der die kapitalistische Produktionsweise noch nicht zur ausschließlichen Vorherrschaft gelangt war, aber die Tendenzen ihres ungehemmten Vordringens sich bereits vollkommen deutlich herausgebildet hatten.

Unter diesem Gesichtswinkel kann nunmehr auch die Verselbständigung der Staatsgewalt etwa in der russischen Revolution begriffen werden.*VII.28 Der soziale Gehalt der russischen Revolution stellt sich dar in

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der endgültigen Zerreißung und Beseitigung aller Bindungen der feudalistischen Gesellschaftsordnung. Die Bauernmasse, zum Teil bereits mit Grundeigentum versehen, war verschuldet und durch die Zahlung von Pachtzinsen und Tributen, die Überreste der feudalistischen Fron darstellten, belastet, in ihrem wirtschaftlichen Aufstieg gehemmt. In dem Maße jedoch, wie Teile der Bourgeoisie von der Schuldknechtschaft der Bauernmasse profitierten, gingen die Interessen der Bourgeoisie, die trotz aller Auflehnung gegen die politischen und sozialen Überbleibsel des Feudalismus mit dem Grundeigentum und der herrschenden Schicht der monarchischen Bürokratie teilweise sehr eng verfilzt war, mit denen des Bauerntums auseinander. Wiederum ist auch hier die Spaltung der Bourgeoisie in verschiedene Schichten mit divergierenden Interessen zu verzeichnen. Teile der Bourgeoisie sind an der Durchführung der bürgerlichen Revolution interessiert, andere Teile wieder an der Aufrechterhaltung des bestehenden politischen Systems aktiv beteiligt. Die soziale Konstellation wird kompliziert durch den Krieg, an dem die verschiedenen Schichten der Bourgeoisie in ungleichem Maße beteiligt und interessiert sind. Ein dauerhaftes Bündnis des Bauerntums mit der Bourgeoisie, das zur Basis der Ausübung der bürgerlichen Klassendiktatur durch die Kapitalistenklasse selbst werden könnte, ist demzufolge nicht möglich. Dagegen ergeben sich wesentliche Berührungspunkte in den aktuellen Interessen der Bauernmasse und des Industrieproletariats. Auf diese Weise wird das Bauerntum zu jener Schicht, auf deren Schultern das Proletariat in seinen aktiveren Schichten die Eroberung der Staatsmacht durchzuführen vermag.

Aber als Träger der Staatsgewalt ist das Proletariat nur Repräsentant der Interessen der großen Bauernmasse. Die wirtschaftliche Undifferenziertheit der Bauernbevölkerung, die durch die spontane Nivellierung des Bodenbesitzes in den ersten Revolutionsjahren behauptet wird, macht die Bauern als die nunmehr einzigen Grundeigentümer zu einer Klasse an sich, mit bestimmten einheitlichen Interessen, aber ohne die Fähigkeit, sie aus eigenem aktiv durchzusetzen. Gerade das Vorhandensein der Bauernmasse als einer Klasse an sich erzwingt die Wahrnehmung ihrer Interessen durch eine andere Gesellschaftsklasse, die jetzt zum Träger der Staatsgewalt wird. So sind es schon zwei miteinander widerstreitende Klasseninteressen, zwischen denen die

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Staatsgewalt zu lavieren hat. Indes schreitet aber der Prozeß der neuerlichen Differenzierung der Landbevölkerung fort. Auf dem Lande entsteht die Polarisierung der sozialen Gegensätze: auf der einen Seite bildet sich eine schmale besitzende Schicht, die die Produktionsmittel in ihren Händen konzentriert, heraus, auf der andern Seite vollzieht sich in rapidem Tempo ein Proletarisierungsprozeß. So hört die Bauernmasse auf, eine Klasse an sich zu sein, sie zerfällt in verschiedene Schichten, deren Interessen verschieden gelagert sind und die sich in verschiedener Richtung auf die anderen Gesellschaftsklassen der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung orientieren. Je weiter der Differenzierungsprozeß ausreift, desto mehr schwanken die Fundamente der Verselbständigung der Staatsgewalt, zumal die Entstehung einer besitzenden Oberschicht auf dem flachen Lande gleichsam die Voranzeige einer unvermeidlichen Konsolidierung der zerstreuten Elemente der neuen besitzenden Schichten in der Stadt zu einer selbständigen bürgerlichen Klasse ist.

Die gesellschaftlichen Interessen, die der Staatsapparat wahrzunehmen hat, werden immer verzweigter und komplizierter, das Lavieren zwischen ihnen immer schwieriger. Nachdem nun auch die Differenzierung der bäuerlichen Bevölkerung sich unaufhaltsam vollzieht, schwindet gleichzeitig die Basis einer Ausübung der Staatsgewalt im Interesse der Bauernmasse, so daß sich die Notwendigkeit, die Staatsgewalt den Bedürfnissen einer erst in den Uranfängen ihres Werdens begriffenen Bourgeoisie anzupassen, immer gebieterischer geltend macht. Zunächst - solange die Bauernmasse eine Klasse an sich ist - Vertreterin der Klassenherrschaft dieser Grundeigentümerschicht, muß die verselbständigte Staatsgewalt mit dem weiteren Fortschreiten der sozialen Differenzierungsvorgänge in steigendem Maße zu einer kommissarischen Vertretung der Diktatur der Bourgeoisie werden.

Manche gemeinsame Züge mit diesem Typus der Verselbständigung der Staatsgewalt weist der analoge Vorgang in den chinesischen Revolutionskämpfen*VII.29 auf. Auch hier ein bäuerliches Parzelleneigentum, das

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durch starke Verschuldung an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht ist; aber hier in noch größerem Maße als im vorrevolutionären Rußland eine Ausbeutung der bäuerlichen Bevölkerung nicht durch feudalen Großgrundbesitz, der ja nur in den nördlichen Provinzen Chinas vorhanden ist, sondern durch das städtische Wucher- und Handelskapital. Noch nachdrücklicher treten hier die divergierenden Interessen der Bauernmasse und der einheimischen Bourgeoisie in Erscheinung, noch deutlicher zeichnen sich die Tendenzen einer Konformität der bäuerlichen mit den proletarischen Interessen ab. Insofern aber ist die geschichtliche Tendenz dieses revolutionären Prozesses eine andere, als das städtische Industrieproletariat einen weit geringeren Anteil der gesamten Bevölkerung ausmacht als in Rußland, als die kapitalistische Produktionsweise in die gesamte wirtschaftliche Struktur des Landes noch viel weniger eingedrungen ist und anderseits auch die Bauernmasse zur Entfaltung einer eigenen Aktivität viel weniger befähigt ist, weil sie die deklassierende, aber auch aktivierende Schule des Krieges nicht durchgemacht hat. Das in der Tendenz sehr starke Zusammengehen der Bauernmasse mit dem städtischen Proletariat wird im Keime erstickt durch die Aktivität der städtischen Bourgeoisie, die Bauernmasse wird zurückgeschlagen, versinkt stellenweise in die gewohnte apathische Passivität und wird somit zum tragenden Fundament einer "starken Regierung", die zwar gewiß auf verschiedene Gesellschaftsschichten und ihre divergierenden Interessen Rücksicht zu nehmen hat, aber um so deutlicher und eindeutiger zu einer Diktatur der Bourgeoisie werden kann, als ja die kapitalistische Produktionsweise, auf deren Grundlage sie die Klassendiktatur der Bourgeoisie zu verwirklichen hat, mit der schmalen Schicht der kapitalistischen Wirtschaft in China nicht erschöpft ist, sondern ihre Vertiefung und Verlängerung in der kapitalistischen Wirtschaft der in China imperialistisch beteiligten Mächte hat.

Ähnliche Triebkräfte und soziale Momente lassen sich bei soziologischer Einzeluntersuchung auch in anderen historischen Fällen der Verselbständigung der Staatsgewalt nachweisen. Wir haben mit Absicht die Fälle untersucht, in denen die Verselbständigung der Staatsgewalt die noch nicht ausschließliche Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise zum Fundament hatte. Und die Bedeutung einer undifferenzierten Masse der bäuerlichen Bevölkerung, die hier so drastisch zur Geltung kommt, brauchte uns nicht zu wundern, nachdem wir im Verlauf der vorausgegangenen Darstellung gesehen hatten, wie das Vorhandensein dieser Bauernmasse zu einem sehr erheblichen Teil das

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Fundament der Entstehung der Klassenschichtung und des Staates schlechthin ist. Das Vorhandensein dieser Bauernmasse ist aber anderseits die unerläßliche Voraussetzung für die Entstehung eines selbständigen Apparates der Staatsgewalt. Dieser Staatsapparat, der sich von der Mutterbasis der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse scheinbar loslöst, ist um so unabhängiger, seine Machtvollkommenheit um so größer, je weniger differenziert und sozial geformt die Bauernmasse ist. Auf dieser Grundlage kann erst die Ausübung der Staatsgewalt durch den Staatsapparat jene Form einer terroristischen Gewaltherrschaft mit uneingeschränkter Repressionsgewalt des Staatsapparates annehmen, die Max Adler als Terrorismus bezeichnet. Das aber, was Max Adler Terrorismus nennt, ist, wie wir nunmehr gesehen haben, kein Widerspruch zur Diktatur einer bestimmten Gesellschaftsklasse, vielmehr ihr adäquater Ausdruck dort, wo die Klasse, deren Herrschaft die Diktatur ist, aufgrund einer konkreten ökonomischen Situation ihre Herrschaft noch nicht selbst ausüben kann. Was jetzt weiterhin klar wird, ist dies, daß in einer solchen geschichtlichen Konstellation die Geltung aller Rechtsnormen aufgehoben wird, weil ihre Gestaltung entsprechend den Interessen der zufolge der ökonomischen Struktur der jeweiligen Produktionsweise herrschenden Klasse den kommissarischen Vertretern dieser Klasse das Lavieren zwischen den widerstreitenden Interessen der einzelnen Gesellschaftsschichten, die sie in das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse als Klasse einzuordnen hat, unmöglich machen würde. Die Diktatur der Klasse der selbständigen Grundeigentümer, die wir in den analysierten Fällen verfolgt haben, schlägt in dem Augenblick in eine Diktatur der Bourgeoisie um, wo diese Klasse der Grundeigentümer als Klasse zerfällt, so daß nunmehr die Bourgeoisie der Substitution durch das Bauerntum nicht mehr bedarf und selbst die Staatsgewalt, die schon vorher tendenziell ihre Diktatur zum Ausdruck brachte, ausüben kann.

Während in dem ersten von Engels im Ursprung der Familie angeführten Fall offensichtlich ein labiles Gleichgewicht zwischen der Bourgeoisie und der herrschenden Klasse des feudalen Systems*VII.30 besteht, ist in allen weiteren Fällen der Verselbständigung der Staatsgewalt, soweit es sich

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um eine bereits existierende kapitalistische Produktionsweise oder jedenfalls um eine kapitalistische Produktionsweise, die sich nicht mehr gegen den Feudalismus durchzusetzen hat, handelt, von einem Gleichgewichtsverhältnis der Klassen insofern keine Rede, als die Bauernmasse als Klasse zerfällt und andere Klassen neben der Bourgeoisie als relevante Faktoren gar nicht da sind. Wo ein Gleichgewichtsverhältnis der Klassenkräfte besteht, beruht es auf der Koexistenz von feudalen und bürgerlichen Produktionsverhältnissen.

Auch von Marx wird gelegentlich in bezug auf den Machtkampf des Proletariats von einem Gleichgewichtsverhältnis gesprochen; aber es handelt sich in den einzelnen Fällen immer nur um ein labiles Gleichgewichtsverhältnis im akuten Klassenkampf, das entweder zur Niederwerfung des Proletariats oder zu seinem Siege führen kann. An Marxens Äußerungen über das Gleichgewichtsverhältnis knüpft nun Otto Bauer in seiner Darstellung der Geschichte der österreichischen Revolution*VII.31 und in einer späteren Darlegung der Theorie vom Gleichgewicht der Klassenkräfte*VII.32 an. Er hält den Gleichgewichtszustand auf einer bestimmten Entwicklungsstufe im Prozeß des Aufstiegs des Proletariats für unvermeidlich. So sagt er:
"In vielen Ländern ist ein Zustand eingetreten, in dem weder die Arbeiterpartei noch die Bourgeoisparteien allein den Staat in parlamentarischen Formen regieren können. Dies hat bald zu förmlichen Koalitionsregierungen der Arbeiterpartei mit bürgerlichen Parteien, bald dazu geführt, daß eine Regierung der einen oder der anderen Klasse nur mit stillschweigender Zustimmung und unter starker Kontrolle ihrer Klassengegner regieren kann, bald wieder zur Funktionsunfähigkeit des Parlaments, das seine Befugnisse der Exekutive übertragen mußte. Die allgemeine Krise des traditionellen Parlamentarismus ist eine Ausdrucksform des Gleichgewichts der Klassenkräfte." (Bauer)*VII.33
Ein solcher Gleichgewichtszustand tritt nach der Darstellung von Bauer dort ein, wo die Bourgeoisie nicht mehr, das Proletariat aber noch nicht stark genug ist, damit eine von diesen Klassen ihre Klassenherrschaft uneingeschränkt ausübt. *VII.34 Nun weiß aber auch Bauer: "In der Tat kann

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ein solcher Gleichgewichtszustand keine Klasse dauernd befriedigen. Jede Klasse strebt über den Zustand des Gleichgewichts der Klassenkräfte hinweg zu einem Zustand, in dem sie herrschen kann, hin."
*VII.35 Wenn aber der Gleichgewichtszustand in diesem Sinne nur ein labiler ist, so ist nicht zu bestreiten, daß es sich lediglich um ein Gleichgewicht an der politischen Oberfläche handelt. Und letzten Endes ist Bauers Theorie des Gleichgewichtszustandes nur der Ausdruck der revolutionären Hoffnung darauf, daß das Gleichgewicht der Klassenkräfte sich nicht als ein scheinbares, lediglich an der politischen Oberfläche bleibendes erweisen möge, sondern als ein solches, das unmittelbar in die Diktatur des Proletariats umschlägt. In Wirklichkeit kann es aber einen anderen als einen lediglich politischen, sich an der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen abspielenden Gleichgewichtszustand im Kampfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie auch gar nicht geben, weil die Bourgeoisie bei allen politischen Rückschlägen die ausschließliche Verfügung über die gesellschaftliche Produktion einfach dadurch behält, daß das Privateigentum an den Produktionsmitteln bestehen bleibt, also die kapitalistische Produktionsweise nicht angetastet wird und ihre Elemente immer von neuem auf erweiterter Stufenleiter reproduziert werden. Hierin liegt auch der grundlegende Unterschied in der Struktur der bürgerlichen und der proletarischen Revolution, über den im folgenden Kapitel gesprochen werden soll.

VIII. Bürgerliche und proletarische Revolution

Diktatur des Proletariats als Aufbau der sozialistischen Demokratie
Am Ausgang der IV. Kapitels wurde von dem Problem der sozialen Revolution, der Sprengung der starr gewordenen Hülle der Produktionsverhältnisse durch die Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, gesprochen. Schon dort wurden die zweierlei Modalitäten aufgezeigt, unter denen die soziale Revolution nach der Geschichtsauffassung des Historischen Materialismus sich vollziehen kann. Entweder neue Produktionsverhältnisse können sich neben den überlieferten alten entfalten, so daß von der Koexistenz, dem Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Produktionssysteme so lange gesprochen werden kann, als nicht das eine durch das andere verdrängt worden ist. Oder die Entwicklung einer neuen Produktionsweise ist unvereinbar mit dem Fortbestand der alten, neue Produktionsverhältnisse können nicht eingegangen werden, solange die alten bestehen, und der politische und rechtliche Überbau der alten Produktionsweise muß gesprengt werden, damit die neue Produktionsweise sich durchsetzen kann. In dem ersten Fall kann die soziale Revolution der politischen vorausgehen, im zweiten Fall ist die Verwirklichung der sozialen Revolution an die Voraussetzung einer politischen Revolution geknüpft. Der erste Fall gilt für die Revolution des Bürgertums, für die Ablösung des Feudalismus durch die kapitalistische Produktionsweise. Für die Revolution des Proletariats ist - nach der Analyse der Anatomie der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung vorgenommen wird - dieser Weg nicht gegeben. Die Revolution des Bürgertums richtete sich gegen eine Gesellschaftsklasse, deren konstitutives Merkmal auf der Monopolisierung bestimmter Produktionsmittel beruhte und deren monopolistische Stellung durch die ständische Struktur der Gesellschaft geschützt war. Das Bürgertum kämpfte gegen ein bereits erschüttertes Monopol und um die Beseitigung der ständischen Schutzschranken des Monopols. Ganz anders stellt sich die Aufgabe der proletarischen Revolution dar.

