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Team Manfred Kossok
Thema WIDER DEN ANTICHRIST - Zur frühbürgerlichen Revolutionperiode in Europa ( original )
Status 1989
Letzte Bearbeitung 12/2004
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- WIDER DEN ANTICHRIST

- WIDER DEN ANTICHRIST

Auf eine fast poetische Art umschrieb der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga das 14. und 15.Jahrhundert in Europa als »Herbst des Mittelalters« (1919); er hatte damit den Idealbegriff gefunden, um der inneren Dualität dieser Epoche Ausdruck zu verleihen. Sein positives Gegenbild fand der »Herbst des Mittelalters« in der heraufziehenden »Morgenröte des Kapitalismus« (Karl Marx). Noch zeigte sich die seit dem Untergang des Weströmischen Reiches gegen Ende des 5. Jahrhunderts eingepflanzte Feudalordnung in ihren Entwicklungspotenzen und Reproduktionsmöglichkeiten nicht erschöpft; indes wuchsen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens Keime neuer Elemente heran, die auf Veränderung der überkommenen

Konturen der Neuzeit

Wirtschafts-, Macht- und Denkstrukturen drängten. Traditionelle Existenzformen und tradierte Wertvorstellungen gerieten aus den Fugen, der Boden bisherigen Lebens kam ins Schwanken, Konturen einer neuen Weitsicht begannen sich abzuzeichnen.

Das Epizentrum des Neuen lag in Ober- und Mittelitalien, darauf folgten das südliche und mittlere Deutschland, die Niederlande (Flandern, Brabant), aber auch das übrige Westeuropa — am frühesten England — wurde davon erfaßt. In den ökonomisch fortgeschrittensten Regionen traf die für den traditionellen Feudalismus kennzeichnende einfache Warenproduktion bäuerlicher und handwerklicher Natur zunehmend an die Grenzen ihrer Entwicklung. Auf vielen Gebieten setzten sich neue Produktionsformen durch: in der Tuch- und Leinenherstellung, im Bergbau, im Schiffsbau und selbst im noch zunftgebundenen Handwerk über den Verlag, es entstanden die ersten Manufakturen. Ihre wichtigste Säule fanden diese qualitativen Veränderungen des Wirtschaftslebens im Aufstieg und in der Blüte der großen Städte; in ihnen konzentrierten sich die Energien des in voller Entfaltung begriffenen Frühkapitalismus. Hauptformen der Kapitalakkumulation blieben der Handel, das Bank- und Wuchergeschäft. Die am stärksten frühkapitalistisch geprägten Stadtstaaten Ober- und Mittelitaliens waren Genua und Venedig — beide in erbittertem Konkurrenzkampf stehend —‚ Mailand, Florenz, Siena, Perugia, um nur die wichtigsten aufzuführen. Über die Geldanlage in Grundbesitz unterwarfen sich die Städte großen Teil des umliegenden Landes; dessen Bauern verloren durch die Halbpacht (Mezzadria) ihre ursprüngliche Selbständigkeit, nicht wenige von ihnen füllten in den Städten das entstehende Proletariat auf. Der Ausgriff auf das Land, kennzeichnend für viele Städte, bedeutete keineswegs zwangsläufig eine »Kapitalisierung« des Agrarsektors, denn nicht selten kam es zu einer »Feudalisierung« des Bürgertums, das um den Anschluß an die herrschende Adelsklasse rang. Gerade die »Insularität« des Frühkapitalismus in einer noch feudalbeherrschten agrarischen Umwelt erklärt, daß die meisten seiner Zentren im Verlaufe des 16. Jahrhunderts verfielen und durch Refeudalisierung aufgesogen wurden.

Das »auf Wolle gebettete« Florenz umfaßte am Ende des 14. Jahrhunderts etwa 90.000 Einwohner. Allein die 200 Werkstätten der Wollzunft (Arte della Lana) beschäftigten 30.000 Arbeitskräfte; so wurde Florenz schon 1378 zum Schauplatz des ersten Aufstandes lohnabhängiger Arbeitskräfte (Ciompi) in der Geschichte. Der angehäufte Reichtum konzentrierte sich in den Händen von Familien oder Compagnien, die ihren Rechnungsbüchern das Motto »Im Namen Gottes und des Gewinns« voranstellten, ein Beispiel, das rasch nördlich der Alpen Schule machte. Von Oberitalien erstreckte sich ein Fernhandel, der den gesamten Mittelmeerraum sowie das übrige Europa umfaßte und bis weit nach Asien und Afrika hineinreichte. Hauptumschlagplätze des euro- asiatischen und euro-afrikanischen Warenumschlags waren Venedig und Genua. Während Venedig sein Monopol im asiatisch-orientalischen Handel mit Erfolg verteidigte, bis das Vordringen der Osmanen (Eroberung Konstantinopels 1453, Blockade des Roten Meeres seit 1517) die Dogenrepublik in die Defensive drängte, verlagerte sich die Hauptexpansionslinie Genuas in Richtung Westen; sein Handel erstreckte sich — ohne Preisgabe der Verbindungen zu den Kornkammern der Schwarzmeerküste — entlang der spanischen und portugiesischen Küste bis Flandern und England; die Kontrolle des aus dem Innern Afrikas an die Küste gebrachten Goldes lag ebenfalls in den Händen von Genuesen.

Der steigende Bedarf an Nahrungs-, Genußmitteln und Luxusgütern (Getreide, Zucker, Gewürze, Seide, Baumwolle, Duft- und Farbstoffe, Drogen, orientalische Gold- und Silberschmiedearbeiten) sowie an Arbeitskräften (Sklaven!) und Geld wirkte als mächtige Triebfeder der Expansion. Bei den frühen Vorstößen über die Meerenge von Gibraltar in den Atlantik

Plus ultra

(»Plus ultra« lautete später das Motto im Wappen Kastiliens) nach Madeira, den Azoren (1432) und den Kanaren (1434) spielte die »Dynamik des Zuckers« eine entscheidende Rolle. Alle wesentlichen Hafenstädte entlang der spanischen und der portugiesischen Küste, bis auf die Höhe von Lissabon und Oporto, besaßen einflußreiche Kolonien italienischer, d.h. vorwiegend genuesischer, Kaufleute und Bankiers; kein bedeutendes überseeisches Unternehmen konnte des oberitalienischen Kapitals entbehren. Es war alles andere denn historischer Zufall, daß Christoph Kolumbus aus dem führenden genuesischen Handels- und Bankhaus Centurione kam, das sich im Gold-, Zucker- und Sklavenhandel engagierte — den drei klassischen Motiven für die transatlantische Expansion am Ende des 15.Jahrhunderts. Zugespitzt schrieb Jacques Heers: »Die Wirtschaft Genuas zeigt bereits alle Formen, alle Charakteristika des modernen Kapitalismus«, was cum grano salis für den gesamten Frühkapitalismus galt.

Als Italiens Wirtschaftsblüte allmählich endete, verlagerten sich die Zentren der ökonomischen Macht: Sevilla, Lissabon, Antwerpen, Amsterdam, daneben Augsburg und Nürnberg, waren einige der wichtigsten Stationen. Die Hauptfolge dieser Entwicklung bestand in der Unterminierung des Feudalsystems durch die rasche Ausbreitung der Ware-Geld-Beziehungen; die überlieferten gesellschaftlichen Strukturen gerieten in Bewegung; Konfliktpotential neuer Qualität häufte sich an. Die Polarisierung zwischen dem Hochadel und dem niederen Adel, der Ritterschaft, deren Dienste — vor allem im Bereich der entstehenden zentralisierten Monarchien: Frankreich, England, mit Abstand auch Spanien und Portugal — nicht mehr gefragt waren, verstärkte sich. In den Städten meldete ein selbstbewußtes Patriziat seinen Anspruch auf Befreiung von landesherrlicher Vormundschaft an, mußte aber seinen dominierenden Status zugleich gegen eine wachsende Opposition der Handwerker und Plebejer verteidigen. Schließlich kam dazu die Masse der Bauern, die sich ständig neuen Forderungen ihrer weltlichen und geistlichen Herren ausgesetzt sah und für die Begleichung der jetzt bestimmenden Geldrente nicht selten in die Fänge des städtischen Wucherers geriet.

Das Bewußtsein einer von Grund auf in Veränderung begriffenen Existenz des Menschen fand seine frühe Resonanz in der

Renaissance und Humanismus

Renaissance und im Humanismus. Beide unauflösbar miteinander verbundenen Ausdrucksformen eines neuen Menschenbildes und Weltverständnisses — der Humanismus stellte die geistige Grundlage der Renaissance dar — hatten ihre Heimat in Italien, erreichten hier ihre Blüte und strahlten auf das übrige Europa aus. Jacob Burckhardt, der große Kulturhistoriker für diese Epoche, schrieb 1860: »Vielleicht reifte hier eine höchste Frucht jener Erkenntnis der Welt und des Menschen, um deretwillen allein schon die Renaissance von Italien die Führerin unseres Weltalters heißen muß.« Es wäre eine zu starke Vereinfachung, Renaissance und Humanismus als »bürgerliche« Phänomene zu bezeichnen, obwohl sie untrüglich die Zeichen des Frühkapitalismus trugen und damit die Merkmale einer Epoche des Umbruchs. Die bleibende Errungenschaft dieser Zeit bestand im neuen Bild des Menschen, im Übergang von der theozentrischen zur anthropozentrischen Auffassung von der Welt. Mit der Entdeckung des Individuums, der Fähigkeit zur freien Entscheidung und des Bewußtseins der unbegrenzten Schöpferkraft setzte sich der Mensch als Maß aller Dinge ein. Das aber hieß Absage an Scholastik und Askese, womit zwar nicht die Religion selbst, aber doch ihre herkömmlichen Formen und seit vielen Jahrhunderten für sakrosankt gehaltenen Institutionen zur Disposition standen.

Buchdruck

Von ungeahnter Tragweite für die rasche Verbreitung und Popularisierung der neuen Ideen wurde der Siegeszug des Buchdruckes, der mit der Erfindung der beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (um 1450) einen geradezu explosiven Aufschwung nahm: Luthers Übersetzung des Neuen Testaments kam nach sechs Monaten auf dem Markt...