Die Basis der kapitalistischen Produktionsweise ist schlechterdings das Privateigentum an den Produktionsmitteln, und dieses Privateigentum

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muß abgeschafft werden, damit die kapitalistische Produktionsweise durch die sozialistische abgelöst werden kann. Freilich braucht dabei die Errichtung der sozialistischen Produktionsweise nicht als ein einmaliger Vorgang gedacht zu werden, aber sie hat zum mindesten zur Voraussetzung die Vergesellschaftung der wirtschaftlichen Schlüsselstellungen, die Sozialisierung der ausschlaggebenden Industriezweige. Während die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise lange Zeit ohne die Antastung des feudalen Grundeigentums möglich war, ist die Entwicklung der sozialistischen Produktionsweise mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln unvereinbar, und schon die Sozialisierung der Schlüsselindustrien vernichtet die Existenzgrundlage der Bourgeoisie als Klasse. Die Koexistenz der sozialistischen Produktionsweise und gewichtiger Elemente der kapitalistischen Produktionsweise ist nicht denkmöglich. So kann auch vom Gleichgewichtszustand der Klassenkräfte in dem Sinne, daß das Proletariat und die Bourgeoisie in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft einander die Waage halten, bei der Betrachtung des Machtkampfes des Proletariats nicht die Rede sein. Die Klassendiktatur der Bourgeoisie bleibt in ihren Fundamenten unangetastet, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht. So ist zunächst festzuhalten, daß ein Gleichgewichtszustand im Verhältnis der Klassenkräfte zueinander im Sinne einer Teilung der gesellschaftlichen Macht für die Periode des proletarischen Kampfes um die Macht logisch gar nicht gedacht werden kann. Wo die kapitalistische Produktionsweise nicht völlig ausgebildet ist, wo sie neben einer anderen Produktionsweise bestehen kann, liegt eine Teilung der Macht zwischen der Bourgeoisie und der vor ihr herrschenden Klasse und somit eine Verselbständigung der Staatsgewalt auf dieser Basis (aber letztlich doch im Dienste der Bourgeoisie, als Ausdruck ihrer tendenziellen Klassendiktatur) durchaus im Bereich des Möglichen. Wo aber die kapitalistische Produktionsweise sich befestigt und ausgebreitet hat, so daß sie die herrschende Produktionsweise ist, besteht der ganze Sinn der Klassenherrschaft der Bourgeoisie in der Aufrechterhaltung dieser Produktionsweise. Natürlich kann hier das Selbsterhaltungsinteresse der Bourgeoisie als Klasse, das in bestimmten historischen Situationen Konzessionen an andere Gesellschaftsschichten verlangt, in Widerspruch geraten mit den Interessen einzelner bürgerlicher Schichten, so daß in dieser Richtung eine Verselbständigung der Staatsgewalt nicht ausgeschlossen erscheint. Aber es ist dies eine Verselbständigung der Staatsgewalt im Interesse der Sicherung der Klassendiktatur der Bourgeoisie, nicht im Interesse einer Aufteilung der gesellschaftlichen

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Macht unter einzelne Klassen. Die Bourgeoisie in ihren führenden Schichten kann sicherlich politisch zu schwach sein, um ihre Diktatur selbst ausüben zu können. Sie überträgt sie dann anderen gesellschaftlichen Schichten, seien es Teile des Bürgertums selbst, sei es sogar - auf der Grundlage der Unantastbarkeit des Privateigentums an den Produktionsmitteln - das Proletariat; aber diese Übertragung der Ausübung der Staatsgewalt auf andere Schichten oder auf den Staatsapparat tastet die Klassendiktatur der Bourgeoisie nicht an, dient nur ihrer Selbstbehauptung.

Wenn, wie wir gesehen haben, die Diktatur der Bourgeoisie auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht, ist offensichtlich eine Überwindung oder auch nur eine Einschränkung ihrer gesellschaftlichen Macht ohne die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise nicht möglich. Es ist aber auch anderseits ebensowenig eine schrittweise erfolgende Verdrängung der kapitalistischen Produktionsweise ohne den Sturz der Diktatur der Bourgeoisie denkbar. Immer wieder ist von Karl Kautsky unterstrichen worden, daß die proletarische Revolution an eine politische Revolution als ihre unerläßliche Voraussetzung gebunden sei. So sagt er einmal, indem er der Diktatur der Bourgeoisie die Diktatur des Proletariats gegenüberstellt: "Ganz anders steht es mit der Diktatur des Proletariats. Sie kann nicht einer ökonomischen oder intellektuellen Übermacht entspringen, die sich unter allen Regierungsformen äußert, sondern nur aus seinem Besitz der Staatsmacht hervorgehen, der eine bestimmte Regierungsform voraussetzt."*VIII.1 Und sehr richtig wird der Unterschied zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Revolution von Otto Leichter in seiner Auseinandersetzung mit Otto Bauer gekennzeichnet:
"Die ökonomische Basis [in der bürgerlichen Revolution. - A. G] hat sich verändert, und zwar nicht nur in den Tendenzen ihrer Entwicklung, sondern in den bereits zur Entfaltung gelangten Wirtschaftsformen, der ideologische Überbau und das Regierungssystem mußten sich anpassen. Alle Erscheinungen also, die in einer Berücksichtigung oder sogar teilweisen Verwirklichung der Klasseninteressen der Bourgeoisie vor der bürgerlichen Revolution bestanden, sind zurückzuführen auf bereits verwirklichte Wirtschaftsformen, auf Grund deren die Bürger reich, ökonomisch mächtig und schließlich auch politisch einflußreich geworden waren. [...] Die Bourgeoisie hatte bereits vor der Machtergreifung ihre ökonomische Aufgabe größtenteils erfüllt, ihre politische Macht basierte auf der ökonomischen der Städte, auf dem wirtschaftlichen und geistigen Verfall des Feudaladels und der Finanznot der Fürsten. Die Arbeiterklasse hat vor der sozialen Revolution keinerlei ökonomische Macht in demselben oder in einem ähnlichen Sinne wie das Bürgertum in seinem revolutionären Zeitalter. Die Bourgeoisie konnte getrost eine Zeit [147] lang noch dem Feudaladel die Regierung überlassen, denn sie konnte dessen gewiß sein, daß auch er nicht gegen die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse rebellieren kann, die Arbeiterklasse im Besitz eines Teiles des Regierungsapparates muß aber, da in der Gleichgewichtszeit die ökonomische Basis im allgemeinen nicht angetastet werden kann, ununterbrochen gegen die ökonomische Grundlage rebellieren, ein Versuch, der ebenso aussichtslos ist, wie der der Grundaristokratie gewesen wäre, gegen das ökonomische Interesse der Bourgeoisie vor ihrer vollständigen Machtergreifung zu rebellieren. Die Rollen der Bourgeoisie und des Proletariats sind gerade von diesem Gesichtspunkt aus verschieden; gerade in diesem einen Punkt kann man die beiden Revolutionen nicht vergleichen." (Leichter)*VIII.2
Was aber folgt hieraus? Zunächst das eine, daß die Entfaltung einer sozialistischen Produktionsweise den Sturz der Diktatur der Bourgeoisie ebenso wie die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln zur Voraussetzung hat. So konnte Marx schon im Jahre 1844 in einer Polemik gegen Ruge zu dieser Schlußfolgerung gelangen:
"Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch. [...] So paraphrastisch oder sinnlos aber eine soziale Revolution mit einer politischen Seele, ebenso vernünftig ist eine politische Revolution mit einer sozialen Seele. Die Revolution überhaupt - der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse - ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg." (Marx)*VIII.3
Und wenige Jahre später heißt es dann in dem Aufsatz gegen Heinzen ganz präzis: "Die jetzigen bürgerlichen Eigentumsverhältnisse werden ´aufrechterhalten´ durch die Staatsmacht, welche die Bourgeoisie zum Schutz ihrer Eigentumsverhältnisse organisiert hat. Die Proletarier müssen also die politische Gewalt, wo sie schon in den Händen der Bourgeoisie ist, stürzen. Sie müssen selbst zur Gewalt, zur revolutionären Gewalt werden."*VIII.4 Das besagt, die soziale Revolution des Proletariats ist ohne eine politische Revolution nicht möglich. Damit die Grundlage der Klassendiktatur der Bourgeoisie zerstört werden könne, muß die Revolution des Proletariats politisch sein, sich gegen die politische Herrschaft der Bourgeoisie richten. Und erst in dem Maße, wie sich der Aufbau der neuen Produktionsweise vollzieht, wird die politische, durch die Klassenspaltung der Gesellschaft bedingte Form der Revolution abgestreift; nun kann das Werk des sozialen Umbaus sich vollziehen. Wieder ist aber die Revolution des Proletariats nicht

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bloß an die Voraussetzung der Eroberung der politischen Macht gebunden:
"Stürzt [...] das Proletariat die politische Herrschaft der Bourgeoisie, so wird sein Sieg nur vorübergehend, nur ein Moment im Dienste der bürgerlichen Revolution selbst sein, wie anno 1794, solange im Laufe der Geschichte, in ihrer ´Bewegung´, die materiellen Bedingungen noch nicht geschaffen sind, die die Abschaffung der bürgerlichen Produktionsweise und darum auch den definitiven Sturz der politischen Bourgeoisherrschaft notwendig machen." (Marx)*VIII.5
Der Sinn dieser Äußerungen ist unmißverständlich. Zur Macht gelangt, wird das Proletariat zum Träger der Elemente einer neuen Produktionsweise nur dann, beseitigt es die Diktatur der Bourgeoisie nur dann, wenn die "materiellen Bedingungen" des Sturzes der politischen Herrschaft der Bourgeoisie in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft gegeben sind, das heißt, wenn das Proletariat die ökonomische Basis der Diktatur der Bourgeoisie, das Privateigentum an den Produktionsmitteln, zerschlägt. Gelingt ihm diese Zerschlagung nicht, so ändert aller Schein der proletarischen Diktatur an der politischen Oberfläche nicht das geringste daran, daß das Proletariat in Wirklichkeit nicht seine Diktatur, sondern die Diktatur einer anderen, in der Regel ihm feindlichen Klasse ausübt.*VIII.6 Dennoch müssen wir immer wieder festhalten, daß zwischen der Beseitigung der ökonomischen Grundlage der Herrschaft der Kapitalistenklasse und der Beseitigung ihrer politischen Herrschaft ein dialektischer Zusammenhang besteht, daß man nicht jene als Voraussetzung dieser, aber auch nicht diese als Voraussetzung jener im exakten Sinne des Wortes fassen kann, weil der Sturz der politischen Herrschaft der Kapitalistenklasse, der der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln vorausgehen muß, seinerseits nur insofern den tatsächlichen Sturz der Diktatur der Bourgeoisie bedeutet, als jener zweite Akt der proletarischen Revolution vollzogen wird. Nichtsdestoweniger bleibt im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung die

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Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse eben der erste Akt ihrer Revolution. Die politische Herrschaft einer Klasse beruht aber auf ihrer Verfügung über das Staatsgebilde, über den Staat sowohl als Apparat wie auch als Ideologie, wie im III. und IV. Kapitel dieser Arbeit des näheren ausgeführt worden ist. Wie sehr gerade die ideologische Herrschaftsfunktion des Staates für die Ausübung der Klassendiktatur der Bourgeoisie von Bedeutung ist, hat namentlich Otto Bauer in dem Bestreben, auf diese Weise die Unzulänglichkeit des Marxschen Diktaturbegriffes aufzuweisen, unterstrichen. So schreibt er:
"Haben in den konstitutionellen Monarchien nur die privilegierten Schichten der großen Bourgeoisie geherrscht, so herrscht in den Demokratien die Gesamtheit der Bourgeoisie. Die Regierungsgewalt liegt in den Händen der bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien, die die Massen des mittleren Bürgertums in der Stadt und der größeren und mittleren Bauernschaft auf dem Lande repräsentieren. Aber diese bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien können ihre Regierungsmacht nur behaupten, indem sie breite Schichten des Proletariats, des Kleinbürgertums, der Kleinbauernschaft mittels politischer, religiöser, nationaler Ideologien unter ihrem Einfluß erhalten, und sie werden anderseits selbst durch den ökonomisch-ideologischen Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise unter den Einfluß, unter die Führung der großen Bourgeoisie, der eigentlichen Kapitalistenklasse gesetzt, deren Interessen zu vertreten und durchzusetzen sie gezwungen sind. [...] Da die große Bourgeoisie in der Demokratie ihre Herrschaft nur mittels der bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien ausüben kann, deren Regierungen der periodischen Bestätigung durch die Mehrheit des Volkes bedürfen, muß sie diesen Massenparteien erlauben, der Volksmehrheit die wirtschaftlichen, sozialen, ideellen Zugeständnisse zu machen, die jeweils notwendig sind, um diese Bestätigung zu erlangen." (Bauer)*VIII.7
Das sei der "Herrschaftsmechanismus der bürgerlichen Demokratie, wie Marx und Engels ihn uns verstehen gelehrt haben", bemerkt Otto Bauer. Aber Bauer sieht nicht, daß dieser Herrschaftsmechanismus eben darin besteht, daß die große Bourgeoisie sich die anderen Gesellschaftsschichten unterwirft, um auf diese Weise die Diktatur der gesamten Bourgeoisie als Klasse zu verwirklichen. So unterstreicht hier Bauer selbst, daß die bürgerlichen Massenparteien, die im Namen der Bourgeoisie als Klasse die Staatsgewalt ausüben, breite Massen der verschiedensten Gesellschaftsschichten in ihre Gefolgschaft bringen müssen, um die Diktatur der Bourgeoisie auf diese Weise zu einer unsichtbaren zu machen. Wenn Bauer weiter sagt, daß "die Herrschaft der Kapitalistenklasse in der Demokratie [...] eben nicht eine unbeschränkte Diktatur der Kapitalistenklasse" sei, so ist nicht einzusehen, welches dann die tatsächliche unbeschränkte Diktatur sein soll - wenn

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die Mittel, mit denen sie ausgeübt wird, als Beschränkungen gefaßt werden. Es ist schließlich eine erkenntniskritische Streitfrage, ob die Erreichung eines Zweckes durch die ihm adäquaten Mittel eingeschränkt werde, eine Streitfrage, die für die Begriffsbestimmung der Diktatur in diesem Zusammenhang ziemlich unwesentlich ist. Und es ist ja auch nicht Bauers Absicht, eine erkenntniskritische Erörterung ins Werk zu setzen. Wenn er trotzdem zu jener Beurteilung der Herrschaft der Kapitalistenklasse in der Demokratie gelangt, so mag das an jener "gewissen Überschätzung der äußeren politischen Formen auf Kosten der realen ökonomischen Tatsachen" liegen, die ihm Kelsen in der Auseinandersetzung über die Gleichgewichtstheorie schon 1924 vorgeworfen hat.*VIII.8

Neben den ideologischen Mitteln der Ausübung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie fällt indes entscheidend ins Gewicht der eigentliche Apparat des Staates, Bürokratie, Militär, Polizei. Gerade hier ist aber von Karl Renner immer wieder eingewendet worden*VIII.9 , daß mit der steigenden politischen Macht des Proletariats auch der Staatsapparat im Kapitalismus seinem inneren Wesen nach transformiert werde. So hat er neuerdings wieder ausgeführt: "Vor dem Kriege in allen Staaten Europas eine Organisation aller Klassen (Heer der allgemeinen Dienstpflicht; Beamte und Offiziere meist bürgerlicher, Mannschaften und Bedienstete stets bürgerlicher und proletarischer Herkunft) ist der Apparat heute - auf deutscher Erde wenigstens - schon überwiegend aus Besitzlosen oder zumindest aus Vermögenslosen zusammengesetzt."*VIII.10 Durchaus zutreffend hat Bauer dem entgegengehalten, daß es nicht die Vermögenslage der Träger des Staatsapparates ist, die über ihre Klassenzugehörigkeit entscheidet. Er schrieb:
"Renner mißt [...] der Tatsache Bedeutung bei, daß die Intellektuellen ´keine Produzenten-, nur Konsumenteninteressen´ haben und daß die Bürokraten ´Vermögenslose´ sind. In Wirklichkeit ist die Stellung der Masse der Intelligenz nicht durch ihre materiellen Interessen bestimmt., sondern durch die besondere Funktion, die ihr die gesellschaftliche Arbeitsteilung zuweist, durch die Funktion, Produzenten, Träger und Verschleißer der ´herrschenden Ideen´ zu sein. Die materialistische Geschichtsauffassung lehrt nicht, daß jede Klasse durch ihre ökonomischen Interessen, sondern daß jede Klasse durch ihre ökonomischen Lebensbedingungen bestimmt ist." (Bauer)*VIII.11
Allein auch diese Entgegnung hat immer nur die ideologische Herrschaftsfunktion des Staatsapparates im Auge, die zwar gewiß wichtig,

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aber für die gesellschaftliche Funktion des Staatsapparates doch nicht allein ausschlaggebend ist.*VIII.12 Von entscheidender Bedeutung für unsere Untersuchung ist die Funktion, die die Träger des Staatsapparates im Produktionsprozeß ausüben. Denn diese Funktion ist es nach der materialistischen Geschichtsauffassung, die letztlich auch die ideologische Funktion der Funktionsträger bestimmt. Nun besteht ja die Aufgabe des Staatsapparates allenthalben darin, die äußere Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu regeln, die äußeren Voraussetzungen für die Geltung bestimmter Produktionsverhältnisse sicherzustellen. Konkret für die kapitalistische Gesellschaft: der Staatsapparat hat die Aufgabe, das ungestörte Funktionieren der kapitalistischen Produktionsweise zu ermöglichen. Und es ist dies die Aufgabe nicht nur des Herrschaftsapparates des Staates im engeren Sinne, sondern auch des staatlichen Verwaltungsapparates in seiner Gesamtheit. Ihrer Subsistenzquelle nach Bezieher des vom Staate angeeigneten Mehrwerts, sind die Funktionäre des Staatsapparates ihrer Funktion nach die Garanten dafür, daß die Aneignung des Mehrwertes durch die Produktionsmittelbesitzer von Staats wegen gesichert und geschützt werde. Aus dieser Stellung der Funktionsträger des Staatsapparates im gesellschaftlichen Produktionsprozeß erwächst auch erst ihre Funktion als ideologische Träger der herrschenden Produktionsweise, als berufene Beschützer der "Verfassung des Privateigentums". Diese spezifische Aufgabe der Träger des Staatsapparates, der Bürokratie und der Ideologen des Staates, ist allerdings von Marx im Fortgang seiner Loslösung vom Hegelschen System so prägnant herausgearbeitet worden - darüber ist oben bereits näher gesprochen worden -‚ daß nähere Ausführungen hierzu sich erübrigen. Mögen die Träger des Staatsapparates ihrer sozialen Lage nach so sehr proletarisiert werden, in so enge Nachbarschaft zum Proletariat gelangen, das ändert alles nichts daran, daß ihre gesellschaftliche Funktion bestehen bleibt, solange die kapitalistische Produktionsweise besteht.

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Diese Funktion des Staatsapparates kann nur aufgelöst werden, indem einmal ihr unmittelbarer Zweck - die Erhaltung der kapitalistischen Produktionsweise - in Wegfall kommt, indem zum andern die von der Gesellschaft ausgesonderten und dem Staatsapparat übertragenen spezifischen Funktionen von der Gesellschaft als Ganzheit wieder zurückgenommen werden, so daß der "politische Staat" als solcher abstirbt.*VIII.13 Mit dieser Fragestellung wird aber ein Gebiet betreten, das im Gange der Bestimmung des Begriffes der Diktatur eliminiert werden mußte: das Gebiet der Staatsform in ihrer Bezogenheit auf einen spezifischen - hier den proletarischen - Klasseninhalt der Diktatur. Der Weg der Untersuchung, die hier anzustellen ist, ist von Marx wiederholt vorgezeichnet worden. So schrieb er in seiner Denkschrift über die Pariser Kommune: " [...] die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen."*VIII.14 Und ebenso heißt es in einem Brief an Kugelmann:
"Wenn Du das letzte Kapitel meines ´Achtzehnten Brumaire´ nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent." (Marx)*VIII.15
Was aber sagt Marx im Achtzehnten Brumaire?
"Diese Exekutivgewalt mit ihrer ungeheuren bürokratischen und militärischen Organisation, mit ihrer weitsichtigen und künstlichen Staatsmaschinerie, [...] dieser fürchterliche Parasitenkörper entstand in der Zeit der absoluten Monarchie, beim Verfall des Feudalwesens, den er beschleunigen half. Die herrschaftlichen Privilegien der Grundeigentümer und Städte verwandelten sich in ebenso viele Attribute der Staatsgewalt, die feudalen Würdenträger in bezahlte Beamte und die bunte Musterkarte der widerstreitenden mittelalterlichen Machtvollkommenheiten in den geregelten Plan einer Staatsmacht, deren Arbeit fabrikmäßig geteilt und zentralisiert ist. [...] Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine, statt sie zu brechen." (Marx)*VIII.16
Und an anderer Stelle:
"Die staatliche Zentralisation, deren die moderne Gesellschaft bedarf, erhebt sich nur auf den Trümmern der militärisch-bürokratischen Regierungsmaschinerie, die im Gegensatz zum Feudalismus geschmiedet ward." (Marx)*VIII.17

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Im Bürgerkrieg in Frankreich hat Marx im einzelnen untersucht, welches die Methoden der Zerstörung dieser bürokratisch-militärischen Staatsmaschinerie in der proletarischen Revolution sind und welches die neue Staatsmaschine der proletarischen Diktatur ist, die sie zu ersetzen hat. Die Pariser Kommune, die Engels als Prototyp der Diktatur des Proletariats hinstellte*VIII.18 , hat selbst bestimmte Prinzipien der Organisation der Regierungsgewalt zur Durchführung gebracht, die Marx in den Vordergrund seiner Untersuchung rückte.*VIII.19 Als wesentlicher Inhalt des politischen Systems der Organisation der Staatsgewalt im Dienste der proletarischen Revolution erscheint hier die Verlegung der eigentlichen Geschäfte der Staatsverwaltung in die demokratischen Selbstverwaltungskörper, die Beseitigung der Unabsetzbarkeit der Funktionäre des Staatsapparates, der Aufbau des ganzen Regierungssystems auf der selbsttätigen Aktivität der proletarischen Masse selbst. Es ist dies nichts anderes als eben die Auflösung der Staatsgewalt als eines über der Gesellschaft stehenden Apparates, die Hineinverlegung aller Funktionen der staatlichen Organisation in das tägliche Leben des gesellschaftlichen Ganzen. Um dieses leitenden Prinzips willen ist die jederzeitige Absetzbarkeit und Abberufbarkeit der staatlichen Funktionsträger, die Verkürzung der Amtsperiode aller gewählten Körperschaften, nach Möglichkeit auch die Verlegung der Wahlen in die kleinsten Zellen des gesellschaftlichen Organismus gedacht. Es ist dies aber auch nichts anderes, als was Otto Bauer unter "funktioneller Demokratie" versteht*VIII.20 , wenn er auch diese funktionelle Demokratie nicht erst nach der Eroberung der Staatsmacht, sondern schon im Prozesse des Kampfes um die Staatsmacht verwirklicht wissen will. In dem gleichen Sinne äußert sich auch Max Adler über die Formen, in denen die Ausübung der proletarischen Diktatur allein gedacht werden kann:
"Die Entartung der Demokratie durch Entstehung einer berufsmäßigen Kaste von öffentlichen Funktionären und ihre Verwandlung aus einer Organisation der Selbstbestimmung des Volkes zu einem Instrument seiner Beherrschung durch diese Kaste scheint [154] mir nämlich durch zwei Gegenwirkungen entscheidend verhindert zu werden, die sich heute schon als Tendenzen einer sozialen Demokratie erkennen lassen, weil sie schon heute wirksam sind. ‚[...] Und auf diese beiden sozusagen tragenden Prinzipien jeder wirklichen Demokratie hat besonders Marx nachdrücklich hingewiesen. Es ist vor allem die politische Durchbildung der Massen. [...] Und zweitens der Aufbau des ´Staats´, d. h. des gesellschaftlich-solidarischen Lebens von unten auf, also aus den kleinen, engeren, noch lebenswarmen gesellschaftlichen Beziehungen, wie sie durch lokale, betriebsmäßige und gemeinwirtschaftliche Verbundenheit innerhalb der unmittelbarsten Bedürfnisbefriedigung gegeben ist. [...] Das ist nur eine Verallgemeinerung des längst schon aus der Geschichte der Demokratie und vor allem in ihrer englischen Form bewährten Grundsatzes, daß, was an Demokratie schon innerhalb der Klassengesellschaft Realität haben kann, nur auf dem Prinzip der Selbstverwaltung von unten auf, der Gemeinden und Zweckgemeinschaften, sich entfalten konnte." (Adler)*VIII.21
So ist das Wesen dieser demokratischen Form der Ausübung der proletarischen Diktatur dies, daß die Verrichtung sämtlicher gesellschaftlicher Funktionen aus der Aktivität der Masse selbst hervorwachse, aus der "Selbstregierung der Produzenten", wie Marx einmal die Staatsform der Pariser Kommune bezeichnet hat. In der nämlichen Richtung wird auch von Rosa Luxemburg die Eigenart der politischen Verfassung der proletarischen Diktatur gesehen:
"Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. [...] Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, [...] die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so, dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt. [...] Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. [...] Die ganze Volksmasse muß daran teilnehmen. [...] Unbedingt öffentliche Kontrolle notwendig. Sonst bleibt der Austausch der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreise der Beamten der neuen Regierung, Korruption unvermeidlich." (Luxemburg)*VIII.22
Und wir gelangen alsdann zu dem Ergebnis, daß die proletarische Diktatur aufgrund der Aufgaben, die sie zu verwirklichen hat, darauf angewiesen ist, die politische Demokratie in weitestmöglichem Ausmaß zu befestigen und zu erweitern, sie zu vertiefen, sie von den Beschränkungen zu befreien, denen sie unter der Diktatur der Bourgeoisie

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unterworfen ist. Denn die Errichtung einer sozialistischen Produktionsweise setzt lebendige, schöpferische, gestaltende Aktivität der Massen voraus und ist ohne diese gar nicht denkbar. So ist die Staatsform der proletarischen Diktatur nicht eine Abschaffung oder Einschränkung der politischen Demokratie, sondern umgekehrt die Ausbreitung der demokratischen Organisationsformen in größtem Umfang, die Förderung ihres Eindringens in alle gesellschaftlichen Funktionskomplexe, die unter der Diktatur der Bourgeoisie autokratisch oder bürokratisch organisiert gewesen.*VIII.23 Oder, wie Rosa Luxemburg sagt:
"Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats. Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung." (Luxemburg)*VIII.24
Ist aber auch die Staatsform der proletarischen Diktatur nichts anders als die eigene Aktion der proletarischen Masse selbst, so folgt daraus, daß die Diktatur des Proletariats nicht nur hinsichtlich der Umwälzung des ökonomischen Unterbaus der Gesellschaft, sondern auch im Hinblick auf ihre eigenen Verwirklichungsformen von der materialistischen Geschichtsauffassung als ein Prozeß gefaßt wird, in dessen Vollendung erst das Wesen der Diktatur des Proletariates zum Ausdruck kommt. So ist die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats im Gang der proletarischen Revolution selbst ein komplizierter, vielgestaltiger Prozeß, der einerseits in der Überwindung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Entfaltung der Elemente einer sozialistischen Produktionsweise, anderseits in dem Aufbau einer sozia-

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listischen Demokratie
seinen Inhalt findet. Wobei wiederum hinzugefügt werden muß, daß auch diese beiden für die Diktatur des Proletariats inhalt- und formbestimmenden Entwicklungsvorgänge sich gegenseitig durchdringen, miteinander verflochten sind und mit allen Rädern ihrer Mechanismen ineinandergreifen. Erst und nur in dem Maße, wie die Entfaltung der Elemente dieser beiden Prozesse gelingt, kann aber auch das Proletariat zum Vollstrecker der sozialistischen Produktionsweise, kann seine Diktatur ihrem historischen Inhalt nach zu einer Diktatur des Proletariats werden. Kommen diese Prozesse nicht zur Reife, werden sie jäh abgebrochen und in andere Bahnen gedrängt, so schwindet der Klasseninhalt der proletarischen Diktatur mit seiner ökonomischen Basis, der tendenziell gegebenen Entfaltung der sozialistischen Produktionsweise, dahin. Hier ist es, daß das dialektische Wesen des Begriffes der proletarischen Diktatur seine innere Bewegung auf deckt, indem es nämlich die vom Proletariat ausgeübte Diktatur erst und nur in dem Maße zu seiner eigenen werden läßt, wie der Sozialismus sowohl nach der ökonomischen als auch nach der gesellschaftlich-organisatorischen Seite hin verwirklicht wird und somit mit der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft der Staat als Organisation der Klassendiktatur überflüssig wird. Nicht aus eigener Machtvollkommenheit konstituiert sich die Klassenherrschaft des Proletariats als eine Diktatur, als eine Klassenherrschaft, die an die Struktur einer bestimmten Produktionsweise gebunden ist; sie wird zur Diktatur des Proletariats nur insoweit, als die gesellschaftliche Entwicklung und die aus ihr geborene Aktion der proletarischen Masse die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit gesetzt und historische Wirklichkeit hat werden lassen. Nur insoweit wird die Klassenherrschaft des Proletariats zur Diktatur, als eine ökonomische Struktur der gesellschaftlichen Produktion gegeben ist, aus der, die Tendenz zur Aufhebung der Klassenspaltung, eine Tendenz, die mit der geschichtlichen Aufgabe des Proletariats identisch ist, mit Gewalt zum Durchbruch gelangt. Nur in dieser Richtung empfängt das Proletariat die gleichsam kommissarische Übertragung der Staatsgewalt von der neuen, sozialistischen Produktionsweise; nur in dieser Richtung wird seine Diktatur zur Vollstreckung eines historisch gegebenen Inhaltes der gesellschaftlichen Struktur, wird sie zur Diktatur, indem sie eine gesellschaftliche Organisation begründet, in der keine Klassen und kein Staat, somit auch keine Diktatur mehr möglich, in der also die Diktatur des Proletariats in der Verwirklichung ihrer geschichtlichen Aufgabe sich selbst auflöst. In der Selbstaufhebung der Diktatur des Proletariats findet ihr dialektischer Begriff erst seine Vollendung.

IX. Diktaturbegriff und materialistische Geschichtsauffassung

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Der Begriff der Diktatur ist von uns gewonnen worden als der Begriff einer Klassenherrschaft, die an eine bestimmte Produktionsweise in der Weise gebunden ist, daß sie selbst ein Bestandteil der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist und daß die jeweilige Gesellschaftsformation ohne diese Diktatur einer Klasse gar nicht gedacht werden kann. So ist unser Begriff der Diktatur ein soziologischer Begriff, der gleich verschieden ist von dem Diktaturbegriffe der juristischen Normologie oder der praktischen Politik. Im Rahmen dieser Auffassung erwies sich die Diktatur nicht nur als kein Widerspruch zum Begriffe der politischen Demokratie, sondern vielmehr als ein Begriff, der seinem Gegenstande nach einer anderen Ebene der wissenschaftlichen Betrachtung entnommen war. Im Rahmen dieser Auffassung erwies sich aber auch das Gebilde einer verselbständigten Staatsgewalt als begrifflich durchaus vereinbar mit dem soziologischen Diktaturbegriff. Der Begriff der Verselbständigung des Staatsapparates, so zeigten wir, steht nicht nur nicht im Widersprüche zum Begriffe der Diktatur, sondern sogar in notwendiger Korrelation zu diesem. Erst mit der Aufdeckung des Mechanismus der Übertragung der Ausübung der Diktatur auf eine mit der herrschenden Klasse nicht zusammenfallende Schicht, die entweder eine besonders gegliederte zweckorientierte Schicht der herrschenden Klasse oder die Schicht der Funktionsträger des Staatsapparates ist, wird der soziologische Diktaturbegriff auf alle Tatbestände der gesellschaftlichen Organisation in der warenproduzierenden Klassengesellschaft zur Anwendung gebracht werden können. Der Begriffsbestimmung des sozialen Gebildes der Diktatur galt die Untersuchung im VI. und im VII. Kapitel der vorliegenden Arbeit, und erst mit der Auffindung dieser soziologischen Begriffsbestimmung konnte die Kategorie Diktatur in die Kategorienlehre der materialistischen Geschichtsauffassung eingeordnet werden.

Aber auch erst aus der Einsicht in das Wesen der Diktatur als eines sozialen Gebildes erwächst die Einsicht in die Stellung des Begriffes der proletarischen Diktatur im Zusammenhange der Geschichtsdeutung der materialistischen Geschichtsauffassung. Die Diktatur muß begriffen werden als ein gesellschaftlicher Überbau, der an eine bestimmte

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Produktionsweise unzertrennlich gebunden ist, als ein Überbau, der seinerseits wiederum umwälzend auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Unterbaus einwirken kann und dessen Verwirklichung als Begriff der proletarischen Diktatur schlechterdings an die Voraussetzung der Umwälzung des Unterbaus der kapitalistischen Produktionsweise geknüpft ist. Die Diktatur erscheint hier als ein Gebilde, das scheinbar selbständig und autonom sich über den Gesellschaftsklassen der jeweiligen Produktionsweise erhebt, das aber in Wirklichkeit nur um so tiefer verwurzelt ist in dem, was gleichermaßen auch für die Gesellschaftsklassen die konstituierende Basis ihrer geschichtlichen Wirklichkeit ist: in der ökonomischen Struktur des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Die Aufgabe, die die materialistische Geschichtsauffassung der Diktatur des Proletariats zuweist, ist eine doppelte: sie besteht sowohl in der Rückwirkung des politischen Überbaus der Klassengesellschaft auf ihren ökonomischen Unterbau vermittels dessen, daß das Proletariat selbst jene Produktivkraft ist, die mit den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Widerspruch gerät und sie sprengen muß, als auch in der Umwälzung dieses politischen Überbaus in der spezifischen Staatsform der proletarischen Diktatur, über die im VIII. Kapitel gesprochen wurde. Es entsteht hier gleichsam ein Widerspruch zu der Bestimmung der Wechselwirkung von ökonomischem Unterbau und politischem und ideologischem Überbau, wie sie die materialistische Geschichtsauffassung vornimmt. Allein dieser Widerspruch ist ein scheinbarer. Die geschichtliche Aktion des Proletariats ist selbst bedingt durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, wie das die Darstellung im III. und IV. Kapitel dargetan hat, so daß am Ende dies, was in der Verwirklichung des dialektischen Begriffes der proletarischen Diktatur zum Ausdruck kommt, nur das Aussichheraustreten und Zusichkommen der Realität des geschichtlichen Prozesses ist, um hier einmal die Hegelsche Terminologie in Anwendung zu bringen, nur die Geschichte selbst in Ansehung ihrer Tätigkeit, ihrer Bewegung, der gesellschaftlichen Aktivität.