Vorbild der Antike

die »Rinascità« (Wiedergeburt) — so der vom Zeitgenossen Giorgio Vasari geprägte Begriff — orientierte sich an den Idealen der Antike, das unmittelbar Vorangegangene und als Barbarei Empfundene galt als »Mittelalter«, also das zwischen Antike und »Wiedergeburt« Liegende, Trennende. In Architektur, bildender Kunst, Malerei, im Studium der alten Sprachen (Latein, Griechisch, selbst Hebräisch), in der Rückkehr zu den Quellen (»ad fontes«) — in allem stellte die Antike das Vorbild, wenn auch nirgendwo so gründlich wie eben in Italien, wo der Schutt der Römerzeit immer wieder Skulpturen freigab, die durch ihr Ebenmaß und ihre Natürlichkeit in Erstaunen setzten. Dieses Erbe fand nun bewußte Aufnahme. Selbst die Formen der Geselligkeit, die Tischsitten, Kleidung und Mode, die persönliche Hygiene blieben von der Renaissance nicht ausgenommen. Wer von jenseits der Alpen kam, galt als ein Barbar, und den Gipfel der Unreinlichkeit verkörperte in den Augen der kultivierten Italiener der Deutsche. Der im Auftrag Karls V. durch Frundsbergs Landsknechte im Jahr 1527 in Szene gesetzte »Sacco di Roma« mit seinen bis in die Gegenwart unvergessenen Bildern von Brandschatzung, Plünderung, Vergewaltigung und Massenmord hat dieses Bild noch nachträglich gefestigt. Die neuen Wertvorstellungen der Renaissance und des Humanismus sparten, weit über Kunst, Dichtung und Sprache hinausreichend, auch den Staat nicht aus, über dessen rationale Form auf nationaler Grundlage am intensivsten Niccolò Machiavelli in seinem Werk »Il Principe« (Der Fürst, 1535) nachdachte. Machiavelli trennte die Politik nicht nur von der Religion, sondern auch von der Moral (»Machiavellismus«). Zu den lichtesten Seiten des neuen Menschenbildes gehörte — zumindest in den Kreisen der Oberklasse — die Gleichstellung von Mann und Frau. Manch eine der Damen setzte durch Bildung, Sprachkenntnisse und künstlerische Fähigkeiten (wie Ippolita Sforza) ihre Hörer in Erstaunen; selbst von den Kurtisanen — nach offizieller Statistik gab es 1490 in Rom 6.800 Dienerinnen der Venus — hieß es, daß sie ihre körperlichen Vorzüge, nach dem Beispiel der Imperia oder Isabel de Luna, durch umfassende Bildung besser zur Geltung zu bringen wußten.

Diese »Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit«, wie sie Friedrich Engels so treffend definierte, besaß natürlich ihre Kehrseite: die demoralisierende Verweltlichung des Papsttums, den maßlosen Tyrannen, skrupellosen Condottiere, den verschlagenen Diplomaten, den gedungenen, auf Dolch und Gift trainierten Mörder, die unüberbrückbare Diskrepanz von Reich und Arm — eine neue Gesellschaft zeigte ihren Januskopf.

Das epochale künstlerische Potential der Renaissance sprengte keineswegs die Grenzen der bestehenden feudalen

Kunst, Malerei und Dichtung

Ordnung. Vielmehr standen die meisten berühmten Architekten, Maler, Bildhauer, Dichter und Philosophen im Dienst der Papstkirche oder weltlicher Herren. Ohne ein finanzkräftiges und kunstverständiges Mäzenatentum wäre jene wohl einmalige Phalanx der Dante, Petrarca, Boccaccio, Poliziano, Alberti, Brunelleschi, Masaccio, Donatello, Verrocchio, Botticelli, Ficino, Pico della Mirandola, Valla, Bramante, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Raffael, Tizian, Giorgione, Correggio ... kaum vorstellbar, wahrhaftig eine seit der Antike nicht mehr gesehene Aufreihung von Riesen an Schöpfertum und Denkkraft.

Im Blickpunkt der Humanisten — der Begriff entstammt erst dem 19.Jahrhundert — stand das Interesse für die »humaniora«, worunter man die nicht unmittelbar mit der Theologie verknüpften Geistesdisziplinen verstand: die Kunst der Rede, die Dichtung, die Geschichte und das Studium der alten Sprachen. Obwohl der Humanismus stets eine elitär-antiplebejische Ideologie blieb und seine Bindungen an Adel, Kirche und reiches Stadtbürgertum nicht löste, gewann er in Italien einen stark demokratischen Grundgehalt. Aus der bewußten Hinwendung zur Antike erwuchs eine Wiederentdeckung und erneuerte Wertschätzung der klassischen griechischen Philosophie, insbesondere Platons, wodurch bedeutende »heidnische« Elemente in das christlich geprägte Weltbild einströmten. Insbesondere die zeitweilig mit der griechisch-orthodoxen Kirche geführten Unionsverhandlungen und die Flucht griechischer Gelehrter vor den herandrängenden Osmanen begünstigten die neue Sicht auf das Altertum.
Ohne sich von der Papstkirche zu lösen, schufen die Humanisten wesentliche Voraussetzungen für ein kritisches Religions-

Humanistische Kirchenkritik

verständnis. Laurentius Valla bewies 1440 die Unechtheit der »Donatio Constantini« (Konstantinische Schenkung), die als historische Begründung für den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papstes über das Abendland galt. Der deutsche Humanist Ulrich von Hutten ließ Vallas Schrift 1517 übersetzen und lieferte damit eine gewichtige Rechtfertigung für die Reformation. Wie aus humanistischer Sicht die innere Erneuerung der Kirche vonstatten gehen sollte, begründete Marsilio Ficino in seiner »Restitutio Christianismi« (Wiederherstellung des Christentums) in Gestalt einer Symbiose der Prinzipien Platons und des Apostels Paulus auf der Grundlage einer Laienfrömmigkeit, abhängig von den scholastischen Kirchenvätern, der Hierarchie und der Sakramente. Aus dem von Ficino im Brief des Paulus an die Römer (N.T.Röm. 1, 21—31) aufgenommenen Gnadenbegriff gewann später Luther den entscheidenden Ansatz für seine Revolution der Theologie. Ähnlich wie Valla dachte Giovanni Pico della Mirandola, dessen Werk »De dignitate hominis« (Von der Würde des Menschen) den Anthropozentrismus des Renaissancehumanismus auf nie übertroffener Höhe zeigte. Von Pico gingen weitreichende Denkanstöße auf den Humanismus jenseits der Alpen aus.

Die Kritik der Humanisten an den historischen Grundlagen, den religiös-theoretischen Widersprüchen und den politischen Praktiken der römischen Kurie schuf — unabhängig von den subjektiven Vorstellungen des einzelnen Autors — wesentliche gedankliche und wissenschaftliche Voraussetzungen für die Reformation. Noch waren die weitreichenden Folgen nicht absehbar. In der Kirche fanden die mittelalterliche Gesellschaft und ihr Weltbild den institutionalisierten und auf einem geistigen Monopol begründeten Ausdruck: die christliche Religion, als deren von Gott eingesetzter Sachwalter der Papst sich präsentierte (»Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde« [In früheren Texten als »Kirche« übersetzt], N.T., Matth. 16, 18), ihre überragende Potenz in Grundbesitz und Finanzwesen, das Gewicht als universal verankerter Machtfaktor und nicht zuletzt ihre soziale Funktion gegenüber den Armen. Die historisch gewachsene unauflösbare Verbindung von Kirche und Feudalität im Geistig-Transzendenten wie im Materiell Alltäglichen bedeutete, daß eine bis zur letzten Konsequenz getriebene Kritik an religiösen Dogmen und Institutionen die Grundfesten der Gesellschaftsordnung erschüttern mußte, da Religion und Kirche allem Bestehenden die höhere Weihe gaben.

Frühbürgerliche Revolution

In einigen Ländern Europas entlud sich die Summe der religiösen, politischen, nationalen, sozialen und ökonomischen Widersprüche seit dem 14. und 15. Jahrhundert in einer Kette revolutionärer Bewegungen, deren gemeinsamen Ausgangspunkt die Forderung nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern bildete. Diese Bewegungen kulminierten im 16. Jahrhundert in der frühbürgerlichen Revolution, deren Hauptschauplätze in Deutschland, Spanien und den Niederlanden lagen. Unter den Historikern der verschiedenen Schulen ist der Begriff der »frühbürgerlichen Revolution« nicht unumstritten. Handelte es sich schon um die historische Entscheidungssituation Feudalismus gegen Kapitalismus? Bestand eine Art von inner-feudalem Problemstau — so verstand Ernst Werner die Hussitenbewegung auch als eine Revolution im Feudalismus für den Feudalismus —‚ oder ging es darum, den frühen kapitalistischen Entwicklungsansätzen und ihren Triebkräften mehr Bewegungsraum für ihre Freisetzung, obschon noch innerhalb des Feudalsystems, zu schaffen? Die Fähigkeit zur regenerativen Dynamisierung bewies die Feudalgesellschaft mit der Herausbildung des Absolutismus seit dem Ausgang des 15.Jahrhunderts, aber gerade diese Spätblüte des Feudalismus konnte der bürgerlichen Komponente in Wirtschaft und Staatsaufbau schon nicht mehr entbehren. Mußten die frühbürgerlichen Revolutionen zwangsläufig scheitern, eben weil sie »zu früh« gekommen waren, oder gingen von ihnen — auch im Ergebnis ihrer Abwehr— nicht entscheidende Impulse für eine Wandlung überlieferter gesellschaftlicher Strukturen und Normen aus? Die Gegenreformation reduzierte sich nicht auf eine Reaktion zur Wiederherstellung des Status quo ante, sie bedeutete zugleich Erneuerung und Anpassung an eine in Veränderung begriffene Welt: Ebenso stellte der im Ergebnis der deutschen Revolution sich festigende Fürstenstaat eine neue Qualität gesellschaftlicher Entwicklung dar, die allerdings unübersehbar von der Niederlage der bäuerlichen und bürgerlichen Demokratie gezeichnet war. Was also überwog mehr, das Festhalten an der »Tradition« oder die ersten Schritte in die »Moderne«, die ständischen Querelen mit den aufsteigenden Zentral- und Mittelgewalten oder die Revolutionphrase«? Die Frage so zu stellen, hieße den Übergangscharakter der Epoche zu ignorieren und die ihr eigenen hybriden Ausdrucksformen. Der historische Schritt vom »Mittelalter« zur »Neuzeit« war kein einmaliger, auf ein Datum oder ein isoliertes Phänomen fixierbarer Akt. Die frühbürgerliche Revolution durchlief von ihren Vorformen des 15. bis zu ihrer Endphase am Ausgang des 16. Jahrhunderts verschiedene Reifestufen, die ein sich veränderndes Kräfteverhältnis im Wechselspiel von feudaler und bürgerlicher Entwicklungskomponente widerspiegelten. Lag nicht gerade in der Vielfalt gegenläufiger Tendenzen die besondere Charakteristik, die diesem Zeitalter eine bis in die Gegenwart nachwirkende Dramatik verlieh?