Hier nun äußert sich die tiefe Verbundenheit der materialistischen Geschichtsauffassung mit der Gedankenwelt der Hegelschen Philosophie. Die Lehre von der Diktatur kann nicht verstanden werden ohne das Eindringen in den monumentalen Bau des Hegelschen Denkens, ohne die Kenntnis der geschichtsphilosophischen Kategorie des Zusichkommens des Geistes und des Überganges der geschichtlichen Substanz in die Welt der gesellschaftlichen Erscheinungen, denen die Darstellung der beiden ersten Kapitel gewidmet ist.

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Zugleich wird hier aber auch sichtbar, daß der dialektische Begriff der Diktatur des Proletariats nichts anderes ist als die geschichtsphilosophisch-soziologische und methodologische Verdichtung des prinzipiellen Kerngehaltes der materialistischen Geschichtsauffassung. Im V. Kapitel wurde gezeigt, daß sowohl für den Erkenntnisprozeß als auch für den geschichtlichen Prozeß das Zusichkommen des tätigen und erkennenden Geistes, die Herstellung der geschichtlichen und der methodologischen Subjekt-Objekt-Einheit erstmalig im Klassenbewußtsein des Proletariats wirklich wird und daß die Verwirklichung des proletarischen Klassenbewußtseins wiederum ein dialektischer Prozeß ist - ein dialektischer Prozeß in dem Sinne, daß das Klassenbewußtsein in seiner Entfaltung an den Klassenkampf des Proletariats funktionell gebunden ist und nur zufolge der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise zu seiner Vollendung in seiner Selbstaufhebung als Klassenbewußtsein gelangt.

In diesem Zusammenhang war zu zeigen, daß das Proletariat durch seine historische Aktion sowohl den Kapitalismus zur Entfaltung seiner ökonomischen Struktur in voller Reinheit treibt, als auch dessen Widersprüche, die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise auf fortschreitend erweiterter Stufenleiter bis zu jener Entfaltung reproduziert, die die Hülle der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen muß. Dieser Prozeß konnte aber nur anhand der "Anatomie" der kapitalistischen Produktionsweise, anhand der Analyse ihrer ökonomischen Struktur dargetan werden. Wurde damit aber gezeigt, daß die erstmalige Verwirklichung der Subjekt-Objekt-Einheit im geschichtlichen Prozeß erst mit der Verwirklichung und Selbstaufhebung des Klassenbewußtseins des Proletariats gegeben ist, so war damit auch der säkulare dialektische Umschlag des geschichtlichen Prozesses aufgewiesen, wie er nach der materialistischen Geschichtsauffassung sich allein in der einmaligen geschichtlichen Tat des Proletariats, die selbstverständlich wiederum ein Prozeß ist, in der Verwirklichung seiner Diktatur, vollzieht. Damit ist aber die Diktatur des Proletariats die Emanzipation des menschlichen Bewußtseins von der Verdinglichungsstruktur der warenproduzierenden Gesellschaft wie auch die Emanzipation der menschlichen Gesellschaft von jener antagonistischen Gestalt, die der Klassengesellschaft immanent ist: Emanzipation des Bewußtseins und Emanzipation der Gesellschaft in einem. Mithin findet die materialistische Geschichtsauffassung die von ihr als Voraussetzung der wahren Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität und als Voraussetzung bewußter gesellschaftlicher Aktivität postulierte Einheit

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von Theorie und Praxis in der umwälzenden geschichtlichen Aktion der Arbeiterklasse. So erweist sich, daß von dem der materialistischen Geschichtsauffassung immanenten methodologischen Standpunkt ihr soziologischer Wahrheitsgehalt einzig in revolutionärer Praxis nachprüfbar ist. Damit erweist sich aber auch, daß die materialistische Geschichtsauffassung mit dem ihr immanenten dialektischen Diktaturbegriff unzertrennlich verbunden ist, daß sie aufgegeben werden muß, wenn dieser Diktaturbegriff nicht anwendbar ist, daß dieser Diktaturbegriff aber auch erst inhaltserfüllt wird, wenn vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung gefaßt. Mit der Lehre von der Diktatur steht und fällt der ganze Gedankenbau der materialistischen Geschichtsauffassung.


ANMERKUNGEN: Die Originalfußnoten sind Seitenweise gesetzt und ihre Nummerierung Kapitelweise neuangefangen. Fürs Netz sind sie mit der entsprechenden Kapitelnummer indiziert als Endnoten gesetzt.
*I.1
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, im folgenden überall mit PhG angegeben. S. 51 (ed. Reclam).

*I.2
PhG, S. 50.

*I.3
PhG, S. 51.

*I.4
PhG, S. 52.

*I.5
Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ed. Michelet, im folgenden überall mit GPh angegeben, S. 33.

*I.6
GPh, S. 34.

*I.7
GPh, S. 35.

*I.8
PhG, S. 52.

*I.9
GPh, S. 35/36. - Auszeichnungen von mir.

*I.10
PhG, S. 52.

*I.11
Ebda. - Auszeichnungen von mir.

*I.12
PhG, S. 53.

*I.13
PhG, S. 117; s. auch Hegel, Philosophie des Rechtes; im folgenden mit RPh angegeben, Paragraph 341: "Das Element des Daseins des allgemeinen Geistes [. . .] ist in der Weltgeschichte die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Sie ist ein Gericht, weil in seiner an und für sich seienden Allgemeinheit das Besondere, die Penaten, die bürgerliche Gesellschaft und die Völkergeister in ihrer bunten Wirklichkeit nur als Ideelles sind, und die Bewegung des Geistes in diesem Elemente ist, dies darzustellen."
Ferner auch Paragraph 342: "Die Weltgeschichte ist ferner nicht das bloße Gericht seiner Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern weil er an und für sich Vernunft, und ihr Fürsichsein im Geiste Wissen ist, ist sie die aus dem Begriffe nur seiner Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewußtseins und seiner Freiheit - die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes."

*I.14
GPh, S. 34. - Auszeichnungen von mir.

*I.15
PhG, S. 125. - Auszeichnungen von mir.

*I.16
PhG, S. 55.

*I.17
PhG, S. 57. - "Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich und zwar hier als Geist sich zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen. Dies Erfassen ist sein Sein und Prinzip und die Vollendung seines Erfassens ist zugleich seine Entäußerung und sein Übergang." (RPh, Paragraph 343.)

*I.18
PhG, S. 59/60. - Auszeichnungen von mir.

*I.19
"Ein anderes ist es in den großen geschichtlichen Verhältnissen. Hier ist es gerade, wo die großen Kollisionen zwischen den bestehenden, anerkannten Pflichten, Gesetzen und Rechten und zwischen Möglichkeiten entstehen, welche diesem System entgegengesetzt sind, es verletzen, ja seine Grundlage und Wirklichkeit zerstören und zugleich einen Inhalt haben, der auch gut, im großen vorteilhaft, wesentlich und notwendig scheinen kann. Diese Möglichkeiten nun werden geschichtlich; sie schließen ein Allgemeines anderer Art in sich als das Allgemeine, das in dem Bestehen eines Volkes oder Staates die Basis ausmacht. Dies Allgemeine ist ein Moment der produzierenden Idee, ein Moment der nach sich selbst strebenden und treibenden Wahrheit. Die geschichtlichen Menschen, die welthistonschen Individuen sind diejenigen, in deren Zwecken ein solches Allgemeine liegt." (PhG, S. 65/66.)

*I.20
PhG, S. 69, s. auch PhG, S. 66 - 69.

*I.21
PhG, S. 70.

*I.22
PhG, S. 76.

*I.23
PhG, S. 76. - Hier ist der Staat die äußere Rahmensphäre für die gesellschaftlichen Gegensätze, der der Stempel der Notwendigkeit durch ihre Wesenheit als Emanation des Geistes aufgeprägt ist. In der Hegelschen Philosophie, wie sie als abgeschlossenes Ganzes zu würdigen ist, findet die Idee des Staates bereits ihre Vollendung in der Empirie der geschichtlichen Erscheinungen; im preußischen Staat unter der Ägide des christlich-germanischen Volksgeistes. Nimmt man hingegen das Gedankengebäude der Hegelschen Philosophie in seinem Werden, so ist für die Frühperiode des Hegelschen Schaffens der Staat zugleich auch als Bestandteil einer Sphäre des Sollens zu betrachten. Insofern die Idee des Staates ihrer Vollendung im unendlichen Prozeß der Auseinanderlegung des Geistes entgegensieht, wobei hier weniger von einer einmaligen dialektischen Synthese, als vielmehr von einer Verwirklichung des abstrakten Begriffes aus der Tendenz zur Perfektibilität im Unendlichen die Rede ist. Durch den Abschluß der Staatsentwicklung in der Empirie des preußischen Staates büßt die Hegelsche Staatsidee ihren dialektischen Charakter ein, das dialektische Denken erstarrt zum System, und die Verwirklichung der sittlichen Idee im Staate wird zum formalen Systemabschluß. Hier knüpft der beginnende Trennungsprozeß in der Weiterführung des Hegelschen Denkens an, hier ist der Ort, wo die Hegelsche Schule in Richtungen zerfällt, wobei die Althegelianer an dem System festhalten, während die Junghegelianer die Seite der Tätigkeit, der Aktivität des Geistes (Kategorie des Selbstbewußtseins) aufgreifen. An die Stelle des göttlichen Wesens, das in der Hegelschen Frühperiode die Verwirklichung der sittlichen Idee des Staates im Unendlichen zu bewerkstelligen hat, tritt die Aktivität des Selbstbewußtseins in einer bestimmten empirischen Gestalt - bei den Junghegelianern als Aktivität des Selbstbewußtseins sozial gesehen als gesellschaftliche Tätigkeit menschlicher Intelligenz - auf. In der sozialen Empirie braucht der preußische Staat nicht mehr die endliche Verwirklichung des Zusichkommens des Geistes zu sein, weil und in dem Maße wie das Endliche, das System, wieder entthront wird und die aktuale Wesenheit des dialektischen Prozesses ihre Rechte zurückfordert.



*II.1
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, im folgenden mit Enz angegeben, Paragraph. 387 u. 553.

*II.2
Enz, Paragraph 483.

*II.3
Enz, Paragraph 484.

*II.4
Enz, Paragraph 485.

*II.5
Enz, Paragraph 486.

*II.6
Enz, Paragraph 487: "Der freie Wille ist:
A. selbst zunächst unmittelbar, und daher als einzelner, - die Person; das Dasein, welches diese ihrer Freiheit gibt, ist das Eigentum. Das Recht als solches ist das formelle, abstrakte Recht;
B. in sich reflektiert, so daß er sein Dasein innerhalb seiner hat, und hierdurch zugleich als partikulärer bestimmt ist, - das Recht des subjektiven Willens, die Moralität;
C. der substantielle Wille als die seinem Begriffe gemäße Wirklichkeit im Subjekte und Totalität der Notwendigkeit, - die Sittlichkeit, in Familie, bürgerlichen Gesellschaft und Staat."

*II.7
Das "formelle, abstrakte Recht", wie es Hegel auffaßt, ist denn auch die Basis, von der aus die marxistische Rechtssoziologie die Erklärung des Phänomens Recht nicht lediglich in seinem Werden, sondern als Norm zu erbringen versucht. Der Keimansatz dieser rechtssoziologischen Untersuchung, deren Ausgangspunkt sich mit der Hegelschen Prämisse deckt, daß das Eigentum es sei, in dem die Person sich ihre Freiheit gebe (s. Anm. 6), findet sich schon bei Marx: "Die Waren können nicht selbst zum Markte gehen und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in anderen Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des anderen, also jeder nur vermittels eines, beiden gemeinsamen Willensaktes sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigene veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun gesetzlich entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt." (Marx, Das Kapital, Volksausgabe, Bd. I. S. 47/48.)
- Diese wenig beachtete Grundlegung einer marxistischen Rechtssoziologie hat auch in der rechtsgeschichtlich bedeutsamen Studie von Karl Renner (Josef Karner, Die soziale Funktion der Rechtsinstitute, Marx-Studien, Bd.I) keinen Widerhall gefunden, wie ja auch ihr zweiter Teil, der über den Wandel der Rechtsnormen handeln sollte, nicht geschrieben worden ist.
Erst in der neueren Zeit ist der von Marx skizzierte Gedankengang in der russischen marxistischen Literatur aufgenommen worden. E. Pasukanis hat in seinem Buch Obscaja teorija prava i marksizm. - Opyt kritiki osnovnych juridiceskich ponjatij (Die allgemeine Theorie des Rechtes und der Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe) den Versuch unternommen, anknüpfend an die Hegel-Marxschen Richtlinien einer Grundlegung der Rechtssoziologie, das Recht als Norm auf das subjektive Personalrecht der in Austausch miteinander tretenden Warenproduzenten zurückzuführen, d. h., es als formale Voraussetzung einer auf Warenproduktion beruhenden Gesellschaftsordnung darzutun; s. hierzu auch I. Razumovskij, Sociologija i pravo (Soziologie und Recht) und M. Rejssner, Teorija Petrazickogo, marksizm i social‘ naja Ideologija, 1908 (Die Theorie von Petrazickija, der Marxismus und die soziale Ideologie) und Pravo (Das Recht, 1925). Einen knappen Überblick über die einschlägige Diskussion in der russischen marxistischen Literatur gibt Anatol Rappoport, Die marxistische Rechtsauffassung (Selbstverlag, 1927).
- S. hierzu ferner Marx, Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphiosophie, neuerdings erstmalig veröffentlicht in der Marx-Engels-Gesamtausgabe, herausgegeben von D. Rjazanov, im folgenden überall MEGA, Bd. I, 1. Halbband, S. 531: "Das Recht des Privateigentums ist das ius utendi et abutendi, das Recht der Willkür über die Sache. Das Hauptinteresse der Römer besteht darin, die Verhältnisse zu entwickeln und zu bestimmen, welche sich als abstrakte Verhältnisse des Privateigentums ergeben. Der eigentliche Grund des Privateigentums, der Besitz, ist ein Faktum, ein unerklärliches Faktum, kein Recht. Erst durch juristische Bestimmungen, die die Sozietät dem faktischen Besitz gibt, erhält er die Qualität des rechtlichen Besitzes, des Privateigentums."

*II.8
Enz, Paragraph 486.

*II.9
RPh, Vorrede.

*II.10
RPh, Paragraph 2, Zusatz.

*II.11
RPh, Paragraph 4.

*II.12
RPh, Paragraph 7.

*II.13
RPh, Paragraph 21.

*II.14
RPh, Paragraph 29. - Vergl. hierzu auch Paragraph 28: "Die Tätigkeit des Willens, den Widerspruch der Subjektivität und Objektivität aufzuheben und seine Zwecke aus jener Bestimmung in diese überzusetzen und in der Objektivität zugleich bei sich zu bleiben, ist außer der formalen Weise des Bewußtseins [...] worin die Objektivität nur als unmittelbare Wirklichkeit ist, die wesentliche Entwicklung des substantiellen Inhalts der Idee [...] eine Entwicklung, in welcher der Begriff die zunächst selbst abstrakte Idee zur Totalität ihres Systems bestimmt, die als das Substantielle unabhängig von dem Gegensatz eines bloß subjektiven Zwecks und seiner Realisierung, dasselbe in diesen beiden Formen ist."

*II.15
RPh, Paragraph 257.

*II.16
RPh, Paragraph 258.

*II.17
Ebenda, Zusatz. Hegel fährt fort: "[...] es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist: sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft." - Gott tritt hier an die Stelle der List der Vernunft, die den Übergang aus dem Reich des Substantiellen in das Reich der Empirie zu bewerkstelligen hatte; vgl. auch Kapitel I, Anm. 23, und Kap. II, Anm. 28.

*II.18
RPh, Paragraph 270, Zusatz. Vergl. auch in diesem Paragraphen: "Daß der Zweck des Staates das allgemeine Interesse als solches und darin als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen ist, ist
1. seine abstrakte Wirklichkeit oder Substantialität; aber sie ist
2. seine Notwendigkeit als sie sich in die Bepiffsunterschiede seiner Wirksamkeit dirimiert, welche durch jene Substantialität ebenso wirkliche feste Bestimmungen, Gewalten sind;
3. eben diese Substantialität ist aber der als durch die Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und wollende Geist.."

Würde in der Substanz des allgemeinen Interesses die Durchsetzung und Erhaltung der besonderen Interessen, die Aufhebung dieser Sonderinteressen in der höheren Einheit des Staates nicht möglich sein, so käme dem Staat lediglich die Kategorie der Existenz zu, er würde, wie im Text ausgeführt, nicht wirklich sein. Über die Antinomie des Überganges aus der Sphäre der Substanz, die sich realiter in dem Allgemeininteresse verkörpern soll, in die Sphäre der gesellschaftlichen Empirie siehe Näheres im Kap. III.

*II.19
RPh, Paragraph 269, Zusatz. - Auszeichnungen von mir.

*II.19a
Sonst tritt sie aus der Existenz nicht in die Wirklichkeit hinüber (s. Anm. 18).

*II.20
RPh, Paragraph 207.

*II.21
RPh, Paragraph 263, Zusatz. - Auszeichnungen von mir.

*II.22
RPh, Paragraph 183: "Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist. - Man kann dies System zunächst als den äußeren Staat, - Not- und Verstandesstaat ansehen." Wiederum ist also die Vereinigung aller Sonderinteressen in der Synthese des Allgemeininteresses die Voraussetzung der Kategorie Staat. Freilich erscheint sie hier als äußerlich, aber in dieser Äußerlichkeit tritt doch der immanente Zweck zutage, so daß schließlich auch sie die Weihe der Substanz erhält: "Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft ist der Staat einerseits eine äußerliche Notwendigkeit [....], anderseits ist er ihr immanenter Zweck...." (RPh, Paragraph 261). Daß dieser immanente Zweck sich in der Empirie des gesellschaftlichen Daseins verwirkliche, ist Voraussetzung dafür, daß dem Staate Wirklichkeit zukomme d. h., daß er, obgleich er eigentlich schon durch seinen Begriff die Inkarnation der Substanz ist, erst einmal durch die Beziehung auf die Empirie die substantielle Weihe bekomme. Immer wieder die gleiche Antinomie!

*II.23
RPh, Paragraph 207, Zusatz.

*II.24
RPh, Paragraph 182.

*II.25
RPh, Paragraph 187.

*II.26
Unsere Darstellung der Antinomie der Hegelschen Staatsphilosophie weicht im wesentlichen von der Marxschen Darstellung in Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MEGA I) ab. Dagegen stimmen die Ergebnisse unserer Kritik an den antinomischen Kategorien der Staatslehre mit den Marxschen überein. S. darüber Kap. III.

*II.27
Diesen Standort der junghegelianischen Kritik kennzeichnet vielleicht am anschaulichsten der Gedankengang von Marx: "Wichtig ist, daß Hegel überall die Idee zum Subjekt macht und das eigentliche, wirkliche Subjekt, wie die ´politische Gesinnung´ zum Prädikat. Die Entwicklung geht aber immer auf Seite des Prädikate vor." (MEGA, S. 410.) Ebenso: "Wäre von dem wirklichen Geist ausgegangen worden, so war der ´allgemeine Zweck´ sein Inhalt, die verschiedenen Gewalten seine Weise, sich zu verwirklichen, sein reelles oder materielles Dasein, deren Bestimmtheit eben aus der Natur seines Zweckes zu entwickeln gewesen wäre. Weil aber von der ´Idee´ oder der ´Substanz´ als dem Subjekt, dem wirklichen Wesen ausgegangen wird, so erscheint das wirkliche Subjekt nur als letztes Prädikat des abstrakten Prädikats" (MEGA, S. 418). - Auszeichnungen in dem ersten Zitat von mir, in dem zweiten Zitat von Marx.

*II.28
Ein historischer Abriß der Entwicklung des Junghegelianertums kann in diesem Zusammenhang mit Rücksicht auf den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht gegeben werden. Meine Beurteilung der historischen Funktion der junghegelschen Schule und ihrer Bedeutung für das Werden der materialistischen Geschichtsauffassung deckt sich mit den Ergebnissen der mir im Manuskript vorliegenden Arbeit von Maximilian Lange, Die Geschichtsphilosophie des jungen Marx. Teil I (1840 - 1844), der ich wesentliche Anregungen verdanke. Ebenso konnten von mir auch einige vorläufige Ergebnisse einer historischen Spezialuntersuchung desselben Verfassers über die Ideologie des deutschen Bürgertums der 40er Jahre, die sich in Vorbereitung befindet, verwertet werden.



*III.1
PhG, S. 77.

*III.2
RPh, Paragraph 258.

*III.3
Ebenda.

*III.4
RPh, Paragraph 260, Zusatz.

*III.5
Karl Marx - Friedrich Engels. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Werke/Schriften/Briefe, im Auftrage des Marx-Engels-Instituts Moskau herausgeg. von D. Rjazanov (Im folgenden MEGA).

*III.6
RPh, Paragraph 261.

*III.7
MEGA, S. 404/5.

*III.8
RPh Paragraph 262.

*III.9
MEGA, S.405.

*III.10
MEGA, S. 406/7.

*III.11
MEGA, S. 407/8.

*III.12
MEGA, S. 408.

*III.13
MEGA, S. 411.

*III.14
MEGA, S. 414.

*III.15
MEGA, S. 418.

*III.16
MEGA, S. 432. - Auszeichnungen von mir.

*III.17
RPh, Paragraph 297. - Auszeichnungen von mir.

*III.18
MEGA, S. 454 ff.

*III.19
MEGA, S. 457.

*III.20
MEGA, S. 457/8.

*III.21
MEGA, S. 434/5.

*III.22
MEGA, S. 435. - Die Fortführung und Weiterbildung dieser Marxschen Begriffsbestimmungen der politischen (formalen) und materiellen (sozialen) Demokratie bei Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus (Marx-Studien, Bd. IV, 2) und Politische oder soziale Demokratie?

*III.23
MEGA, S. 436.

*III.24
Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 11. Aufl. (im folgenden Anti-Dührung), S. 302.

*III.25
MEGA, S. 466/7.

*III.26
MEGA, S.467.

*III.27
MEGA, S. 468. - Auszeichnungen von mir.

*III.28
Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, ed. Pfemfert, im folgenden Bürgerkrieg, S. 54.

*III.29
MEGA, S. 446.

*III.30
MEGA, S. 599.

*III.31
MEGA, S.496.

*III.32
MEGA, S. 519.

*III.33
MEGA, S. 521.

*III.34
MEGA, S. 528.

*III.35
MEGA, S. 530.

*III.36
Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, 9. Aufl., im folgenden Zur Kritik, S. LV. - Siehe auch Das Kapital, Bd. III, 1: "Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehen, beruht darauf, daß diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als Äußerungen ihres gemeinsamen Willens und als der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht."



*IV.1
Das wichtigste Fragment dieser Schrift, die Auseinandersetzung mit Feuerbach, wurde erstmalig veröffentlicht im Marx-Engels-Archiv, Zeitschrift des Marx-Engels-Instituts in Moskau, herausgegeben von D. Rjazanov, Bd. I, im folgenden mit MEA I angegeben.

*IV.2
MEA I, S. 237.

*IV.3
MEA I, S. 237/8.

*IV.4
MEA I, S. 238.

*IV.5
Aus der im Text wiedergegebenen Formulierung geht deutlich hervor, was die materialistische Geschichtsauffassung unter dem Primat des materiellen Produktionsprozesses in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft versteht. Daraus geht auch hervor, daß der Vorwurf, die materialistische Geschichtsauffassung huldige einem spekulativen Materialismus, einer Vulgarisierung naturwissenschaftlich-biologischer Erkenntnisse etwa in dem Sinne des "Der Mensch ist, was er ißt", an dem Wesen der soziologischen Methode der materialistischen Geschichtsauffassung vorbeigeht. Das ergibt sich schon deutlich genug aus der im Text wiedergegebenen Definition, die darauf ausgeht, zu betonen, daß das gesellschaftliche Erfahrungsmaterial, das die Menschen in Gestalt bestimmter "vorgefundener materieller Lebensbedingungen" vom ersten Augenblick ihres bewußten Daseins an in der alltäglichen Praxis sehen, in ihrem Bewußtsein zum primären bewußtseinserfüllenden Inhalt, zum "Unterbau" (auch in ihrem Bewußtsein!) wird. Zugleich ist dieses gesellschaftliche Erfahrungsmaterial, das die Menschen vorfinden, auch jenes, das ihre bewußtseinsmäßige Vergesellschaftung vermittelt. Mit Recht sagt daher Max Adler in seiner Abhandlung Der soziale Sinn der Lehre von Karl Marx: "[...] in dem ja die wirtschaftlichen Verhältnisse nichts weiter sind als menschliche Verhältnisse, also Beziehungen von Mensch zu Mensch, ordnen sie gleichzeitig durch Ihren einfachen Bestand die Menschen in gleichartige Gruppen je nach der verschiedenen Gleichartigkeit dieser Interessen. Das heißt, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die abstrakt gedacht nichts weiter sind als ein anderer Ausdruck für die Tatsache der Vergesellschaftung der Menschen, für seine notwendige Bezogenheit auf und Abhängigkeit von Zusammensein und Zusammenwirken mit Nebenmenschen, um entstehen, bestehen und sich entfalten zu können, sie sind nach ihrer konkreten historischen Gestaltung betrachtet sofort Organisierungs- und Differenzierungsprinzipien ihrer Vergesellschaftung. Sie vereinigen notwendig alle gleichartig Interessierten in eine Gruppe und trennen ebenso notwendig diese von jeder gegensätzlich interessierten Gruppe. Und da die Differenzierung der menschlichen Lebensverhältnisse in gegensätzliche unvermeidlich sein mußte bei der im Anfange der Kulturentwicklung notgedrungenen Abschließung einheitlich interessierter Menschengruppen gegen andere, die zwischen ihnen kaum ein anderes Verhältnis als das der feindlichen Spannung aufkommen ließ, so gewinnt die Vergesellschaftung der Menschen von vornherein einen zwieschlächtigen, antagonistischen Charakter." (Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, IV. S. 22.)
- Durchaus in dem gleichen Sinne schrieb Marx in einem Briefe vom 18. 12. 1847 an Annenkov: "Es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß die Menschen nicht frei ihre Produktivkräfte... welche die Grundlage ihrer ganzen Geschichte sind - wählen, denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also das Resultat angewandter menschlicher Energie, aber diese Energie selbst ist bedingt durch die Verhältnisse in denen sich die Menschen befinden, durch die schon erworbenen Produktivkräfte, durch die soziale Form, die vor ihnen existiert, die sie sich schaffen, die das Erzeugnis der vorhergehenden Generation ist. Durch diese einfache Tatsache, daß jede folgende Generation die von der früheren erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial zu neuer Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der menschlichen Geschichte, bildet sich eine Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, als die Produktivkräfte der Menschen und damit auch ihre sozialen Beziehungen gewachsen sind. Daraus folgt notwendig: die soziale Geschichte der Menschen ist immer nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Ihre materiellen Beziehungen sind die Grundlage aller ihrer Beziehungen. Diese materiellen Beziehungen sind nur die notwendigen Formen, in denen ihre materielle und individuelle Tätigkeit sich verwirklicht." (Die Neue Zeit, herausgegeben von Kautsky, im folgenden NZ, XXI, 1, S. 824.)
- Hieraus erhellt, daß die Produktivkräfte der Natur nur als gesellschaftliche Produktivkräfte in dem Maße, wie sie von der Gesellschaft angeeignet worden sind, einen geschichtlich und sozial relevanten Faktor darstellen. Daß die Natur für die materialistische Geschichtsauffassung gegenüber der Sphäre des Gesellschaftlichen keinerlei Primat beanspruchen kann, ist auch aus Engels nachgelassenem Manuskript Dialektik und Natur (Marx-Engels-Archiv, Bd. II, S. 117 - 396) zu ersehen.
- Die Bedeutung des Faktors Natur in der gesellschaftlichen Entwicklung wird von Marx im I. Band des Kapital folgendermaßen umschrieben: "Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d. h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? [...] Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen." (Volksausgabe, S. 317 Note.)

*IV.6
Näheres über die Gliederung und den Funktionszusammenhang der einzelnen Kategorien im gesellschaftlichen Unterbau, wie ihn die materialistische Geschichtsauffassung begreift, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgeführt werden. Die im Text gegebene skizzenhafte Darstellung wurde näher ausgearbeitet in zwei Referaten, die von Kurt Laumann im Institut für Soziologie an der Universität Leipzig gehalten worden sind; die gleichen Probleme sind auch der Gegenstand einer in Vorbereitung begriffenen größeren Arbeit von Laumann, von der ich wesentliche Teile im Manuskript benutzen konnte.

*IV.7
"Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Somit sind diese Ideen, diese Kategorien ebensowenig ewig, als die Verhältnisse, die sie ausdrücken. Sie sind historische, vergängliche, vorübergehende Produkte. Wir leben inmitten einer beständigen Bewegung des Anwachsen, der Produktivkräfte, der Zerstörung sozialer Verhältnisse, der Bildung von Ideen; unbeweglich ist nur die Abstraktion von der Bewegung - mors immortalis." (Marx, Das Elend der Philosophie, 8. Aufl. S. 91.)

*IV.8
"In der Produktion beziehen sich die Menschen nicht allein auf die Natur. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Beziehung zur Natur, findet die Produktion statt. Je nach dem Charakter der Produktionsmittel werden natürlich diese gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Produzenten zueinander treten, die Bedingungen, unter welchen sie ihre Tätigkeiten austauschen und an dem Gesamtakt der Produktion teilnehmen, verschieden sein. [...] Die gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Individuen produzieren, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ändern sich also, verwandeln sich mit der Veränderung und Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, der Produktionskräfte. Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe, eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter." (Marx, Lohnarbeit und Kapital, ed. Kautsky, S. 25.)

*IV.9
MEA I, S. 238/9. - Auszeichnungen von mir.

*IV.10
"Um den Zusammenhang zwischen der geistigen Produktion und der materiellen zu betrachten, ist vor allem nötig, die letztere selbst nicht als allgemeine Kategorie, sondern in bestimmter historischer Form zu fassen. Also z. B. der kapitalistischen Produktionsweise entspricht eine andere Art der geistigen Produktion als der mittelalterlichen Produktionsweise. Wird die materielle Produktion selbst nicht in ihrer spezifischen historischen Form gefaßt, so ist es unmöglich, das Bestimmte an der ihr entsprechenden geistigen Produktion und die Wechselwirkung beider aufzufassen. [...] Ferner: aus der bestimmten Form der materiellen Produktion gibt sich erstens eine bestimmte Gliederung der Gesellschaft, zweitens ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Natur. Ihr Staatswesen und ihre geistige Anschauung ist durch beides bestimmt." (Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 381.)

*IV.11
An dieser Auffassung ändert auch die Kritik von Karl Kautsky (Die materialistische Geschichtsauffassung) nichts Wesentliches. Näheres darüber siehe im Text weiter unten.

*IV.12
MEA I, S. 250/51. - Die Feststellung, daß das gemeinschaftliche Interesse "zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist", gegeben ist, deckt sich vollauf mit jener Interpretation, die wir in Anm. 5 gaben.

*IV.13
"Die Naturnotwendigkeit [...] . die menschlichen Wesenseigenschaften, so entfremdet sie auch erscheinen mögen, das Interesse, halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band. Nicht also der Staat hält die Atome der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, sondern dies, daß sie Atome nur in der Vorstellung sind, im Himmel ihrer Einbildung - in der Wirklichkeit aber gewaltig von den Atomen unterschiedene Wesen, nämlich keine göttlichen Egoisten, sondern egoistische Menschen. Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird." (Marx, Die Heilige Familie in Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich. Engels, 1841 bis 1850, herausgeg. von Franz Mehring, im folgenden LN, Bd. II, S. 227.)

*IV.14
Vgl. hierzu MEGA, S. 617: "Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der ganzen Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren."
- Max Adler hat dieses Moment sehr treffend zusammengefaßt, wenn er sagt: "Staat und Gesellschaft sind eine untrennbare Einheit, indem unter gewissen historischen Bedingungen, nämlich nach Herausbildung der ökonomischen Klassengegensätze, der Staat diejenige soziale Bewußtseinsform ist, in welcher die Vergesellschaftung auftritt und ausgestaltet wird. Der Schein des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft erklärt sich daraus, daß diese historische Form, wonach sich stets bestimmte Sonderinteressen, sobald sie herrschend geworden sind, als Allgemeininteressen, als Staatsinteressen geltend machen, für die Wesensform des sozialen Lebens selbst genommen wird, so daß der ´Staat´ als eine ebensolche Urform des menschlichen Lebens erscheint, wie die ´Gesellschaft´." (Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 61.)

*IV.15
"Im Staate stellt sich uns die erste ideologische Macht über den Menschen dar. Die Gesellschaft schafft sich ein Organ zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber inneren und äußeren Angriffen. Dies Organ ist die Staatsgewalt. Kaum entstanden, verselbständigt sich dieses Organ gegenüber der Gesellschaft, und zwar um so mehr, je mehr es Organ einer bestimmten Klasse wird, die Herrschaft dieser Klasse direkt zur Geltung bringt. Der Kampf der unterdrückten gegen die herrschende Klasse wird notwendig ein politischer, ein Kampf zunächst gegen die politische Herrschaft dieser Klasse; das Bewußtsein des Zusammenhanges dieses politischen Kampfes mit seiner ökonomischen Unterlage wird dumpfer und kann ganz verloren gehen [...] Der Staat aber, einmal eine selbständige Macht geworden gegenüber der Gesellschaft, erzeugt alsbald eine weitere Ideologie. Bei den Politikern von Profession, bei den Theoretikern des Staatsrechts und den Juristen des Privatrechts nämlich geht der Zusammenhang mit den ökonomischen Tatsachen erst recht verloren." Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie, (ed. Duncker, S. 62/63.)

*IV.16
MEA I, S. 267. - Auszeichnungen von mir.

*IV.17
MEA I, S. 299.