Frühreformatorische Bewegungen

Der erste frontale Angriff auf die Autorität der Papstkirche ging von England aus. Aus religiösen, politischen und nationalen Motiven erwuchs eine antipäpstliche Bewegung, deren Profil von John Wyclif, einem bedeutenden Gelehrten und anerkannten Theologen, geprägt wurde. Wyclif, der 1372 den Doktorgrad an der Universität Oxford erwarb, ließ sich von der Erkenntnis leiten, daß die Papstkirche im Widerspruch zum »Gesetz Gottes« stünde, die urchristliche Armut preisgegeben habe und der

John Wyclif

Papst der »Antichrist« sei. Für Wyclif bestand die wahre Kirche aus der Gemeinschaft der Auserwählten (Prädestinierten). Hierarchie, Ordination, Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung galten als Zeichen der Verweltlichung und der Verirrung. Mit besonderer Heftigkeit lehnte Wyclif die Lehre von der Transsubstantiation ab, womit er ein Kernelement der katholischen Dogmen verwarf. Seine Forderung nach Einziehung der Kirchengüter brachte ihm nicht nur die Sympathie der unteren Volksklassen, sondern auch der Krone und des Adels ein. Die Ablehnung der päpstlichen Obergewalt lief auf die Bildung einer Nationalkirche hinaus und bedeutete die Festigung der Krongewalt gegenüber kurialem Machtanspruch. Wyclif verteidigte deshalb auch den englischen König Edward III., als dieser 1366 dem Papst die Lehensuntertänigkeit aufkündigte. Ein ganzes Heer von Wanderpredigern verbreitete Wyclifs Lehren über das Land. Die Stimmung unter den Herrschenden zugunsten Wyclifs schlug um, als 1381 der große Bauernaufstand unter Wat Tyler ausbrach und sie Wyclif als dessen geistigen Anstifter ansahen. Bereits 1382 wurde seine Lehre offiziell verdammt; Wyc1ff mußte sich auf die Pfarrei Lutterworth zurückziehen, wo er die Vulgata ins Englische übertrug. Wyclifs Anhänger, die Lollarden, erlagen bis 1401 den gnadenlosen Verfolgungen. Das Schicksal Wyclifs, seiner Anhänger und seiner Lehre ließ bereits den für die Adelsklasse aller Länder kennzeichnenden Widerspruch im Verhalten zu reformatorischen Bewegungen, sofern diese zu sozial-revolutionären Konsequenzen führten, deutlich werden. Das Konzil von Konstanz (1415) verurteilte die 45 Thesen Wyclifs und erklärte ihn postum zum Ketzer. Wyclifs Ideen wirkten jedoch weit über England hinaus, sie beeinflußten Jan Hus und erreichten über ihn Martin Luther. So entstand von der frühreformatorischen Bewegung eine geistige Kontinuitätslinie bis zur frühbürgerlichen Revolution.

Sprößlinge böhmischer Adelsgeschlechter, die in Oxford ihre Studien absolviert hatten, brachten Wyclifs Schriften nach Prag. Hier fielen die Ideen des englischen Ketzers auf einen besonders fruchtbaren Boden. In Böhmen hatte sich ein bemerkenswerter Aufschwung in Handel, Gewerbe und Bergbau (Silbergewinnung) vollzogen, der die Basis für die Entstehung eines selbstbewußten Bürgertums abgab, das frühzeitig die Elemente eines tschechischen Nationalbewußtseins ausprägte. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts befand sich Böhmen in einer Krisenlage, gezeichnet von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Umtrieben des frondierenden, in rivalisierende Cliquen getrennten Adels und einer wachsenden Opposition gegen die finanzielle Ausplünderung des Landes durch die päpstliche Kurie. In diesem Klima verschmolzen antipäpstliche und nationale Opposition rasch zu einer unauflösbaren Mixtur. Mit König Wenzel IV., der schon als Zweijähriger (1363) die böhmische Krone trug, 1376 zum Herrscher des Heiligen Römischen Reiches gewählt wurde und 1378 die Nachfolge Karls IV. antrat, stand an der Spitze des Landes eine Persönlichleit, die sich den innen- und außenpolitischen Konflikten nicht gewachsen zeigte. Der eigentlich mehr an der Jagd, an deftigen Gelagen und sonstigen Lebensgenüssen interessierte König erwies sich als unfähig, den doppelten Kampf um die Krone des Reiches und Böhmens durchzuhalten. Als deutscher König abgesetzt (1400), reduzierte sich seine Macht von nun an auf Böhmen, blieb aber auch hier umstritten. Mißgriffe, wie der Sturz des Generalvikars des Erzbistums Prag, Johann von Nepomuk, von der Karlsbrücke und sein Ertrinken (1393), führten nicht gerade zu einer Beruhigung der Gemüter.

Jan Hus

Die antikuriale Strömung fand ihren Sprecher in Jan Hus, der einfachen Verhältnissen entstammte. Seine Lehren, in deren Mittelpunkt die Kritik an der Verweltlichung des Klerus stand, erfaßten — in tschechischer Sprache gepredigt — große Teile der Theologiestudenten und der plebejischen Schichten, ihr nationaler Ton fand auch ein Echo im böhmischen Adel und im Bürgertum. Zu einem Zentrum der religiös-nationalen Auseinandersetzungen wurde die Universität Prag. Immer deutlicher grenzten sich die sächsische, bayerische und polnische »Nation« — summarisch »deutsche Nation« genannt — gegen die böhmische »Nation« ab; besonders deutsche Magister und Studenten wetterten gegen die von Wyclif geprägten Auffassungen Hus‘ und seiner Parteigänger. Als König Wenzel die Rechte der übrigen »Nationen« zugunsten der böhmischen radikal einschränkte (Kuttenberger Dekret vom 18. Januar 1409), kam es zum Auszug der deutschen Magister und Studenten, die eine neue Universität in Leipzig gründeten. Weil Hus gegen den Ablaß predigte, traf ihn 1412 der Bann Gregors XII.; er zog sich nach Südböhmen zurück und verfaßte hier sein theologisches Hauptwerk »De ecclesia« (Über die Kirche). Mit der Versicherung des freien Geleites vom römisch-deutschen Herrscher Sigmund, Bruder König Wenzels, begab sich Jan Hus nach Konstanz, um sich vor dem Konzil zu rechtfertigen. Seine Hoffnung, die versammelten Bischöfe für seine Lehren zu gewinnen, erfüllte sich nicht. Das Konzil klagte Hus der Ketzerei an und setzte ihn der schärfsten Folter aus; am 6.Juli 1415 starb er auf dem Scheiterhaufen.

Der Märtyrertod des Jan Hus wirkte in Böhmen als auslösendes Moment einer allgemeinen Erhebung gegen die Papstkirche. Ihr national-religiöses Symbol fand die hussitische Bewe-

Hussitenbewegung

gung in der Spendung des Abendmahls in beiderlei Gestalt (sub utraque forma), dem Laienkelch. Die Stärke der reformatorischen Bewegung bestand in ihrer raschen Ausbreitung über das ganze Land und in ihrer Verankerung in den bäuerlich-plebejischen Schichten. Unter diesen Bedingungen schlug der religiöse Dissens in die soziale Auflehnung um. König Sigmund, der seit 1419 auch die Krone Böhmens trug, galt als »Mörderkönig« und suchte vergebens die Hussiten zu unterdrücken. Innerhalb der Bewegung schälten sich zwei Flügel heraus: die gemäßigten Utraquisten, auf deren Seite große Teile des Adels und das Bürgertum standen, und die radikalen Taboriten, so nach ihrem Zentrum im südlichen Böhmen, Tabor, benannt. Die radikalen Auffassungen der Taboriten stellten nicht nur die Dogmen der Papstkirche in Frage, sondern richteten sich ebenso gegen die als ungerecht und gotteswidrig empfundene weltliche Ordnung. Die Reformation gebar Elemente der Revolution.

Die revolutionäre Phase der Hussitenbewegung begann am 30. Juli 1419 mit der Erhebung in der Prager Neustadt, an deren Spitze der Geistliche Jan Zelivsky stand, wie sein Vorbild Hus ein mitreißender Volksprediger. Seinen militärischen Führer fand der radikale Flügel der Hussiten in Jan Zizka, einem Vertreter des niederen Adels. Unter dem Druck der gemäßigten Kräfte, die sich gegen den Aufstand der Unterklassen wandten und dazu sogar die Unterstützung des im »Herrenbund« vereinten Hochadels suchten, mußten Zizka und seine Parteigänger Prag räumen. Das Zentrum der revolutionären Bewegung verlagerte sich endgültig nach Südböhmen.

Aus der Sicht der Papstkirche bildete die Hussitenbewegung nicht nur ein national-böhmisches, sondern ein internationales Problem. Papst Martin V., aus dem Haus Colonna, der 1418 in Konstanz gewählt worden war und sich gegen zwei Gegenpäpste (»Benedikt XIII.« und »Johannes XXIII.«) durchsetzen mußte, erließ am 1. März 1420 die Kreuzzugsbulle gegen die Hussiten. Von 1420 bis 1431 wurden nicht weniger als vier Kreuzzüge geführt, umgekehrt drangen die Hussiten mit ihren »Kriegsreisen« weit über die Grenzen Böhmens hinaus; innerhalb Böhmens sorgten revolutionäre »Wallfahrten« dafür, daß sich noch zögernde Städte durch das Wort oder das Schwert der hussitischen Sache anschlossen.

Die anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen beschleunigten die Differenzierung innerhalb des hussitischen Lagers. Zum Gegensatz zwischen gemäßigten Utraquisten und radikalen Taboriten kam das Ausscheren eines linken chiliastisch-egalitären Flügels aus den Taboriten hinzu, was eine faktische Dreiteilung bedeutete. In der Folge sah sich die äußerste Linke nicht nur von den Utraquisten, sondern auch von den Taboriten bekämpft. Die chiliastische Linke nahm die Züge einer Sekte an, die ihre Heilserwartung in libertinischer Sexualität auslebte und schließlich von Zizka geschlagen wurde (Herbst 1421).

Prager Artikel

Ihr Aktionsprogramm formulierte die Mehrheit der Hussiten in den »Vier Prager Artikeln« von 1420 mit den Forderungen: Es handelte sich um eine Art Minimalprogramm, um die gemeinsame Sache gegen die Kreuzfahrer und König Sigmund zu verteidigen. Innerhalb des hussitischen Lagers hielten die Konflikte an, da die Taboriten die herkömmliche Kirchenpraxis ungleich radikaler umgestaltet wissen wollten; sie verwarfen Zeremonien, Priestergewänder, Heiligenverehrung, Bilder, Reliquien, Beichte, Fasten, den Eid und andere »Verletzungen des göttlichen Rechts«.