*IV.18
MEA I, S. 257. - s. hierzu auch LN II, S. 51/52: "Den Widerspruch zwischen der Bestimmung und dem guten Willen der Administration einerseits, und ihren Mitteln wie ihrem Vermögen anderseits, kann der Staat nicht aufheben, ohne sich selbst aufzuheben, denn er beruht auf diesem Widerspruch. Er beruht auf dem Widerspruch zwischen dem öffentlichen und dem Privatleben, auf dem Widerspruch zwischen den allgemeinen Interessen und den Sonderinteressen. Die Administration muß sich daher auf eine formelle und negative Tätigkeit beschränken, denn wo das bürgerliche Leben und seine Arbeit beginnt, eben da hat ihre Macht aufgehört. Ja, gegenüber den Konsequenzen, welche aus der unsozialen Natur dieses bürgerlichen Lebens [...] entspringen, [...] ist die Ohnmacht das Naturgesetz der Administration. Denn diese Zerrissenheit, diese Niedertracht, dies Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist das Naturfundament, worauf der moderne Staat ruht, wie die bürgerliche Gesellschaft des Sklaventums das Naturfundament war, worauf der antike Staat ruhte. Die Existenz des Staates und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich. [...] Wollte der moderne Staat die Ohnmacht seiner Administration aufheben, so müßte er das jetzige Privatleben aufheben. Wollte er das Privatleben aufheben, so müßte er sich selbst aufheben, denn er existiert nur im Gegensatz zu demselben. [...] Je mächtiger der Staat, je politischer daher ein Land ist, um so weniger ist es geneigt, im Prinzip des Staates, also in der jetzigen Einrichtung der Gesellschaft, deren tätiger, selbstbewußter und offizieller Ausdruck der Staat ist, den Grund der sozialen Gebrechen zu suchen und ihr allgemeines Prinzip zu begreifen." (Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel: Der König von Preußen und die Sozialreform.)
Ebenso heißt es im Elend der Philosophie (S. 163), daß "die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatz innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist". Ähnlich schreibt Marx in dem bereits zitierten Briefe an Annenkov: "Was ist die Gesellschaft, wie immer auch ihre Form sein mag? Das Produkt der wechselseitigen Aktionen der Menschen. Sind die Menschen frei, sich diese oder jene soziale Form zu wählen? Keineswegs. Unterstellen Sie einen bestimmten Stand der Entwicklung der Produktivkräfte der Menschen, und Sie werden eine bestimmte Form des Verkehrs und der Konsumtion haben. Unterstellen Sie eine bestimmte Entwicklungsstufe der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion, und Sie werden eine bestimmte soziale Ordnung, eine bestimmte Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen haben, mit einem Wort eine bestimmte bürgerliche Gesellschaft. Setzen Sie eine bestimmte bürgerliche Gesellschaft voraus, und Sie werden bestimmte politische Verhältnise haben, die nur der offizielle Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft sind. Das wird Herr Proudhon niemals verstehen, denn er glaubt, Großes zu leisten, wenn er vom Staat an die Gesellschaft appelliert, d.h. von der offiziellen Zusammenfassung der Gesellschaft an die offizielle Gesellschaft." NZ XXI, 1, S. 823/4.)

*IV.19
MEA I, S. 286. - Auszeichnungen von mir.

*IV.20
MEA I, S. 288/9. - Auszeichnungen von mir.

*IV.21
Anti-Dühring, S. 187/8. - Auszeichnungen von mir.

*IV.22
Ebenda, S. 302.

*IV.23
Vgl. Engels, Der Ursprung der Familie, und des Privateigentums und des Staates, 21. Aufl., S. 111, 130/31, 175 - 177.

*IV.24
Der Ursprung, S. 177 - 180. - Eine ähnliche Formulierung finden wir auch schon wesentlich früher bei Marx: "Der bürgerliche Staat ist weiter nichts als eine wechselseitige Assekuranz der Bourgeoisklasse gegen ihre einzelnen Mitglieder, wie gegen die exploitierte Klasse, eine Assekuranz, die immer kostspieliger und scheinbar immer selbständiger gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft werden muß, weil die Niederhaltung der exploitierten Klasse immer schwieriger wird." (LN III, S. 439.)
Nehmen wir die Frühzeit des geistigen Werdeganges von Marx und Engels oder ihre Spätperiode - es ist überall der gleiche Standpunkt, der schon im Kommunistischen Manifest die Formulierung erhalten hat: "Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." (7. Aufl. S. 38.)

*IV.25
Engels im Anti-Dühring, S. 303: "Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der früheren geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen. Neben dieser, ausschließlich der Arbeit frönenden großen Mehrheit bildet sich eine von direktproduktiver Arbeit befreite Klasse, die die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Arbeitsteilung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaft, Künste usw. Das Gesetz der Arbeitsteilung ist es also, was der Klassenteilung zugrunde liegt."
Der Spezialfall der Entstehung der Klassengegensätze im Kapitalismus wird von Engels einmal an anderer Stelle geschildert: "Wie aber waren diese Klassen entstanden? Konnte man auf den ersten Blick dem großen, ehemals feudalen Grundbesitz noch einen Ursprung aus - wenigstens zunächst - politischen Ursachen, aus gewaltsamer Besitzergreifung zuschreiben, so ging das bei der Bourgeoisie und dem Proletariat nicht mehr an. Hier lag der Ursprung und die Entwicklung zweier großer Klassen aus rein ökonomischen Ursachen klar und handgreiflich zutage. Und ebenso klar war es, daß in dem Kampfe zwischen Grundbesitz und Bourgeoisie, nicht minder als in dem zwischen Bourgeoisie und Proletariat, es sich in erster Linie um ökonomische Interessen handelte, zu deren Durchführung die politische Macht als bloßes Mittel dienen sollte. Bourgeoisie und Proletariat waren beide entstanden infolge einer Veränderung der ökonomischen Verhältnisse, genauer gesprochen der Produktionsweise." (Ludwig Feuerbach, S. 59.)

*IV.26
Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, S. 67 - 74.

*IV.27
Kautsky, a.a.0., II, S. 81 - 151.

*IV.28
Kautsky, a. a. 0., II, S. 213 ff., 225 ff.

*IV.29
Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, ed. Paul Levi, S. 152 - 159.

*IV.30
Die nähere Begriffsbestimmung der Merkmale der Klasse im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung ist vornehmlich von Kurt Laumann (s. Anm. 6) durchgeführt worden. Die Definition des Klassenbegriffes, von der dort ausgegangen wird, lautet: "Unter einer Klasse verstehen wir jene durch die Gemeinsamkeit ihrer Interessen gekennzeichnete Menschengruppe, die zuletzt durch ihre gleiche Stellung in der gesellschaftlichen Produktion bedingt ist. Das Kriterium für diese gleiche Stellung ist der Besitz oder Nichtbesitz der Produktionsmittel; bei den Besitzern der Produktionsmittel kommt es zur Klassenscheidung, insoweit die von ihnen in die Produktion umgesetzten Produktionsmittel in ihrer ökonomischen Organisierung eine von dem gesellschaftlichen Stand der Produktivkräfte abweichende Produktionsweise zur Bedingung hätten."

*IV.31
"Schon die Eroberung und die Notwendigkeit, die Ausbeutung als ständige Einrichtung zu festigen, führt zur starken Ausbildung des Kriegswesens, was wir sowohl im Inkastaat wie in den spartanischen Staaten sehen. Damit ist die erste Grundlage zur Ungleichheit, zur Ausbildung bevorrechteter Stände im Schoße der ursprünglichen gleichen und freien Bauernmasse gelegt. Es bedarf dann nur günstiger geographisch-kultuhistorischer Umstände, die durch den Zusammenstoß mit höher gebildeten Völkern verfeinerte Lebensbedürfnisse und lebhaften Austausch wecken, damit die Ungleichheit auch innerhalb der Herrschenden rasche Fortschritte macht, den kommunistischen Zusammenhalt schwächt, dem Privateigentum mit seiner Spaltung in Reiche und Arme Platz macht. [...] So ist das Ergebnis der Unterwerfung einer urkommunistischen Gesellschaft durch eine andere, ob früher oder später, stets dasselbe: die Sprengung der kommunistischen traditionellen Gesellschaftsbande bei den Herrschern wie bei den Beherrschten und die Geburt einer ganz neuen Gesellschaftsformation, in der das Privateigentum mit der Ungleichheit und Ausbeutung einander gegenseitig erzeugend zugleich auf die Welt kommt." (Luxemburg, a. a. 0., S. 158.)

*IV.32
Zur Kritik, Vorwort, S. LV. - s. auch Marx, Das Kapital, III, 2, S. 420/21: "Soweit der Arbeitsprozeß nur ein bloßer Prozeß zwischen Mensch und Natur ist, bleiben seine einfachen Elemente allen gesellschaftlichen Entwicklungsformen desselben gemein. Aber jede bestimmte historische Form dieses Prozesses entwickelt weiter die materiellen Grundlagen und gesellschaftlichen Formen desselben. Auf einer gewissen Stufe der Reife angelangt, wird die bestimmte historische Form abgestreift und macht einer höheren Platz. Daß der Moment einer solchen Krise gekommen, zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen den Verteilungsverhältnissen, daher auch der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits, und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agenten anderseits, Breite und Tiefe gewinnt. Es tritt dann ein Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form ein."



*V.1
Zur Kritik, Einleitung, S. XLII.

*V.2
Zur Kritik, Einleitung, S. XLIII.

*V.3
MEA I, S. 265.

*V.4
Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, im folgenden überall Brumaire, S. 5/6. - Im Anschluß an diese Unterscheidung stellt Fritz Sternberg (Der Imperialismus S. 308) fest: "Die Geschichte aller Wirtschaftsepochen bis zum Kapitalismus ist kein Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, ist kein Kampf um die Herrenrente, geführt von ihren Nutznießern gegenüber denen, die sie erarbeiten, sondern es ist ein Kampf der herrschenden Schichten untereinander um die Verteilung der Rente. In Rom wie in Griechenland wurde die Geschichte nicht bestimmt durch die Kämpfe mit den Sklaven, die die Sklaverei aufheben wollten; wenn einmal ein Sklavenaufstand ausbrach, dann, weil die Unterdrückung zu maßlose Formen angenommen hatte. Sondern die Signatur der Zeit ist bestimmt durch die Kämpfe der herrschenden Klassen untereinander. Zum Beispiel durch die Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern. Unter beiden standen die Sklaven." Und er folgert daraus, daß "diese Selbstverständlichkeit der Herrenrente Raum ließ für Ideologien, für Kämpfe um Ideologien" (S. 309). Sollte hieraus eine Unmöglichkeit der sozialen Determinierung der Ideologie in der vorkapitalistischen Gesellschaft abgeleitet werden, so wäre das kein Beweis gegen die materialistische Geschichtsauffassung, sondern nur dafür, daß Sternberg in die näheren Begriffsbestimmungen ihres Klassenbegriffs nicht eingedrungen ist.

*V.5
Marx, Theorien über den Mehrwert, II, 1, S. 292 ff.

*V.5a
Ebenda.

*V.6
Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, S. 62.

*V.7
Siehe das unter dem Titel Der heilige Max von Eduard Bernstein herausgegebene Fragment aus der Deutschen Ideologie, in: Documente des Sozialismus, herausgeg. von Bernstein, III, S. 171. - Vgl. ebenda: "Der Zustand Deutschlands am Ende des vorigen Jahrhunderts spiegelt sich vollständig ab in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Während die französische Bourgeoisie sich durch die kolossalste Revolution, die die Geschichte kennt, zur Herrschaft aufschwang und den europäischen Kontinent eroberte, während die bereits politisch emanzipierte englische Bourgeoisie die Industrie revolutionierte [...] brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum ´guten Willen´. [...] Der Ackerbau wurde auf eine Weise betrieben, die weder Parzellierung noch große Kultur war, und die trotz der fortdauernden Hörigkeit und Fronlasten die Bauern nie zur Emanzipation forttrieb, sowohl weil diese Art des Betriebes selbst keine aktiv revolutionäre Klasse aufkommen ließ, als auch weil ihr die einer solchen Bauernklasse entsprechende Bourgeoisie nicht zur Seite stand." (S. 170/171.)

*V.8
Kommunistisches Manifest, S. 23.

*V.9
Lukács, a. a.0., S. 70/71.

*V.10
"Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft." (Das Kapital, III, 2, S. 421.)

*V.11
Das Kapital, III, 2, S. 421.

*V.12
Das Kapital, III, 1, S. 188. - Vgl. hierzu auch Das Kapital, III, 1, S. 297: "Wenn [...] die Analyse der wirklichen, inneren Zusammenhänge des kapitalistischen Produktionsprozesses ein sehr verwickeltes Ding und eine sehr ausführliche Arbeit ist; wenn es ein Werk der Wissenschaft ist, die sichtbare, bloß erscheinende Bewegung auf die innere wirkliche Bewegung zu reduzieren, so versteht es sich ganz von selbst, daß in den Köpfen der kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsagenten sich Vorstellungen über die Produktionsgesetze bilden müssen, die von diesen Gesetzen ganz abweichen, und nur der bewußte Ausdruck der scheinbaren Bewegung sind. Die Vorstellungen eines Kaufmanns, Börsenspekulanten, Bankiers sind notwendig ganz verkehrt." - Ebenso auch Bd. III, 2, S. 352.

*V.13
MEA I, S. 251. - Auszeichnungen von mir.

*V.14
Das Kapital, Bd. I (Volksausg.), S. 36. (Auszeichnungen von mir.)- Vgl. auch ebenda S. 42/43: "In der altasiatischen, antiken usw. Produktionsweise spielt die Verwandlung des Produkts in Ware, und daher das Dasein der Menschen als Warenproduzenten eine untergeordnete Rolle, die jedoch um so bedeutender wird, je mehr die Gemeinwesen in das Stadium ihres Unterganges treten. [...] Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganismen sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhänge mit anderen noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen. Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei Vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind." - Siehe auch Bd. III, 2, S. 362.

*V.15
Das Elend der Philosophie, S. 162. (Auszeichnungen von mir.) - Siehe auch Marx‘ Brief an Bolte vom 23. 11. 1871: "Das political movement (die politische Bewegung) der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Eroberung der political power (politischen Macht) für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem gewissen Punkt entwickelte previous organisation der working class (vorher vorhandene Organisation der Arbeiterklasse) nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst. Anderseits ist aber jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch pressure from without (Druck von außen) zu zwingen sucht, ein political movement. Zum Beispiel der Versuch, sich in einer einzelnen Fabrik oder auch in einem einzelnen Gewerk, durch Streiks usw., von den einzelnen Kapitalisten eine Beschränkung der Arbeitszeit zu erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung; dagegen die Bewegung, ein Achtstunden- usw. Gesetz zu erzwingen, ist eine politische Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomischen Bewegungen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, d. h. eine Bewegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form, in einer Form, die allgemeine gesellschaftlich zwingende Kraft besitzt. Wenn diese Bewegungen eine gewisse previous Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebensosehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation." (Briefe und Auszüge aus Briefen von J. Ph. Becker, Josef Dietzgen, Engels, Marx und anderen an F. A. Sorge und andere, S.42.)

*V.16
Das E1end der Philosophie, S. 163.

*V.17
Zur Kritik, S. LV.

*V.18
Das Kapital I, S. 516, Note. - Das gilt für den ganzen Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie. So heißt es im 1. Teil des III. Bandes im Abschnitt über Wertsteigerung und Entwertung des Kapitals, also an einer für die Analyse des Reproduktionsprozesses entscheidenden Stelle: "Die Phänomene, die wir in diesem Kapitel untersuchen, setzen zu ihrer vollen Entfaltung das Kreditwesen und die Konkurrenz auf dem Weltmarkt voraus, der überhaupt die Basis und die Lebensatmosphäre der kapitalistischen Produktionsweise bildet. Diese konkreteren Formen der kapitalistischen Produktion können aber nur umfassend dargestellt werden, nachdem die allgemeine Natur des Kapitals begriffen ist." (III. 1, S. 86.) Ebenso an anderer Stelle: " [...] in der Theorie wird vorausgesetzt, daß die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln. In der Wirklichkeit besteht immer nur Annäherung; aber diese Annäherung ist um so größer, je mehr die kapitalistische Produktionsweise entwickelt und je mehr ihre Verunreinigung und Verquickung mit Resten früherer ökonomischer Zustände beseitigt ist." (III, 1. S. 154.) - In konkretisierter Gestalt erscheint dann diese methodische Prämisse in folgender Formulierung: "Außer dieser Klasse [der Kapitalistenklasse, - A. 0.] gibt es nach unserer Unterstellung - allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion - überhaupt keine andere Klasse als die Arbeiterklasse." (II, cd. Meißner, S. 321.)

*V.19
Das Kapital, I, S. 690/91. - Auszeichnungen von mir.

*V.20
Das Kapital, III, 1, S. 225/6. - Auszeichnungen von mir.

*V.21
Ebenda, S. 231/2.

*V.22
Das Kapital, Bd. II, insbes. Zwanzigstes und Einundzwanzigstes Kapitel.

*V.23
Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals (VI. Band der gesammelten Werke, Viva Verlag).

*V.24
Fritz Sternberg Der Imperialismus, insbes. Teil 1. Kap. 6: "Die ökonomische Krise im Imperialismus".

*V.25
Alfred Braunthal (Die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft, 1927) hält diese zweite Voraussetzung - verschiedene Akkumulationsrate in den beiden Abteilungen der Produktion - für möglich: "Was Sternberg für unmöglich hält - daß die Konsumgütersphäre weniger akkumuliert, also sich in langsamerem Tempo entwickelt und wächst als die Produktionsmittelsphäre -, das ist in Wirklichkeit nicht nur möglich, sondern unbestreitbare historische Wirklichkeit.." (S.22.) - Braunthal übersieht, daß, wenn es Tatsache ist, daß die Konsummittelsphäre weniger Mehrwert in den Produktionsprozeß eingehen läßt und die für den Verzehr der Kapitalisten bestimmten Profite wachsen, sich die Konsequenz einstellen müßte, daß Kapitalien aus der Produktionsmittelerzeugung in die Konsumtionsmittelerzeugung fließen, hier eine Erweiterung der Produktion, d. h. eine Mehrakkumulation herbeiführen und mit erweiterter Produktion die Warenpreise und damit die Profite senken, den Zwang zur Akkumulation verstärken. Wenn das nicht eingetreten ist, so eben nur deshalb, weil die Senkung der Profite in der Konsumtionsmittelindustrie immer wieder verhindert wurde durch die Surplusprofite, die ihr aus dem Vorbruch in den außerkapitalistischen Raum, d.h. aus der Erweiterung des äußeren Feldes der kapitalistischen Produktion zuflossen.

*V.26
Anton Pannekoek, "Theoretisches zur Ursache der Krisen" (NZ XXXI. 1): Otto Bauer, "Die Akkumulation des Kapitals". (ebenda). - Karl Kautsky meint nun in seinem Werk über Die materialistische Geschichtauffassung (s. auch Kautsky. "Finanzkapital und Krisen", NZIX. 1), daß die reine Krisengesetzlichkeit der kapitalistischen Produktion mit der zunehmenden Häufung und Verdichtung von Krisen nur solange in Kraft sei, als "die landwirtschaftliche Produktion sich nicht so rasch ausdehnen kann, wie die industrielle, also immer wieder von dieser überflügelt wird" (II, S. 550). Diese Krisengesetzlichkeit könne durch Einbeziehung der Landwirtschaft in den kapitalistischen Nexus gemildert werden: "Akkumulation von Kapital, das aus der Industrie stammt, braucht [...] keineswegs Vergrößerung der Industrie, sie kann auch Ausdehnung oder Intensivierung der Landwirtschaft bedeuten. Sie würde das um so mehr bedeuten, wenn einmal der Zeitpunkt kommen sollte, indem wegen industrieller Überproduktion dauernd die industriellen Profite sinken und in der Landwirtschaft nicht nur die Grundrente, sondern auch die Profite steigen". (II, S. 556). Die Akkumulationsschwierigkeiten würden also für die Industrie durch den Abfluß von Kapital in die landwirtschaftliche Produktion behoben werden. Aber diese Landwirtschaft ist, wie Kautsky selbst ausführlich darlegt (II, S. 551), eine nichtkapitalistische Produktionssphäre, und sie bleibt ein möglicher Anlagemarkt nur solange, als sie das ist. Mit der fortschreitenden Durchkapitalisierung der Landwirtschaft würde also die Krisengesetzlichkeit des Kapitalismus wiederum in Reinkultur in Kraft treten. - N. Bucharin, der Lenins mißglückte Theorie des Imperialismus (Lenin, Der Imperialismus, als jüngste Etappe des Kapitalismus) wissenschaftlich zu unterbauen versucht (Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals), flüchtet in seinem Bemühen, die Möglichkeit einer schrankenlosen Akkumulation nachzuweisen, aus der Arithmetik der Marxschen Schemata in die Algebra und entzieht sich somit der Notwendigkeit, die ökonomischen Voraussetzungen des in den Schemata postulierten Produktionsgleichgewichtes näher zu untersuchen.

*V.27
Das Kapital, II, S. 472. - Siehe hierzu auch Bd. III, 1, S. 239 ff.: "Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und eine Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinaustreibt. ... .] Wird gesagt, daß nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiedenen Produktionszweige stattfindet, so heißt dies weiter nichts, als daß innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozeß aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nicht als von Ihrem assoziierten Verstand begriffen und damit beherrschte, Gesetz den Produktionsprozeß ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat. Es wird weiter damit verlangt, daß Länder, wo die kapitalistische Produktionsweise nicht entwickelt, in einem Grad konsumieren und produzieren sollen, wie er den Ländern der kapitalistischen Produktionsweise paßt. Wird gesagt, daß die Überproduktion nur relativ, so ist dies ganz richtig: aber die ganze kapitalistische Produktionsweise ist eben nur eine relative Produktionsweise, deren Schranken nicht absolut, aber für sie, auf ihrer Basis, absolut sind. [...] Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen, und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr. [...] Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann. ... .] Es wird nicht zuviel Reichtum produziert. Aber es wird periodisch zuviel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen produziert. Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor:
  1. darin, daß die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit im Fall der Profitrate ein Gesetz erzeugt, das ihrer eigenen Entwicklung auf einem gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt und daher beständig durch Krisen überwunden werden muß.
  2. darin, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit, und das Verhältnis dieser unbezahlten Arbeit zur vergegenständlichten Arbeit überhaupt oder, kapitalistisch ausgedrückt, daß der Profit und das Verhältnis dieses Profits zum angewandten Kapital, also eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu den Bedürfnissen gesellschaftlich entwickelter Menschen.
Es treten daher Schranken für sie ein schon auf einem Ausdehnungsgrad der Produktion, der umgekehrt unter der anderen Voraussetzung weitaus ungenügend erschiene. Sie kommt zum Stillstand, nicht wo die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern wo die Produktion und Realisierung von Profit diesen Stillstand gebietet."
- Das Buch von Henryk Großmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchgesetz des kapitalistischen Systems (zugleich eine Krisentheorie), Verlag von C. L. Hirschfeld, Leipzig, 1929, lag noch nicht vor, als diese Arbeit abgefaßt wurde. An einer anderen Stelle ("Absatz und Verwertung im Kapitalismus". In Der Klassenkampf, 1930, Heft 3) habe ich mich um den Nachweis bemüht, daß das Problem der Verwertung des Kapitals, in dem Großmann den Kernpunkt der Betrachtung des Krisen und Zusammenbruchsphänomens erblickt, nur gleichsam die Kehrseite des Problems der Mehrwertrealisierung darstellt. Auch in der oben wiedergegebenen Marxschen Darstellung werden Absatz und Verwertung als ineinandergreifende Momente eines dialektischen Prozesses behandelt.

*V.28
"Der Markt muß [...] beständig ausgedehnt werden, so daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußeren Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnissen beruhen ..." (Das Kapital, III, 1. S. 226.) - Bei der Analyse der Schwierigkeiten der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter schreibt Marx indem Abschnitt über den Ersatz des fixen Kapitals: "Der auswärtige Handel könnte in beiden Fällen aushelfen, im ersten Fall, um die in Geldform festgehaltende Ware I in Konsumtionsmittel umzusetzen, im zweiten Fall, um den Überschuß in Ware abzusetzen. Aber der auswärtige Handel, soweit er nicht bloß Elemente (auch dem Wert nach) ersetzt, verlegt nur die Widersprüche auf ausgedehntere Sphäre, eröffnet ihnen größeren Spielkreis." II, S. 444.)- "Ebenso ist die Ausdehnung des auswärtigen Handels, obgleich in der Kindheit der kapitalistischen Produktionsweise deren Basis, in ihrem Fortschritt, durch die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterem Markt, ihr eigenes Produkt geworden." III, 1, S. 218.) - Siehe auch Theorien über den Mehrwert, II, 2, S. 304/5, ferner das Zitat in Anm. 27.

*V.29
Kommunistisches Manifest, S.24.

*V.30
Dies ist wohl auch Sternbergs Deutung der Zusammenbruchsperspektive, wenn er etwa sagt: "Zu frühe Revolution ist korrigierbar. Zu späte kann jahrhundertelange Verschüttung bedeuten" (a. a. 0., S. 334; s. auch S. 300, 305 ff., 318, 327 ff., 348, 399).

*V.31
Das Elend der Philosophie, S. 163.

*V.32
S. unter anderem Das Kapital, I, S. 574/5: "Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohnes ausschließlich reguliert durch die Ausdehnung und Zusammenziehung der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen. Sie sind also nicht bestimmt durch die Bewegung der absoluten Anzahl der Arbeiterbevölkerung, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armee und Reservearmee zerfällt, durch die Zunahme und Abnahme des relativen Umfanges der Übervölkerung, durch den Grad, worin sie bald absorbiert, bald wieder freigesetzt wird. Für die moderne Industrie [...] wäre es in der Tat ein schönes Gesetz, welches die Nachfrage und Zufuhr von Arbeit nicht durch die Ausdehnung und Zusammenziehung des Kapitals, also nach seinen jedesmaligen Verwertungsbedürfnissen, regelte, so daß der Arbeitsmarkt bald relativ untervoll erscheint, weil das Kapital sich ausdehnt, bald wieder übervoll, weil es sich zusammenzieht, sondern umgekehrt die Bewegung des Kapitals von der absoluten Bewegung der Bevölkerungsmenge abhängig machte".

*V.33
Wie sehr das Hineinwachsen des Proletariats in eine gehobene Lebenslage mit dem Eindringen des Kapitalismus in den außerkapitalistischen Raum zusammenhängt und wie dieses Hineinwachsen sofort aufhört, sobald die Durchdringung des außerkapitalistischen Raumes auf eine Schranke stößt, sieht jetzt sogar der orthodoxe Leninismus, der sich gegenwärtig mit der Tatsache des Dahinschwindens der "Schonzeit" für die große Masse des Proletariats abfinden und zur Begründung der für seine Praxis unentbehrlichen These von der "Versumpfung" der Arbeiterklasse eine neue Theorie der Differentialprofite, die die "Korrumpierung" des Proletariats ermöglichen sollen, erfinden muß. (S. die Ausführungen Bucharins auf dem VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Internationale Pressekorrespondenz, 1928, S. 1713 - 1716.)

*V.34
LN II, S. 195. - Auszeichnungen von mir.

*V.35
Brief an Weydermeyer (1852), NZ XXV, 2, S. 164, - Auszeichnungen von mir.



*VI.1
Diese eine Ausnahme ist das im Jahre 1903 beschlossene Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands. Näheres darüber siehe bei G. V. Plechanov, Socinenija pod redakciej D. Rjazanova (Gesammelte Werke, herausgegeben von D. Rjazanov, russisch), Bd. XII.

*VI.2
Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, S. 20 ff.

*VI.3
Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, im folgenden mit Staatsauffassung angegeben. S. 203.

*VI.4
Protokoll des Linzer Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, S. 255 - 277.

*VI.5
In dem gleichen Sinne äußert sich auch Otto Jenssen, Der Kampf um die Staatsmacht. Was lehrt uns Linz?, S. 11: "Wir neigen dazu, den Begriff der Diktatur des Proletariats, wie ihn Marx 1875 auslegte, heute nicht für anwendbar zu halten. Uns scheint Klassenherrschaft des Proletariats zu genügen und eindeutiger zu sein. Das besagt aber keineswegs, daß man das friedliche Hineinwachsen in den Sozialismus für die einzig mögliche Form der Entwicklung hält..." Offensichtlich wird hier Diktatur aufgefaßt als eine "unfriedliche" Entwicklung zum Sozialismus. - Ähnlich auch Julius Martov, der unter Diktatur des Proletariats zunächst "eine Konzentrierung aller öffentlichen Macht in seinen Händen" versteht, dann aber ausführt: "Weil ihr Ziel die soziale Befreiung aller Ausgebeuteten und Bedrückten ist, ist die Klassendiktatur des Proletariats nur gegen die die Volkswirtschaft ausbeutenden und parasitären, jetzt ein Monopol auf die Produktionsmittel besitzenden Gesellschaftsgruppen gerichtet. Sie ist die durch den Staat organisierte Gewalt gegenüber dieser Minderheit, insoweit dieselbe der sozialen Revolution Widerstand zu leisten versucht .. " ("Über soziale Revolution, Demokratie, Diktatur", in Der Kampf, XX, 6 S. 239.)

*VI.6
Otto Bauer, Bolschewismus oder Sozialdemokratie?, S. 113/4.

*VI.7
Engels über den Programmentwurf des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie vom Jahre 1891, NZ. XX, 1, S. 11.

*VI.8
Protokoll des Linzer Parteitags usw., S. 286 - 292. - Auszeichnungen von mir.

*VI.9
Friedrich Adler, "Zum Streit über die Definition der Demokratie", in Der Kampf, XIX, S. 524.

*VI.10
Die entsprechenden Sätze des Linzer Programms lauten: "Die sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben. Die demokratischen Bürgschaften geben die Gewähr dafür, daß die sozialdemokratische Regierung unter ständiger Kontrolle der unter der Führung der Arbeiterklasse vereinigten Volksmehrheit handeln und dieser Volksmehrheit verantwortlich bleiben wird. Die demokratischen Bürgschaften werden es ermöglichen, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung unter den günstigsten Bedingungen, unter ungehemmter, tätigster Teilnahme der Volksmassen zu vollziehen. Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen."

*VI.11
Siehe Anm. 8.

*VI.12
Staattsauffassung, S. 191.

*VI.13
Staatsauffassung, S. 192/3.

*VI.14
Staatsauffassung, S. 201.

*VI.15
Max Adler, Politische oder soziale Demokratie?, im folgenden mit PsD angegeben. S. 91.

*VI.16
PsD, S. 92/3.

*VI.17
PsD, S. 93.

*VI.18
PsD, S. 93/6.

*VI.19
PsD, S. 97. - Diese Definition deckt sich mit Lenins Diktaturbegriff: "Die Diktatur ist eine unmittelbar auf Gewalt begründete Herrschaft, die an keinerlei Gesetze gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine von dem Proletariat erkämpfte und auf der Gewalt des Proletariates gegenüber der Bourgeoisie begründete Herrschaft, die an keinerlei Gesetze gebunden ist" (Lenin, Die Diktatur des Proletariat und der Renegat Kautsky, Vulkan-Verlag, S. 5). Vgl. auch Lenin, Staat und Revolution.

*VI.20
PsD, S. 97

*VI.21
Staatsauffassung, S. 192. - Nicht zu Unrecht bemerkt Otto Bauer in einer seiner neuesten Arbeiten ("Kapitalherrschaft in der Demokratie" in Der Kampf, XXI ): "So ersetzt z. B. Max Adler [...] die Aufzeigung des konkreten ökonomisch-ideellen Mechanismus, durch den das Kapital die Demokratie beherrscht, durch die willkürliche und abstrakte Definition, die [...] jede Mehrheitsherrschaft für eine Diktatur erklärt. Dabei geht gerade das Spezifische der Demokratie verloren, daß die bürgerliche Demokratie eben noch nicht Mehrheitsherrschaft, sondern Minderheitsherrschaft der Großbourgeoisie mittels der Mehrheitsregierung der bürgerlichen Massenparteien ist..." (S. 338).
- Wenn er aber hinzufügt, daß "anderseits gerade die Notwendigkeiten der Mehrheitsregierung der Klassenherrschaft der Großbourgeoisie Schranken setzen und dadurch die Demokratie von der Diktatur, der schrankenlosen Herrschaft unterscheiden", so übersieht er, daß gerade umgekehrt die Aufhebung der demokratischen Form der Diktatur dort erfolgt, wo die Bourgeoisie auf die Interessen anderer Gesellschaftsschichten Rücksicht zu nehmen hat. Gerade unter den Bürgschaften des demokratischen Regierungssystems kann die Bourgeoisie ihre Diktatur viel rücksichtsloser selbst ausüben, als es dort der Fall ist, wo die Ausübung der Diktatur durch Beauftragte in einem terroristischen Regierungssystem erfolgt. - Näheres darüber siehe im folgenden Kapitel.

*VI.22
Staatsauffassung, S. 203.

*VI.23
PsD, S. 91/2.

*VI.24
PsD, S. 92.

*VI.25
Natürlich ist die Rechtsordnung durch den Klassencharakter der Diktatur bestimmt, aber sie ist nicht das spezifische Merkmal der Diktatur.

*VI.26
Karl Schmitt-Dorotic, Die Diktatur, 1. Aufl, S. VIII.

*VI.27
Ebenda.

*VI.28
Staatsauffassung, S. 195.

*VI.29
PsD, S. 102.

*VI.30
Max Adler, "Gesellschaftsordnung und Zwangsordnung", in Der lebendige Marxismus. Abtl. 111, S. 283.

*VI.30a
Ebenda, S. 281.

*VI.31
Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, Vorwärts-Verlag. S. 50. - In seiner Auseinandersetzung mit Heinzen ("Die moralisierende Kritik und die kritische Moral", LN II, S. 454/5) führt Marx gegen Heinzens Satz, die Gewalt beherrsche auch das Eigentum, an: "In anderen Worten: Die Bourgeoisie ist noch nicht als Klasse politisch konstituiert. Die Staatsmacht ist noch nicht ihre eigene Macht. In Ländern, wo die Bourgeoisie die politische Gewalt schon erobert hat, und die politische Herrschaft nichts anderes ist, als die Herrschaft nicht des einzelnen Bourgeois über seine Arbeiter, sondern der Bourgeoisklasse über die gesamte Gesellschaft, hat der Satz des Herrn Heinzen seinen Sinn verloren."

*VI.32
Kommunistisches Manifest, S. 25.

*VI.33
Engels, Ludwig Feuerbach, S. 60/1. - Auszeichnungen von mir.

*VI.34
Das Kapital, III, 2, S. 324/5.