Im Oktober 1424 verloren die Hussiten mit Jan Zizka, der wahrscheinlich an der Pest starb, ihre führende Persönlichkeit. Ihm erwuchs jedoch in Prokop »dem Großen« ein ebenbürtiger Nachfolger. Der von Prokop organisierten Streitmacht, die fast ganz Mitteleuropa in Schrecken versetzte, zeigten sich die Kreuzfahrerheere nicht gewachsen. Aus den Niederlagen der Kreuzfahrer, deren letzter Vorstoß im Herbst 1431 scheiterte, gelangten die Gegner der Hussiten zur Erkenntnis, daß ein Ausgleich durch Verhandlungen unvermeidlich sei; das bedeutete die Anerkennung der Hussiten als eigenständigen politischen Machtfaktor durch Kurie und Krone. Auf dem Konzil zu Basel (1431—1449) bildete die »Hussitenfrage« einen der Hauptstreit- und Verhandlungspunkte. In brillanter Weise verteidigte eine Abordnung mit Prokop »dem Großen« an der Spitze die religiösen und politischen Positionen der Hussiten. Mit den »Prager Kompaktaten« (1433) billigte das Konzil zwar den Laienkelch, verwarf jedoch die übrigen Forderungen der »Vier Prager Artikel« von 1420. Mit Geschick wußten die in Böhmen agierenden Vertreter des Konzils die inneren Widersprüche der Hussiten auszunutzen und neu anzufachen. Nicht zuletzt dank beträchtlicher Bestechungssummen kam ein Bündnis zwischen Utraquisten und »Römern«, d.h. den Anhängern der Papstkirche, gegen die Taboriten zustande. In der Schlacht von Lipany (30.Mai 1434) erlitten die Taboriten eine vernichtende Niederlage; Prokop »der Große« und andere Führer verloren ihr Leben.

Mit Lipany endete die erste reformatorische Bewegung, die zusammen mit einer nationalen und antifeudalen Volksbewegung nicht nur die traditionelle Papstkirche, sondern auch das bestehende Gesellschaftssystem in ihren Grundlagen zutiefst erschüttert hatte. Ein neues religiöses Bewußtsein, verbunden mit einem eigenen Nationalverständnis in Sprache, Liturgie und Bildung, die im chiliastischen Egalitarismus aufkommende Vision einer von feudaler Ausbeutung befreiten Gesellschaft, die Revolutionierung des Militärwesens und die europäische Ausstrahlung des Hussitentums bestimmten den historischen Stellenwert der hussitischen Bewegung in der unmittelbaren Vorgeschichte der frühbürgerlichen Revolution. Trotz der Niederlage der Taboriten, deren Reste bis 1452 zersprengt wurden und in der böhmischen »Unitas fratrum« (Brüdergemeinde) aufgingen, überlebte im Utraquismus eine nationalkirchliche Strömung, die ihre Existenz gegen das Papsttum behauptete. Im Ergebnis der durch den Tod Sigmunds (1437) ausgelösten Thronwirren gelang es sogar einem Vertreter des utraquistischen Adels, Georg von Podebrady, die Herrschaft im Lande zu übernehmen (1448) und sich 1458 von den böhmischen Landständen zum König wählen zu lassen. Jeder Versuch von Kurie und Kaiser, den »Ketzerkönig«, über den 1466 Papst Paul II. den Bann verhängte, zu vertreiben, scheiterte; ebenso ein weiterer »Kreuzzug« unter dem Ungarnkönig Matthias Corvinus.

Mit dem Konzil von Basel, das wegen innerkirchlicher Querelen unter Papst Eugen IV. fehlschlug, vergab die Kirche eine ihrer letzten Chancen, der Krise durch eine »Reform an Haupt und Gliedern« noch rechtzeitig zu begegnen. Das Scheitern der Konzilien hatte um so dramatischere Folgen, als zur selben Zeit das Papsttum den letzten Rest an moralischem Gewicht verlor.

Renaissancepäpste

Seinen Tiefpunkt erreichte das Ansehen der Kurie unter der Herrschaft der Renaissancepäpste; selbst nach modernem jesuitischem Urteil war es »eine Reihe von Päpsten..., die zu den unheilvollsten in der ganzen langen Folge gehören« (Ludwig Härtling S.J.). Ihre Kette begann mit Nikolaus V. (1447—1455) und endete mit Clemens VII. (1523—1534). Im Mittelpunkt der päpstlichen Politik stand nicht die seit den Konzilien von Konstanz und Basel drängende Reform der Kirche, sondern das Streben nach Ausbau des Territorialstaates, um eine führende Rolle in Italien und in der internationalen Politik spielen zu können.

Diese Tendenz zur Verweltlichung des Papsttums verband sich mit ungezügeltem Nepotismus, Korruption, Verschwendungssucht, gewaltsamer Beseitigung unliebsamer Gegner oder Konkurrenten und einem den Grundregeln christlicher Moral hohnsprechenden persönlichen Lebensstil. Als positiv bleibt zu vermerken, daß einige dieser Päpste als höchst kunstverständige Mäzene wesentlich die Blüte der italienischen Renaissanuekultur (Baukunst, Malerei, Skulptur) beeinflußt haben und die humanistische Wissenschaft förderten. Was für die Kunst eine glanzvolle Epoche bedeutete, stürzte die Papstkirche andrerseits in die schwerste Krise ihrer fast eineinhalbtausendjährigen Existenz.

Sixtus IV., aus dem Geschlechte der Rovere, pflegte den Nepotismus und den Verkauf von Pfründen im großen Stil. Fünf seiner Neffen erhielten den Kardinalshut; einer dieser Neffen, Pietro Riario, verfügte mit 25 Jahren über vier Bistümer, das Patriarchat von Konstantinopel und ein Jahreseinkommen von 2,4 Millionen Franken, das er mit seiner offiziellen Mätresse durchbrachte, damit aber auch sein Leben verkürzte (er starb mit 28 Jahren). Um seinen Finanzbedarf zu decken, übersteigerte Sixtus nicht nur den Ämterverkauf, seine Ablaßbulle von 1477 machte erst jenen schwunghaften Handel mit den vom Fegefeuer bedrohten Seelen möglich, der Luthers historischen Protest auslöste. Der nachfolgende Papst Innozenz VIII. war der erste, der seine leiblichen Kinder öffentlich präsentierte und ihnen im Vatikan glänzende Hochzeiten ausstattete. Er tat dem »heidnischen« Sultan Bayazid II. den Gefallen, gegen ein jährliches Entgelt von 40.000 Dukaten dessen Bruder und Thronprätendenten Djem gefangenzuhalten. Auf Innozenz geht die verhängnisvolle Hexenbulle von 1484 zurück, die der Inquisition die Verfolgung von »Hexen« übertrug. Mit ihrer Schrift »Hexenhammer« (1487) lieferten die Inquisitoren Heinrich Instistoris und Jacob Sprenger die dogmatische Rechtfertigung für einen der furchtbarsten Auswüchse des späten Mittelalters.

Dies alles stellte noch der Borgia-Papst Alexander VI. in den Schatten. Schon als Kardinal mit der verheirateten Römerin Vanozza de Catanei öffentlich liiert, überforderten sein Lebensstil und die beeindruckende Zahl seiner Kinder sogar die Toleranzgrenze der großzügigsten Zeitgenossen. Bestechung und Gewalt brachten Alexander auf den Stuhl Petri. Alexanders zweiter Sohn, Cesare, bereits mit 17 Jahren zum Kardinal gekürt, versetzte mit seiner Eroberungspolitik, die auf die Festigung des Kirchenstaates und dessen Vormachtstellung abzielte, ganz Mittel- und Norditalien in Aufruhr. Unliebsame Gegner wurden gnadenlos aus dem Wege geräumt, auch opponierenden Kardinälen blieb ein solches Schicksal nicht erspart; selbst Alexanders Tochter Lucrezia, die ihrem Bruder kaum nachstand, verlor ihren ersten Gatten durch Cesare, der einen Würger in das Haus schickte. Alexander VI. war — und seine Kinder teilten diese Veranlagung — Erotomane höchsten Grades; gemeinsam mit Cesare und Lucrezia genoß er am Vorabend von Allerheiligen 1501 im Vatikan ein Ballett von 50 Edelkurtisanen der Stadt Rom. Als Alexander starb, blieb ungeklärt, ob er aus Versehen — wie Cesare, der allerdings überlebte — das für einen anderen gedachte Gift getrunken hatte oder der Malaria erlag. Er war derselbe Papst, der im Jahre 1493 in den Bullen »Inter Coetera I und II« die koloniale Aufteilung der Welt zwischen Spanien und Portugal festlegte und unter dessen Pontifikat ein noch junger Bildhauer namens Michelangelo Buonarroti eines der größten Werke der Weltkunst, die Pietà in S. Pietro zu Rom, vollendete (1500).

Florenz der Medici

Zu einem der erregendsten Schauplätze frühreformatorischer Bestrebung wurde am Ausgang des 15.Jahrhunderts das Gebiet von Florenz (Toscana). Ohne die traditionelle patrizisch-repubhikanische Verfassung (Signorie und Rat der Hundert) formal außer Kraft zu setzen, lag hier ab 1469 die Herrschaft in den Händen der Medici, einer vermögenden Patrizierfamilie, deren Bankgeschäfte über ganz Europa reichten. Gestützt auf einen neu eingeführten gefügigen Senat, gelang es den Medici, ihre fast absolute Macht durchzusetzen. Im Kampf um die Vorherrschaft unter den italienischen Mittel- und Kleinstaaten gerieten sie in den offenen Gegensatz zur Papstkirche, deren Haupt, Sixtus IV., die mit den Medici rivalisierenden Pazzi unterstützte. Nur um Haaresbreite entging Lorenzo de‘ Medici einem vom Papst und den Pazzi, die den Medici das Privileg auf Verwaltung der päpstlichen Einkünfte abgejagt hatten, inszenierten Mordanschlag, dem jedoch sein mitregierender Bruder Giuliano zum Opfer fiel. Einer der Verschwörer, Erzbischof Salviati von Pisa, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, endete mit dem Strick um den Hals am Fensterkreuz des Palastes. Die Pazzi wurden systematisch mit Hilfe von Dolch und Gift ausgerottet, jene, denen es gelang zu flüchten, durch ganz Italien verfolgt. Von nun an vermochten weder der päpstliche Bann noch militärische Intervention der Nachbarstaaten Lorenzo de‘ Medici aus Florenz zu vertreiben. Seine Heirat mit einer Orsini brachte ihm den Rang eines Fürsten ein. Im Bewußtsein der drohenden französischen Expansionsabsichten versuchten die Medici, dem totalen Absinken Italiens zum Objekt des sich abzeichnenden französisch-spanischen Gegensatzes (»Renaissancekriege«, 1494—1559) durch eine Gleichgewichtspolitik gegenzusteuern: »Wollte Gott, es fiele den französischen Königen niemals ein, ihre Kräfte in diesem Lande zu versuchen! Wenn es dazu kommt, so ist Italien verloren.« Lorenzo de‘ Medici, bald »Il Magnifico« (Der Prächtige) genannt, verband seine persönliche Herrschaft mit einer außergewöhnlichen Förderung von Wissenschaft und Kunst; er zog die bedeutendsten Künstler und Philosophen der Zeit an seinen Hof: Poliziano, Verrocchio, Pico della Mirandola, Ficino, Botticelli; auch der noch junge Michelangeho gehörte zum Kreis der Auserwählten. Mit der »Laurenciana« entstand die erste öffentliche Bibliothek Europas. Lorenzo de‘ Medici war nicht nur als Mäzen und Staatsmann der wohl bedeutendste Renaissancefürst; er selbst galt als ein hervorragender Dichter.