*VI.35
Marx, Lohnarbeit und Kapital, ed. Kautsky, S. 26.

*VI.36
Kommunistisches Manifest, S.31.

*VI.37
Ebenda, S. 37.

*VI.38
Marx, "Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms", NZ IX, 1, S. 573.

*VI.39
Ebenda, S. 572.



*VII.1
Nicht eindeutig ist die Definition von Paul Levi (Einleitung zu Rosa Luxemburgs Die russische Revolution, S. 59): "Diktatur des Proletariats. Jetzt können wir sehen, was sie ist. Sie ist kein Zustand, der in den breiten Regionen der Sozialphilosophie sich abspielt. Sie ist keine patentierte Staatsform, die eine geheime Kraft in sich birgt. Sie ist die eroberte Staatsgewalt dann und solange, als der Wille, die Kraft, die Begeisterung, die Siegeszuversicht der proletarischen Klasse hinter ihr steht. Sie ist Zustand und Staatsform zumal, das eine ausgedrückt durch das andere. Sie ist Kern und Schale zugleich, und wo der Kern und wo die Schale schwinden, da ist die ´Diktatur des Proletariats´ dahin." - Wenn nun der Kern die Klassenherrschaft des Proletariats ist, so ist offenbar die Staatsform (die Schale) etwas davon Verschiedenes. Indes unterscheidet Levi gerade (im Anschluß an Lenin, Die Diktatur des Proletariats und der Renegat Kautsky, S. 22) zwischen Regierungsform und Staatsform. Wenn aber unter Regierungsform die Staatsform der Diktatur verstanden wird, dann muß der weitere Begriff Staatsform offensichtlich den "Kern" umfassen und wird somit neben dem Begriff der Klassenherrschaft inhaltlos.

*VII.2
Siehe auch Kautsky, Die proletarische Revolution und ihr Programm, S.112/3: "Das Wort von der Diktatur der Bourgeoisie als Staatsform ist eines der lächerlichsten Schlagworte, die unsere Zeit hervorgebracht hat. [...] Die Bourgeoisie hat nie allein die Staatsgewalt besessen und in diesem Sinne die ´Staatsform´ ihrer Diktatur gebildet. [...] Was als Diktatur der Bourgeoisie erscheint, ihr beherrschender Einfluß auf die Parlamente, die Regierungen, die Presse usw., ist nicht das Ergebnis einer Staatsform, sondern das Ergebnis ihrer ökonomischen und intellektuellen Übermacht." Diesen Ausführungen stimmen wir zu, nur würden wir die intellektuelle Übermacht der Bourgeoisie ihrer ökonomischen Übermacht nicht als nebengeordnet zur Seite stellen, da sie ja aus dieser ökonomischen Übermacht erst resultiert.

*VII.3
Feuerbach-Fragment der Deutschen Ideologie, MEA I, S.299.

*VII.4
Der heilige Max, Documente des Socialismus, III, S. 171.

*VII.5
Engels, Der Ursprung der Familie, S. 180.

*VII.6
Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, Vorwärts.Verlag, im folgenden mit Klassenkämpfe angegeben, S. 30.

*VII.7
Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Dietz. Verlag, im folgenden Brumaire, S. 14/15.

*VII.8
Brumaire, S. 37.

*VII.9
Brumaire, S.40. - Siehe auch Klassenkämpfe, S. 48.

*VII.10
Klassenkämpfe, S. 85.

*VII.11
Brumaire, S. 34/35.

*VII.12
Brumaire, S. 35. - Siehe auch Brumaire, S. 79.

*VII.13
Klassenkämpfe, S. 24/25, s. auch S. 31 ff. und S. 84.

*VII.14
Brumaire. S. 34.

*VII.15
Brumaire, S. 78.

*VII.16
Brumaire, S. 51/52. - Auszeichnungen von mir.

*VII.17
Brumaire. S. 75.

*VII.18
Brumaire. S. 86 ff.

*VII.19
Brumaire, S. 47/8.

*VII.20
Brumaire, S.72, 81 ff.

*VII.21
Brumaire, S. 101.

*VII.22
Ebenda.

*VII.23
Brumaire, S. 102/3. - Auszeichnungen von mir.

*VII.24
Brumaire, S. 106/7.

*VII.25
Brumaire, S. 109/10.

*VII.26
Brumaire, S. 108.

*VII.27
Brumaire, S. 104 ff.

*VII.28
Die Literatur, die für die Darstellung des Klassengehalts der Russischen Revolution benutzt worden ist, kann hier im einzelnen nicht aufgefüllt werden. Zur allgemeinen Orientierung verweisen wir auf folgende Arbeiten: J. Martov und Theodor Dan, Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie (J. H. W. Dietz, Berlin, 1924), Theodor Dan. Sowjetrußland, wie es wirklich ist (herausgegeben vom Parteivorstand der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei, Prag, 1926), A. Jugow, Die Volkswirtschaft der Sowjetunion und ihre Probleme (Kaden und Co., Dresden, 1928), Lenin, Gesammelte Werke.

*VII.29
Die Analyse des Klassengehalts der chinesischen Revolutionskämpfe, die im Text gegeben worden ist, deckt sich mit dem Ergebnis der in der Tagespresse erschienenen Arbeiten von Kurt Laumann. Vgl. hierzu Laumann: "Der Bürgerkrieg in China" (Leipziger Volkszeitung, 1926, Nr. 86). "Um den Jangtse-Kiang" (L. V., 1926, Nr. 216). "Roter Imperialismus" (L. V., 1926, Nr. 220), "Die chinesische Revolution" (L. V., 1927, Nr. 75), "Der Klassenkampf im fernen Osten" (L. V., 1927, Nr. 168), "Endlich in Peking" (L. V., 1928, Nr. 32). S. ferner: K. A. Wittfogel, Das erwachende China, Ernst Reinhard, Die imperialistische Politik im fernen Osten. Julius Braunthal. "Ökonomische und soziale Wurzeln des chinesischen Risorgimento" (Der Kampf, Bd. XVIII), N. Bucharin, Die Probleme der chinesischen Revolution.

*VII.30
Ähnlich wird das Gleichgewichtsverhältnis zwischen der Bourgeoisie und der herrschenden Klasse der feudalen Produktionsweise in Marxens Arbeiten über England geschildert. Siehe in den Gesammelten Schriften von Marx und Engels, herausgegeben von N. Rjasanoff (d. i. D. Rjazanov), die Aufsätze von Marx: "Die britische Konstitution" (Bd. II), "Die Wahlen in England" (Bd. I) und "Palmerston und die englische Oligarchie" (Bd. II). Gerade hier wird auch die Übertragung der Staatsgewalt im Interesse der Bourgeoisie auf den bürokratischen Apparat geschildert.

*VII.31
Otto Bauer, Die österreichische Revolution, 1923.

*VII.32
Otto Bauer, "Das Gleichgewicht der Klassenkräfte", in Der Kampf, XVII, S. 57 - 47.

*VII.33
Ebenda, S. 64.

*VII.34
Ähnlich auch Karl Kautsky, Die proletarische Revolution und ihr Programm, S. 100/101: "Wohl aber finden wir den Gleichgewichtszustand der Klassen, der die bürgerliche Revolution abschließt, in der einleitenden Phase der proletarischen. Dieser Zustand tritt ein in dem Zeitpunkt, ehe das Proletariat soweit ist, daß es für sich allein die politische Herrschaft zu gewinnen vermag, aber doch schon zu stark, als daß irgendeine der bürgerlichen Klassen ihre Herrschaft im Gegensatz zum Proletariat behaupten könnte. - In diesem Stadium würde durch das Streben nach einer reinen Klassenregierung jede geordnete Staatsverwaltung und damit auch ein gedeihliches ökonomisches Leben ganz unmöglich. [...] Es bleiben unter diesen Umständen nur zwei Formen der Regierung möglich: entweder bildet eine der Parteien die Regierung unter stillschweigender Duldung oder Unterstützung mindestens einer der gegnerischen Parteien, auf die Rücksicht zu nehmen ist, oder die Sozialisten bilden mit einer oder mehreren der bürgerlichen Parteien zusammen eine Koalitionsregierung." - Aber während Bauer den Gleichgewichtszustand für vorübergehend hält, sieht ihn Kautsky als einen solchen an, der für eine ganze Epoche der adäquate Zustand sei. Wobei freilich auch Kautskys Darstellung der Diktatur der Bourgeoisie nicht zu vergessen ist, der zufolge dieser Gleichgewichtszustand an der politischen Oberfläche in Wirklichkeit nichts anderes sein dürfte als der Ausdruck der Diktatur der Bourgeoisie.

*VII.35
Bauer, Die österreichische Revolution, S. 245/6. - Auszeichnungen von mir.



*VIII.1
Karl Kautsky, Die proletarische Revolution und ihr Programm, S. 113

*VIII.2
Otto Leichter, "Zum Problem der sozialen Gleichgewichtszustände" in Der Kampf, XVII, S. 181 - 183. - Auszeichnungen von mir.

*VIII.3
LN II, S. 59.

*VIII.4
LN II, S. 455.

*VIII.5
LN II, S. 455/6. - Anschließend heißt es: "Die Schreckensherrschaft mußte in Frankreich nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege. Ebenso würde der Sturz der absoluten Monarchie bloß momentan sein, wären die ökonomischen Bedingungen zur Herrschaft der Bourgeoisie noch nicht zur Reife gediehen. Die Menschen bauen sich eine neue Welt, nicht aus den ´Erdengütern´, wie der grobianische Aberglaube wähnt, sondern aus den geschichtlichen Errungenschaften ihrer untergehenden Welt. Sie müssen im Laufe der Entwicklung die materiellen Bedingungen einer neuen Gesellschaft selber erst produzieren, und keine Kraftanstrengung der Gesinnung kann sie von diesem Schicksal befreien."

*VIII.6
Das Problem der Transformation der vom Proletariat ausgeübten Diktatur in die Diktatur einer anderen Klasse ist namentlich in der russischen marxistischen Literatur ausführlich erörtert worden. Siehe hierzu Kapital VII, Anm. 28.

*VIII.7
Otto Bauer, "Kapitalsherrschaft in der Demokratie", in: Der Kampf, XXI, S. 337/8.

*VIII.8
Hans Kelsen, "Otto Bauers politische Theorien", in: Der Kampf, XVII, S. 55.

*VIII.9
Siehe insbesondere Renner, Krieg, Marxismus und Internationale.

*VIII.10
Renner, "Einige Erfahrungen praktischen Klassenkampfes", in: Der Kampf, XXI, S. 147.

*VIII.11
Der Kampf, XXI, S. 337.

*VIII.12
Otto Leichter schreibt einmal in einer Untersuchung über den Staatsapparat des Kapitalismus ("Der kapitalistische Staatsapparat" in Der Kampf, XXI): "Hier wirkt ganz unzweifelhaft eine gewisse Automatik: Die ökonomische Grundlage schafft sich mit einer gewissen Naturnotwendigkeit nicht nur ihren ideologischen Überbau, sondern auch ihren realen Machtapparat, der sie zu schätzen vermag. [..] Für die kapitalistische Gegenwart gilt unerschütterlich das Gesetz, daß der Machtapparat, über den eine Gesellschaft verfügt, solange im Dienst und im Sinn dieser Gesellschaft funktionieren muß, solange sie selbst, solange vor allem ihre ökonomische Basis noch unerschüttert ist, über diese Automatik kann es nach den letzten Erfahrungen wohl keinen Zweifel geben" (S. 104). Leichter deutet den Mechanismus dieser Automatik in dem gleichen Zusammenhang an, wenn er (S. 107) sagt: "Jeder Staat, jeder Staatsapparat hat seine notwendigen Lebensfunktionen. die mit den Bedürfnissen der Wirtschaft, also im Kapitalismus mit den Bedürfnissen der Kapitalisten aufs engste zusammenhängen." Aber er führt diesen Gedankengang nicht weiter aus.

*VIII.13
Engels, Anti-Dühring. S. 301 - 3, siehe auch Der Ursprung der Familie, S. 182.

*VIII.14
Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, ed. Pfemfert, S. 46.

*VIII.15
Marx an Kugelmann am 12.4. 1871 (Briefe an Kugelmann, Viva Verlag, S. 86).

*VIII.16
Brumaire, S. 100/101.

*VIII.17
Brumaire, S. 108.

*VIII.18
Siehe Engels‘ Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich, S. 16: "In Wirklichkeit [...] ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat ererbt wird, und dessen schlimme Seiten es, ebensowenig wie die Kommune, umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun. Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an, das war die Diktatur des Proletariats."

*VIII.19
Der Bürgerkrieg in Frankreich, S. 46 - 54.

*VIII.20
Siehe Bauer, Die österreichische Revolution, S. 287 ff.

*VIII.21
Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 177/8, auch S. 172; siehe ferner Max Adler, Demokratie und Rätesystem.

*VIII.22
Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, ed. Levi, S. 109 - 111.

*VIII.23
Dabei ist es eine Frage von keinerlei prinzipieller Bedeutung, ob diese Vollendung der Demokratie in der Diktatur des Proletariats eine Beschränkung demokratischer Freiheiten für die ehedem herrschende Klasse involviert. Diese Beschränkung ist jedenfalls nicht das Charakteristikum der Diktatur, wie jener Diktaturbegriff meint, der auf den "Mitteln der Diktatur" aufbaut. - s. Martov im Kampf, XX, S. 240.

*VIII.24
Luxemburg, a.a.O., S. 116.



Artikel etc von A. Gurland

- A. Gurland, "Der proletarische Klassenkampf in der Gegenwart, Zur taktischen Orientierung der Sozialdemokratie in der Nachkriegsphase des Kapitalismus", Leipzig. 1925, S. 42/43.
- A. G., "Unser Weg", in: Marxistische Tribüne für Politik und Wirtschaft, 1. Jg.,H. 1(8. Nov.1931), S.3.
- Z. B. A. G., "Mehr Klarheit, weniger Schmus! Wieder eine ´Revision´ des Marxismus", in: Leipziger Volkszeitung, Nr. 232, 5. Okt. 1926, S. 1/2;
- A. G., "Marxistische Staatsbejahung? Die neueste Revision des Marxismus", in: Leipziger Volkszeitung, Nr. 200, 28. Aug. 1925, S. 7;
A. G., "Gegen die Marx-´Ergänzer´", in: Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 6, Nr. 16, 20. April 1928, S. 7;
- A. Gurland, "Hendrik de Mans Überwindung des Marxismus", in: Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 4, Nr. 11, 18. März 1926, S. 5;
- A. Gurland, "Der Marxismus überwunden?", in: Atheist, Jg. 22, 1926, H. 4, S. 52 f.
- A. Gurland, "Der proletarische ..." (so. Anm. 1), S. 38 ff.,
- Arkadij Gurland, "Das Heute der proletarischen Aktion. Hemmnisse und Wandlungen im Klassenkampf", Berlin, 1931, S. 138 ff.
- A. G. "Der Marxismus und seine Gegner. Das Marx-Engels-Archiv", in: Leipziger Volkszeitung, Nr. 82,9. April 1926, S. 1;
- A. Gurland, "Neues aus dem literarischen Nachlaß von Marx und Engels", in: Leipziger Volkszeitung, Nr. 158; 9. Juli 1924, 1. Beilage;
- Arkadij Gurland, "Archiv K. Marxa 1 F. Engelsa, A pod redakciej D. Rjazanova (K. Marx und F. Engels Archiv, redigiert von D. Rjasanoff), Buch 1, Moskau 1924", in: Der Kampf Sozialdemokratische Monatsschrift, Jg. 18, Nr. 2, (Februar 1925), S. 7 1/73;
- A. Gurland, "Einige Randbemerkungen zum Marx-Engels-Archiv", in: Sozialistische Politik und Wirtschaft, .Jg. 4, Nr. 20, 20. Mai 1926, S. 4 - 6;
- A. Gurland, "Engels ´Feuerbach´ wieder erschienen", in: Sozialistische Politik und Wirtschaft. Jg. 5, Nr. 27, 8.Juli 1927, S. 7/8.
- 0. Jenssen, "´Marxismus und Diktatur´,. Glossen zur Doktorarbeit eines Marxisten", in: Der Klassenkampf, 4. Jg., Nr. 19, S. 594 ff.


Bibliographie

In Bearbeitung

Abkürzungen

PhG = Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, ed. Reclam
GPh = Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ed. Michelet
RPh = Hegel, Philosophie des Rechtes
Enz = Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
MEGA = Marx-Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe, ed. D. Rjazanov, Bd. 1, 1. Halbband
MEA 1 = Marx-Engels-Archiv, Zeitschrift des Marx-Engels-Instituts in Moskau, Bd. 1
LN = Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels, herausgegeben von Franz Mehring
Kommunistisches = Marx und Engels, Manifest der kommunistischen Manifest Partei, 7. Auflage (Vorwärts-Verlag)
Zur Kritik = Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, 9. Auflage
Anti-Dühring = Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 11. Auflage
Brumaire = Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Dietz-Verlag
Klassenkämpfe = Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, Vorwärts-Verlag
Ludwig Feuerbach = Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie, cd. Duncker
Der Ursprung = Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 21. Auflage
Staatsauffassung = Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus (Marx-Studien IV, 2)
P.s.D. = Max Adler, Politische oder soziale Demokratie?
NZ = Die Neue Zeit, herausgegeben von Karl Kautsky

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