Die Schattenseite der prallen und prächtigen Renaissancekultur bestand in einer ungezügelten frühkapitalistischen Ausbeutung; dem auf Geldgeschäft, Handel, bürgerlichem Grundbesitz und wohlhabendem Handwerk fußenden Reichtum der Oberschicht (»Popolo grasso«) stand die große Masse der Armen gegenüber, mit einem frühproletarischen Kern, dessen Militanz schon im genannten Ciompiaufstand hervorgetreten war. Nationaler Zwiespalt, soziale Widersprüche, Anfänge eines wirtschaftlichen Niedergangs und politisch-religiöse Gegensätze im Kampf gegen den weltlichen Hegemonieanspruch des Papsttums gaben den Nährboden für die radikal-frühreforma-

Girolamo Savonarola

torischen Bestrebungen des Dominikanerpaters Girolamo Savonarola ab. Von religiösen Visionen getrieben, brach Savonarola sein Studium der Philosophie und Medizin ab, um dem Orden der Dominikaner beizutreten (1475). Als Bußprediger durchzog er ganz Norditalien. Auf Empfehlung des großen Humanisten Pico della Mirandola rief ihn Lorenzo de‘ Medici an das Kloster von San Marco, gewiß ohne zu ahnen, damit den künftigen Erzfeind seiner eigenen Familienmacht in die Toscana geholt zu haben. Als typischer Vertreter des im Mönchtum des 15. Jahrhunderts verbreiteten apokalyptischen Prophetismus predigte er eine streng asketische Lebensordnung, die er nicht allein auf Kirche und Klöster, sondern ebenso auf die weltliche Gesellschaft angewandt wissen wollte. Damit trat er in den offenen Widerspruch zur Papstkirche, deren Haupt, Alexander VI., er wegen seiner allgemein bekannten Sittenlosigkeit und ungezügelten politischen Machtgelüste schonungslos angriff. Lag eine solche Kritik durchaus im Sinne der Medici, so änderte sich das Bild total, als Savonarola auch den »Popolo grasso« von Florenz zur Zielscheibe seiner die Massen aufwühlenden Predigten machte. Über seine Beredsamkeit schrieb Jacob Burckhardt:
... . in Savonarolas Rede lag jene hohe persönliche Gewalt, welche wohl von da bis auf Luther nicht wieder vorgekommen ist.« Seitdem der von ihm vorhergesagte Sturz der Medici durch den Einmarsch der Franzosen unter Karl VIII. Wirklichkeit geworden war (1494), stand er im Rufe, ein »Prophet Gottes« zu sein. Savonarola begrüßte in völliger Verkennung der für Italien heraufziehenden Tragödie Karl VIII. als Werkzeug Gottes, um das »sündige Italien« zu strafen. Bis 1498 lag die Macht faktisch bei Savonarola und seinen Anhängern. Demokratische Reformen, wie die Tilgung aller Schulden der Armen, das Verbot des Wuchers oder die progressive Besteuerung der Reichen, festigten seine Popularität unter dem einfachen Volke; selbst Vertreter des »Popolo grasso« konnten sich der Faszination seines Wortes nicht entziehen und nahmen das strenge Klosterleben auf sich. Unter dem Motto »Jesus Christus Rex populi florentini« gewann die Macht Savonarolas zunehmend theokratische Züge. Um die gepredigte Sittenstrenge durchzusetzen, sollten alle »Luxusgegenstände« der Vernichtung anheimgegeben werden. Das geschah in Form großer »Opferbrände«: Riesige Pyramiden von Luxusgewändern, »unsittlichen« Büchern (Boccaccio, Petrarca und viele andere), Frauenschmuck, Musikinstrumenten, Karten- und Brettspielen, dazu die Gemälde von freizügig dargebotenen Frauengestalten gingen in Flammen auf. Vergeblich bot ein venezianischer Kaufmann 20.000 Dukaten für die Schätze einer solchen Pyramide. Die sozial-revolutionären Konsequenzen des reformatorisch-asketischen Eifers Savonarolas trafen bald auf den Widerstand des in seiner Macht eingeschränkten »Popolo grasso«. Vor dieser Gefahr verblaßte für den Moment sogar der Dauerkonflikt mit dem Papst. Um Savonarola zu isolieren, erfolgte seine Exkommunizierung (1497) unter der Anklage des ständigen Ungehorsams. Savonarola antwortete mit der Forderung nach einem Konzil, um den »Antichrist« Alexander VI. abzusetzen. Als verhängnisvoll für ihn erwies sich, daß die französischen »Befreier« durch ihre Plünderungen und Gewalttaten Reiche wie Arme in eine gemeinsame Widerstandsfront brachten. Da die Franzosen unter dem Druck einer Gegenkoalition Italien räumen mußten, war das Schicksal Savonarolas besiegelt. Dem ungehorsamen Mönch und Ketzer wurde der Prozeß gemacht, und er mußte härteste Formen der Folter erleiden. Gemeinsam mit zwei anderen Dominikanermönchen endete Savonarola durch den Strang; die Leichen der Märtyrer wurden öffentlich verbrannt. Mit spanischer Hilfe stellten die Medici im Jahre 1512 ihre alte Macht wieder her. Kein Bemühen, jedes Andenken an Savonarola auszulöschen, vermochte seine Verehrung als Heiligen durch die Armen von Florenz zu verhindern. Je tiefer Italien im Chaos versank, um so mehr verklärte sich in der Erinnerung das Bild des großen Herausforderers der geistlichen und weltlichen Macht seiner Zeit. — Was in Italien scheiterte, fand nördlich der Alpen seine Vollendung.

Blüte des deutschen Frühkapitalismus

Am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts stand der deutsche Frühkapitahismus auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Florierender Fernhandel, wachsende Akkumulation von Geldkapital, Aufschwung von Bergbau und Textilherstellung, Ausbreitung des Verlagswesens gehörten zu den hervorstechenden Merkmalen. Die Verbindungen der großen Handels- und Kapitalgesellschaften — die bekanntesten: Fugger, Welser, Hochstetter, Paumgarmer, Imhof, Tucher — reichten über ganz Europa und bis nach Übersee. Mit dem »Asiento« von 1528 besaßen die Welser das Monopol des Sklavenhandels für das spanische Amerika, jedoch scheiterte ihr Versuch, ein eigenes Kolonialimperium in Venezuela aufzubauen. Die Fugger beteiligten sich an der Finanzierung der Magalhäesexpedition, und zeitweilig hegten sie koloniale Pläne für das Gebiet des heutigen Chile.

Die alles überragende Macht der Fugger fußte auf ihrer Verbindung zum Hause Habsburg, die ihnen allerdings am Ende zum Verhängnis gereichen sollte. Von 1464 bis 1546 erhöhte sich das Vermögen der Fugger von 100.000 auf sieben Millionen Gulden. Sie stiegen zum führenden europäischen Bankhaus auf und besaßen dank kaiserlichen Privilegs die einträglichen ungarischen Kupfergruben. Das Rückgrat der wirtschaftlichen Konjunktur Deutschlands bildete eindeutig der Bergbau, dessen jährlicher Produktionswert bei zwei Millionen Gulden lag. Über den Verlag drang das Kaufmannskapital in das Zunftgewerbe ein und begann dessen starre mittelalterliche Organisationsformen aufzulösen. Trotz dieser voranschreitenden Verbindung von Kaufmannskapital und gewerblicher Produktion bedeutete — wieder mit Ausnahme des Bergbaus — Kapital in dieser Zeit vor allem Handels-, Bank- und Wucherkapital. Im europäischen Handel bildeten deutsche Städte (z. B. Frankfurt am Main, Augsburg, Leipzig) die Drehscheiben der Nord-Süd- und der West-Ostverbindungen. Der Warenverkehr im norddeutschen Raum und zwischen Ost- und Nordsee lag noch immer fast ausschließlich in den Händen der Hansestädte.

Die Schwäche der frühkapitalistischen Entwicklung in Deutschland bestand darin, daß sich das Handels-, Bank- und Wucherkapital in das bestehende Feudalsystem weitgehend einpaßte. Beispielhaft stellt sich diese Interessensymbiose an der engen Verbindung der Fugger mit dem Haus Habsburg dar. Die neuen Kapitalformen beschleunigten zwar die Verbreitung der Ware-Geld-Beziehungen und führten zur Auflösung traditioneller feudaler Formen, ohne jedoch das Feudalsystem als Ganzes aus den Angeln zu heben; im Gegenteil, sie wirkten in gewisser Hinsicht »modernisierend« und damit stabilisierend. Auch bleibt zu beachten, daß die frühkapitalistische Entwicklung nicht das ganze Land erfaßte, sondern — gleichsam »insular« — auf regionale Zentren, die nicht selten gegeneinander gerichtete Sonderinteressen verfolgten, eingegrenzt blieb; ein übergreifender nationaler Markt kam nicht zustande. Mit Italien teilte Deutschland das Schicksal des Fehlens einer starken nationalen Monarchie englischen oder französischen Typs. Die Interessen der römisch-deutschen Kaiser waren primär universaler und nicht nationalstaatlicher Natur: Karl V. repräsentierte das letzte klassische Glied in dieser Kette. An der Basis dagegen festigte der »Bergsegen« die Stellung der fürstlichen Territorialgewalten; d.h. dieselben ökonomischen Triebkräfte, die in anderen Staaten auf eine nationale Zentralisation drängten, begünstigten im Falle des Heiligen Römischen Reiches infolge der spezifischen politischen Machtverhältnisse die territoriale Aufsplitterung (»dezentralisierte Zentralisation«). Ein entscheidendes, letztlich wohl bestimmendes Schwächeelement der frühkapitalistischen Entwicklung und die eigentliche Ursache für ihre Reversibilität bestand darin, daß sie nicht den Agrarsektor erfaßte. Hierauf aber stützte sich ökonomisch die Feudalgesellschaft. Von den etwa 13 Millionen Einwohnern der deutschen Territorien lebten 90 Prozent auf dem Lande. Gebiete wie Sachsen, wo das Verhältnis Stadt — Land fast eins zu zwei betrug, bildeten die absolute Ausnahme. Während sich in England um diese Zeit bereits die »Agrarrevolution« ankündigte, gekennzeichnet durch die Enteignung der Bauern und den Übergang zur effektiven Großpacht, änderten sich in Deutschland weder die herkömmliche Feudalverfassung noch die Produktionsformen (trotz bestimmter Fortschritte in der Viehzucht, dem Weinanbau und dem Anbau technischer Kulturen: Waid).

Grundzüge der Sozialstruktur

Für die soziale Struktur am Vorabend der Revolution war eine Tendenz zur Polarisierung kennzeichnend, die keine Ebene der Standespyramide ausnahm. Innerhalb der herrschenden Feudalklasse verschärften sich die Differenzierung und der Interessengegensatz zwischen dem Hochadel, d.h. den weltlichen und geistlichen Territorialfürsten, einerseits und dem mittleren und niederen Adel andererseits. Die regionale Zentralisation auf territorialfürstlicher Basis ging in hohem Maße zu Lasten des mittleren und niederen Adels, der seine ökonomische und politische Unabhängigkeit mehr und mehr in Frage gestellt sah. Nur in einigen Regionen, besonders im deutschen Südwesten, vermochte der mittlere Adel seine Position noch zu behaupten, während der niedere Adel, einschließlich der Reichsritterschaft, dem Ruin entgegentrieb und in Gestalt des Raubritters zu einem der Hauptpeiniger der Bauernschaft und zum Plünderer der über das Land ziehenden Kaufleute degenerierte. Feudale Fehden gehörten zum politischen Alltag.

In den Städten lag die ökonomische und politische Lokalgewalt bei den Patriziern, die sich aus Grundbesitzern, großen Handelsherren, Bankiers und reichen Zunftmeistern rekrutierten. Ihr Engagement in der frühkapitalistischen Wirtschaft verband sich in der Regel mit einer konservativen politischen Haltung, die aus dem offenen sozialen Widerspruch zur Masse der übrigen Stadtbevölkerung und der von den Städten beherrschten umliegenden Landgebiete resultierte. Dieses städtische Patriziat hatte sich noch nicht vom Feudalsystem abgenabelt, es war vielmehr ein organisches Element dieses Systems; die Züge einer modernen Bourgeoisie fehlten dem Patriziat weitestgehend. Hieraus erklären sich die Schwäche und am Ende das Versagen der bürgerlichen Hegemonie in der kommenden Revolution. Unterhalb des Patriziats existierte eine breite, obwohl in ihrer Zusammensetzung sehr amorphe bürgerliche Zwischenschicht, bestehend aus weniger wohlhabenden Kaufleuten, Handwerkern und kleinen Unternehmern. Eine besondere Stellung nahm die akademische Bildungsschicht (Geistliche, Juristen, Schreiber, Magister der Universitäten) ein, die sich den Ideen des Humanismus öffnete und in der Reformation oder auch als Sprecher der radikal-demokratischen Kräfte eine entscheidende Rolle spielte. Die Basis der städtischen Sozialpyramide bestand aus der Masse der plebejischen Elemente, vom verarmten Handwerker und Zunftgesellen über die große Zahl der Tagelöhner und die sporadisch auftretenden Lohnarbeiter bis hin zum Lumpenproletariat, einschließlich der Bettlerscharen und der Dirnen.

Die Bauernschaft stellte sich, trotz beginnender struktureller Veränderungen (Herausbildung von wohlhabenden Besitzbauern), als eine noch im wesentlichen geschlossene Masse feudal-abhängiger Bauern dar. Ihre härteste Ausprägung fand die Abhängigkeit in der Leibeigenschaft, die um 1500 vor allem in west-südwestdeutschen Gebieten, dem Ausgangspunkt des Großen Bauernkrieges, die Lage der bäuerlichen Bevölkerung bestimmte. Je kleiner der Adelsbesitz war, um so intensiver die Ausbeutung. Ein weiteres Moment der Verelendung der Bauern bestand in der fortschreitenden Erbteilung des bäuerlichen Besitzes und im Raub der Allmende durch die Feudalherren. Die Bauernschaft litt unter einer dreifachen Ausbeutung: Arbeitsleistung für und Zahlungen an den Grundherrn, Abgaben an die Kirche (von denen der besonders verhaßte Zehnt nur einen Teil darstellte), Steuerpflicht gegenüber dem Landesherrn. Viele

Vorboten des Bauernkrieges

zeitgenössische Dokumente weisen aus, daß um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert das Maß des Erträglichen erreicht und überschritten war. Es bedurfte also keiner besonderen prophetisehen Gabe, wenn Johannes Lichtenberger in seiner »Prognosticatio« von 1488 ein Verbündnis der Bauern für 1513 und »eine neue Reformation, ein neues Gesetz und ein neues Reich« ankündigte, oder Leonhard Rymnan mit seiner berühmten »Practica« von 1523 für das folgende Jahr verhieß:
"Die Bauern und das gemeine Volk von vielen Orten werden [ein] Verbündnis machen, sich zusammentun und erheben über und wider ihren König, Fürsten und Herrschaften geistlicher und weltlicher Stände, allenthalben zugreifen, rauben und nehmen. . . ‚ also daß zwischen den Reichen und Armen wenig Unterschied gesehen. . ."
Von der großen Mehrheit der abhängigen Bauernschaft hob sich eine schmale Schicht wohlhabender Bauern ab, die — vor allem in Verbindung mit einer marktorientierten Produktion — einen gewissen Reichtum akkumuliert hatten und deshalb an einem Abbau der feudalen Fesseln interessiert waren. Aus ihren Reihen kamen nicht wenige der revolutionären Bauernsprecher.

Bereits im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts begann sich der spontane bäuerliche Widerstand in vielfältigen Aktionen zu entladen. Sozialer Protest fand zumeist in mystisch-religiösen Formen seinen Ausdruck. Ein erstes Signal kam 1476 aus dem Taubertal, wo der Hirt und Musikant Hans Böheim, genannt der Pfeifer von Niklashausen, mit seinen Bußpredigten Tausende von Gläubigen anzog. Nach seiner Verheißung sollte es bald weder Papst noch Kaiser und keine Abgaben oder Fron mehr geben. Noch umfassender entwickelte sich ab 1493 die Bundschuhbewegung, die über den Ursprungsort Schlettstadt — bemerkenswerterweise ein Zentrum humanistischer Studien — hinauswuchs und neben Bauern auch Teile der städtischen Bevölkerung erfaßte. Trotz rascher Niederschlagung lebte der Bundschuh 1502 im Bistum Speyer erneut auf; an der Spitze der konspirativ wirkenden Bewegung stand jetzt der leibeigene Bauer Joß Fritz. Der Grundsatz:
"Nichts denn die Gerechtigkeit Gottes!"
gab das Leitmotiv des Bauernkrieges vor. Im Programm der Verschwörer verbanden sich antiklerikale und antifeudale Forderungen nach dem »alten Recht«, d.h. der Wiederherstellung einer einst existierenden Gleichheit vor den Herren. Auf die Bundschuhbewegung, die um 1513 getilgt schien, folgte 1514 in Württemberg der Aufstand des Armen Konrad, der sich gegen die unerträglichen Steuerlasten wandte. Als Luther seinen Thesenanschlag vorbereitete, ging der unermüdliche Joß Fritz daran, im Westen und Südwesten des Reiches erneut eine Bundschuhverschwörung aufzubauen. Es fehlte nur noch die Lunte, um das bis zum Rand gefüllte Pulverfaß zur Explosion zu bringen. Für die unruhigen Bauern wurde der wiederholt seinen Häschern entkommene Joß Fritz zur Symbolgestalt; er soll als alter Mann zu Beginn des Großen Krieges noch gesehen worden sein...

Für die rasche Ausbreitung der Reformation gewann große Bedeutung, daß mit den Bauern auch viele Städte in Bewegung gerieten. Die innerstädtischen Auseinandersetzungen erreichten in den Jahren 1509 bis 1514 ihre größte Ausdehnung und Schärfe; der ursprünglich auf den Kampf der Zünfte gegen das patrizische Stadtregiment eingegrenzte Konflikt erfaßte nun in wachsendem Maße die plebejischen Unterschichten, deren sozial-religiöser Protest in den kommenden Jahrzehnten im radikalen Täufertum (Anabaptismus) seinen Niederschlag fand.

Deutsche Humanisten

Ungleich nachhaltiger als in Italien beackerten die Humanisten in Deutschland den Boden, aus dem die Auflehnung gegen die Papstkirche erwuchs; ihre Kritik förderte ein antirömisch geprägtes Nationalbewußtsein. Zwar fehlte dem deutschen Humanismus der starke Rückhalt eines politisch selbstbewußten Stadtbürgertums, auch von einer Opposition gegen das Landesfürstentum blieb wenig zu spüren, trotzdem minderten diese Schwächen nicht die historische Tragweite des Wirkens. Was den deutschen mit dem italienischen Humanismus verband, war die Hoffnung, die Papstkirche von innen heraus reformieren zu können; nur wenige Humanisten brachen mit der Kirche, die Mehrheit stand Luthers Reformation ablehnend gegenüber, eine Haltung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Jedoch gab es in Deutschland, im Unterschied zu Italien, eine gesellschaftliche Krisensituation, die dem humanistischen Denken ein Echo verschaffte, das rasch über die subjektiven Absichten seiner Autoren hinwegging. In Philosophie, Geschichtsschreibung und Naturwissenschaften brillierten an Lateinschulen und Universitäten, allen voran das Humanistenzentmum Erfurt, Nicolaus von Cues, Mutianus Rufus, Jakob Wimpheling, Willibald Pirckheimer, Johann Agricola, Regiomontanus, Georgius Agricola . . . Ein Klima des geistigen Aufbruchs herrschte. Mit überschäumender Begeisterung schrieb Ulrich von Hutten, Ritter und Träger des kaiserlichen Dichterlorbeers, an Pirckheimer:
"Oh Jahrhundert, oh Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben, die Studien blühen... ‚ nimm den Strick Barbarei und geh‘ in‘s Exil."
Stolz auf die eigene Nation spach aus den Worten von Conrad Celtes:
"Einige freilich rühmen sich, Gallien und Spanien, beide Sarmatien und Pannonien und sogar überseeische Länder durchwandert und geschaut zu haben, ich aber achte nicht geringer an Wert die deutschen Länder sowie die Menschen, die darin wohnen."
Zu denen, die »sogar überseeische Länder durchwandert und geschaut« hatten, gehörten Nikolaus Federmann, der Venezuela für die Welser zu erobern hoffte, und Hans Staden, der zum »ersten Geschichtsschreiber« Brasiliens wurde. An den Fahrten der Portugiesen entlang der afrikanischen Küste nahm ein Edelmann aus Nürnberg, Martin Behaim, teil; er schuf den ersten Globus.

Reuchlinstreit

Neben der überragenden Gestalt des Erasmus von Rotterdam, dessen Leben und Werk die Inkarnation des Humanismus außerhalb Italiens darstellten, stand Johannes Reuchlin; die um ihn entbrannte Fehde bildete ein unmittelbares Vorspiel zu den Ereignissen ab 1517. Reuchlin stammte aus Pforzheim, absolvierte deutsche und französische Universitäten, durchzog Italien, geriet dort unter den Einfluß der Ideen Picos, wurde der bedeutendste deutsche Gräzist und schuf die erste hebräische Sprachlehre (»De rudimentis hebraicis libri tres«, 1503). Als Reuchlin 1510 gegen den Dominikaner Johann Pfefferkorn, einen speichelleckerischen Konvertiten, der alle jüdisch-rabbinischen Schriften verbrannt wissen wollte, das kulturelle Erbe des Judentums vehement verteidigte, gab er den Anstoß für eine breite literarisch-philosophische Auseinandersetzung, die mit seiner Verurteilung durch ein päpstliches Breve endete. Den moralischen Sieg trug jedoch Reuchlin davon. In den »Epistolae obscurorum virorum« (Dunkelmännerbriefe, 1515—1517) gaben Reuchlins Freunde (Crotus Rubeanus, Ulrich von Hutten, Hermann von dem Busche) den Obskurantismus der Dominikaner der Lächerlichkeit preis. Die von Hutten geschriebenen Teile brachten am schärfsten die antirömische Stimmung und die Kritik am moralischen und geistigen Verfall der Kirche zum Ausdruck. Hutten vermochte sich eine Reichsreform ohne vorangehende Kirchenreform nicht vorzustellen.

Versuche einer Reichsreform

Die allerorts aufkeimende Unruhe, oft nur um den Preis der offenen Gewalt gebändigt, entging den Herrschenden nicht. Neben die allgemein anerkannte, von der Kurie jedoch blockierte Forderung nach einer Kirchenreform trat in Deutschland der Gedanke einer Reichsreform, um der inneren Krise zu begegnen, aber auch die Abwehrkräfte nach außen, gegen das expansiv auftretende Frankreich, vor allem gegen die drohende osmanische Gefahr zu stärken. Auf dem Frankfurter Reichstag (1485/86) profilierte sich eine kurfürstliche Reformpartei um den Mainzer Kurfürsten und Erzbischof Berthold von Henneberg:
Allerdings fußte der Reformgedanke auf dem Dualismus von Krone und Reichsständen, was in der Formel »Kaiser und Reich« den Ausdruck fand. Eine starke Zentralgewalt wurde selbst von den reformwilligen Fürsten abgelehnt, womit jede wesentliche Änderung am bestehenden politischen Machtgefüge illusorisch blieb. Unter Kaiser Maximilian I. beschloß der Reichstag von Worms 1495 vier Reformgesetze: Dem folgte im Jahre 1500 die Einrichtung eines »Reichsregiments«, bestehend aus 20 Repräsentanten der Fürsten an der Seite des Kaisers. Da jedoch die Fürsten ihre »Libertät« gegen die »viehische Servitut« vor dem Kaiser verteidigten und mit Karl V. bald ein Herrscher den Thron einnahm, dem die nationalen deutschen Interessen fremd blieben, scheiterte die Reichsreform in allen wesentlichen Punkten. Als Relikt blieb das dahinschlummernde Reichskammergericht. Die letzte Möglichkeit, der Krise von oben Herr zu werden, war endgültig vertan.

Die Bündelung der gesellschaftlichen Widersprüche ließ an Kompliziertheit nichts zu wünschen übrig: Bauer gegen Grundherr, Bürger gegen Plebejer, Fürsten gegen Städte und niederen Adel, Kaiser gegen das »Reich«, Universal- und Territorial- gegen Nationalinteresse, humanistisches Denken gegen Scholastik und klerikalen Obskurantismus, das Ganze wehrlos gegen den immer dreisteren Zugriff der Papstkirche. In diese Atmosphäre machtpolitischer Kämpfe, obrigkeitlicher Interessenkonflikte, nationaler Ohnmacht, unerträglichen Elends, apokalyptischer und chiliastischer Erwartungen, geprägt von Wunderglauben, religiöser Hysterie, wiederentdeckter verinnerlichter Frömmigkeit, eines von Renaissance und Humanismus gedanklich geprägten und künstlerisch in Dürer, Cranach, Holbein, Grünewald gipfelnden Diesseitsverständnisses, der Auflösung traditioneller Wertvorstellungen, gepaart mit der verzweifelten Suche nach neuen Fixpunkten, an denen der »geworfene« Mensch Halt

Martin Luther

finden konnte, schlug Martin Luthers historische Tat, von ihm weder so gewollt noch erahnt, wie ein Blitz ein.

Martin Luther, geboren am 10. November 1483 in Eisleben, kam aus einer bäuerlichen Familie, die sich dem Bergbau zugewandt hatte und in Mansfeld Anteile an einigen Hütten erwerben konnte. Die Unwägbarkeiten frühkapitalistischen Gewinns reflektierten sich im Schicksal des Elternhauses, was Luthers spätere Kritik an den »Monopolia« und seine -- in den Altersjahren aus Desillusioniemung und Pessimismus am Menschen und der Welt geborene — antijüdische Mentalität vielleicht mit zu erklären vermag. Der junge Luther war nach des Vaters Willen zum Juristen bestellt, seine Bildungsstationen: Mansfeld, Magdeburg, Eisenach und schließlich die in ihrer Zeit gerühmte Universität Erfurt, wo er 1505 zum Magister artium promovierte. Im selben Jahr erfolgte die entscheidende Wende seines Lebens. Von religiösen Gewissensfragen getrieben, die ihn immer mehr an seiner weltlichen Laufbahn zweifeln ließen, vollzog Luther in Erfüllung eines in großer Lebensgefahr abgelegten Gelübdes den Eintritt in den Augustinerorden (17.Juli 1505). Seine religiöse Überzeugung formte sich unter dem Einfluß Augustins und der späten Scholastik, besonders der Ideen von Wilhelm von Ockham. Religiöses Ringen, zentriert um den gnädigen Gott, verband sich bei Luther mit zunehmender Kritik an den kirchlichen Zuständen. Nach erfolgreicher Promotion zum Doktor der Theologie (1512) übernahm Luther 1513 in der Nachfolge seines Lehrers Johann von Staupitz die Professur an der Universität Wittenberg. Vor allem die Römerbriefstudien, aus denen er die ihn später beherrschende Erkenntnis der Gnade durch den Glauben: »Sola fide« (allein durch den Glauben) gewann, brachten ihn in Widerspruch zu den offiziellen Auslegungen der Bibel.
"Die römische Kirche ist gänzlich verderbt und verseucht, ein ungeheuerliches Chaos aller erdenklichen Liederlichkeiten, Lächerlichkeiten, Schlemmereien, Ambitionen und gotteslästerlichen Frevel"
so lautete eine persönliche Notiz von 1516, in die gewiß die Erfahrungen seines Romaufenthaltes von 1510 eingeflossen waren. Zutiefst von der Notwendigkeit einer Reformation überzeugt, verstand Luther darunter keinen Bruch mit den kirchlichen Autoritäten, vielmehr ging es ihm um eine Erneuerung im Sinne der Rückkehr zu den altreligiösen Werten. Als der Bruch dann doch vollzogen wurde, sah er nicht sich als Ketzer, sondern die Anhänger der Papstkirche. Sein subjektiv konservativer Ausgangspunkt zeigte sich auch an der Distanz, die er, trotz gelegentlicher Berührung, den Humanisten gegenüber wahrte.

95 Thesen

Mit seinen 95 Thesen über den Ablaß, die er der Legende nach an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg schlug (31. Oktober 1517), wollte Luther zu einer akademischen Disputation herausfordern, hatte jedoch stattdessen ein Problem aufgegriffen, das die breite Öffentlichkeit seit langem bewegte. Der Hintergrund:
Im Jahr 1506 ließ Papst Julius II. für den Neubau des Petersdoms in Rom einen Jubiläumsablaß ausschreiben, den Leo X. 1514 erneuerte. Die deutschen Territorien boten das bevorzugte Feld für die finanzielle Aussaugung durch die Papstkirche. Mit besonderem Geschick vertrieb der Donmmikanerpater Johann Tetzel, ein Meister religiöser Beredsamkeit, den Ablaß; ihn begleiteten Beauftragte der Fuggerei, der für geleistete Vorschüsse 50 Prozent des Seelengeldes zustanden. Luthers Thesen stellten den Ablaß (noch) nicht in Frage, kritisierten jedoch in aller Schärfe den Mißbrauch; eben darin bestand der Kernpunkt, der einen Teil der Fürsten, die Mehrheit der Bürger und die Masse der Bauern und Plebejer in eine gemeinsame antirömische Front brachte. Das allgemeine Krisenbewußtsein verdichtete sich um diese, die ganze Nation bewegende Frage. Spontane Nachauflagen der Thesen zirkulierten im ganzen Land, die Ablaßkrämer sahen sich gemieden, die Kurie hätte alarmiert sein müssen. Papst Leo X. glaubte jedoch, es handele sich bei den Querelen nördlich der Alpen um »Mönchsgezänk«, bald überzeugten ihn allerdings die inquisitorischen Dominikaner, daß Martin Luther irre, vermessen auftrete und ein Ketzer sei. Sollte ihm das Schicksal eines Hus und Savonarola beschieden sein, oder konnte er auf andere Weise zum Schweigen gebracht werden? Schon im März 1518 lehnte Luther einen Widerruf ab, in seiner Verteidigung bediente er sich nun der deutschen Sprache — so in der Antwort »Sermon von Ablaß und Gnade« gegen die »Obelisci« des Ingolstädter Theologieprofessors Johann Eck — und sprengte bewußt den engen Kreis eines Gelehrtenstreites. Als der päpstliche Kardinallegat für Deutschland Cajetanus auf Grund der Verurteilung Luthers als Ketzer »in contumaciamn« die Auslieferung von seinem Landesherrn Friedrich dem Weisen, Kurfürst von Sachsen, verlangte, lehnte dieser kategorisch ab. Damit stand Kurfürst Friedrich nicht nur im Widerspruch zur Kurie, sondern auch zum Kaiser, der den Bann gegen den rebellischen Mönch gefordert hatte. Luther wurde zu einer Zentralfigur im machtpolitischen Dreieckskonflikt Krone — Kurie — Fürstengewalt. Da Friedrichs Stimme für die anstehende Kaiserwahl ein bedeutendes Gewicht (und finanziellen Wert) besaß, er sogar als möglicher Kandidat galt, war die Kurie zu dem Zugeständnis gezwungen, Luther in Deutschland zu verhören und nicht in Rom, was sicher sein physisches Ende bedeutet hätte.

Für den Moment rückte die nach dem Tode Maximilians I. erforderliche Wahl des neuen Kaisers (1519) die Aufmerksamkeit von Luther ab und ermöglichte ein Stillhalteabkommen, den

Kaiserwahl von 1519

»Schweigevertrag« vom Januar 1519. Um die römisch-deutsche Krone bewarben sich zwei Kandidaten: Franz I. von Frankreich und Karl I. von Spanien, der Enkel Maximilians I. In der Hoffnung, einen schwachen Herrscher zu bekommen, entschied sich die Mehrheit der Kurfürsten für Karl; eigentlich hatten jedoch die Fugger den neuen Kaiser (jetzt Karl V.) gewählt, da sie die notwendigen 852.000 Gulden für den Stimmenkauf aufbrachten — eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der »deutschen« Kurfürsten. In einem Punkte ging die Rechnung auf: Karl V. waren zumeist die Hände gebunden, um in die deutschen Belange mit der erforderlichen Energie eingreifen zu können. Stets führte er einen Mehrfrontenkampf: gegen den Hauptfeind Frankreich um Besitz in Italien, gegen die universalen Machtansprüche des Papstes, die seine eigene Universalpolitik überkreuzten, gegen die bis in das westliche Mittelmeer vorstoßenden Osmanen, dazu die Obhut über ein von Amerika bis Asien reichendes Kolonialimperium. Er war der erste und einzige europäisch-amerikanisch-asiatische Kaiser. Auch an der »inneren Front« stand Karl V. vor einem Doppelkonflikt: Parallel zur beginnenden Ausbreitung der deutschen Reformation sah er sich in Spanien mit der Revolution der kastilischen Städte und der Handwerkszünfte im Süden des Landes (Comuneros und Germanías, 1519—1523) konfrontiert. Trotzdem sollte es sich erweisen, daß Karl V. nicht jener schwache und anfällige Jüngling war wie angenommen.

In den Jahren 1519 bis 1521 gewann die Reformation an Masseneinfluß. Neue kuriale Angriffe gegen ihn entbanden Luther von seiner Schweigepflicht. Der letzte Versuch für ein Kompro-

Leipziger Disputation

miß scheiterte in der Leipziger Disputation vom 27. Juni bis 16. Juli 1519, in der sich Martin Luther und der gefährlich intelligente Kurialist Eck Auge in Auge gegenüberstanden. Luther, um diese Zeit für sich schon überzeugt, daß die Papstkirche den »Antichrist« verkörpere, ließ sich das Bekenntnis abzwingen, die päpstliche Kirche sei keineswegs göttlichen Ursprungs, selbst die Konzilien könnten irren und nicht alle Thesen Wyclifs und Hus‘ seien zu verwerfen. Damit hatte Luther den Rubikon überschritten, die Brücken hinter sich abgebrochen. Von nun an galt nur noch die Alternative: voran oder Kapitulation. Luther war weder von Geist noch Statur der Mann zu kapitulieren. Ecks vermeintlicher Sieg auf der Leipziger Pleißenburg sollte sich als der verhängnisvollste Pyrrhussieg der Papstkirche erweisen.

Luthers Unbeugsamkeit brachte ihm neue Verbündete, der wohl bedeutendste und das künftige Schicksal der Reformation mitentscheidende war der Humanist Philipp Melanchthon. Melanchthon, eigentlich Schwarzerd, ein Großneffe Reuchlins, hatte mit zwölf Jahren das Universitätsstudium begonnen und übernahm mit 21 Jahren die Professur für Griechische Sprache an der Universität Wittenberg, wo er auf die Seite Luthers trat, unter den Humanisten eine der Ausnahmen von der Regel. Auch Ulrich von Hutten bekannte sich zu Luther und in seinem Gefolge die Reichsritterschaft, die ihre führenden Sprecher in Franz von Sickingen und Silvester von Schaumburg besaß. Hutten folgte Luthers Vorbild auch im Gebrauch der deutschen Sprache, damit den fast explosiven Aufschwung eines neuen Nationalgefühls zum Ausdruck bringend:
"Latein ich vor geschrieben hab‘ —
das war ein‘m jeden nit bekannt,
jetzt schrei‘ ich an das Vaterland
deutsch Nation in ihrer Sprach‘,
zu bringen diesen Dingen Rach."
Reformatorische Hauptschriften

Im Bewußtsein ihn tragender Sympathien verfaßte Luther seine drei programmatischen Hauptschriften: »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« (August 1520), »De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium« (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, Oktober) und »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (November). Der Appell an den »christlichen Adel«, d.h. an die gesamte Obrigkeit, plädierte für eine radikale Reform der Kirche, sparte aber unter Rückgriff auf die »Gravamina der deutschen Nation« von 1456 den weltlichen Bereich nicht aus. Luther rüttelte an allen Pfeilern des herkömmlichen Kirchen- und Religionsverständnisses: Er forderte die Rückkehr zur Kirche der Armut, verneinte die geistliche und weltliche Autorität des Papstes, verlangte eine von Rom unabhängige Nationalkirche, forderte ein Ende der finanziellen Ausblutung Deutschlands zugunsten Roms und wollte das geistliche wie weltliche Leben von Grund auf erneuert wissen, einschließlich der Entlastung der geplagten Bauern; er verwarf fünf der sieben Sakramente und ließ nur Taufe und Abendmahl gelten (anfänglich noch die Buße). Säkularisation des Kirchengutes, Auflösung der Klöster, Umwandlung der geistlichen in weltliche Herrschaften — das waren weitere Forderungen, die an die materielle Substanz der Papstkirche rührten und bei Fürsten wie Städten nicht ungehört blieben.

Luther steckte zugleich frühzeitig die Grenze seines Tuns ab. In der Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, die Luthers Sprachgewalt in faszinierender Form zum Ausdruck brachte und ihn auf dem Höhepunkt seiner geistigen Schöpferkraft zeigte, trennte er deutlich die »innere« Freiheit des Gläubigen von der Notwendigkeit, die bestehende Obrigkeit anzuerkennen
"Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan"
Seine spätere Wende gegen die aufständischen Bauern war also kein »Verrat« an sich selbst oder an der Sache, sie lag in der Konsequenz seiner nie veränderten Grundhaltung.

Angesichts der rasch voranschreitenden reformatorischen Bewegung, die von vielen Anhängern Luthers (Brenz, Bucer, Eberling u. a.) in fast alle deutschen Territorien getragen wurde, vollzog Papst Leo X. den entscheidenden Schritt: Er unterzeichnete

Unter Bann und Reichsacht

die Bannandrohungsbulle gegen den Ketzer (»Exsurge domine«, 15. Juni 1520), die 41 Sätze Luthers als häretisch verwarf, den Widerruf innerhalb von 60 Tagen forderte und Luthers Schriften dem Feuer überantwortete. Der Verurteilte entgegnete mit einer ungeheuerlichen Geste: schriftlich mit dem Text »Adversus exsecrabilem Antichristi bullam« (Gegen die fluchwürdige Bulle des Antichrist), in der Tat durch die Verbrennung der Bannandrohungsbulle und anderer kirchlicher Dokumente vor den Toren Wittenbergs (10. Dezember 1520). Das nationale Echo auf diese Handlung überstieg alles bisher Dagewesene: Ein Mönch hatte die sakrosankte Autorität des Papstes den Flammen übergeben.

Auf Befehl des Kaisers sollte sich Luther für sein Tun vor dem Reichstag zu Worms verantworten und seinen Irrtümern abschwören. Obwohl seine durch die Zusage des freien Geleites gesicherte Fahrt nach Worms einem Triumphzug glich, hing Luthers Schicksal am seidenen Faden. In einer am 18.April 1521 vorgetragenen Rede beharrte er auf seinem Standpunkt, verweigerte den Widerruf und endete mit den Worten: »Gott helfe mir. Amen!« (Das oft zitierte: »Ich kann nicht anders, hier steh‘ ich!« ist spätere Zutat.) Daraufhin erging das »Wormser Edikt«, das über Luther und seine Anhänger die Reichsacht verhängte; der Reformator und die Seinen galten als vogelfrei. Friedrich der Weise, für den Luther ein politisches Faustpfand in der Durchsetzung der eigenen Interessen darstellte, ließ den an Leib und Leben Gefährdeten »entführen« und verbrachte ihn auf die Wartburg (4. Mai 1521), wo er als »Junker Jörg« zehn Monate weilte. Man glaubte Luther tot, alles schien verloren; verzweifelt schrieb Albrecht Dürer:
"0 Gott, Luther ist tot, wer wird uns hinfort das heilige Evangelium so klar vortragen?"
Das Jahr 1521 setzte für den weiteren Verlauf der deutschen frühbürgerlichen Revolution eine tiefgreifende Zäsur. Während Luther die Wartburgzeit für die deutsche Übersetzung des Neuen Testaments nutzte und damit ein Werk schuf, das ihn als genialen Wortschöpfer auswies und auf die weitere Entwicklung und Verbreitung der Nationalsprache von tiefgreifender Wirkung sein sollte, drohte die reformatorische Bewegung seinen Händen zu entgleiten; die Jünger eiferten, den Meister zu übertreffen. Diese Tatsache fand ihren beredten Ausdruck in den

Wittenberger Unruhenr

Wittenberger Unruhen. Radikale Prediger wie Karlstadt (Andreas Bodenstein), Gabriel Zwilling oder Justus Jonas drängten auf Neuerungen in Liturgie und Kirchenverfassung. Dazu gehörte die Aufhebung des Mönchtums, die Beseitigung des Zölibats, die Reform der Messe — selbst Melanchthon erteilte das Abendmahl »sub utraque« —‚ die Einrichtung eines »gemeinen Kastens« für die Unterstützung der Armen (als Teil der vom Rat beschlossenen »Ordnung der Stadt Wittenberg«), schließlich kam es zur gewaltsamen Entfernung von Bildern und Heiligenfiguren aus den Kirchen. Die Unruhen erreichten den Siedepunkt, als die »Propheten« Nildas Storch, Thomas Drechsel und Markus Stübner aus Zwickau nach Wittenberg kamen. Luther sah sein Werk durch die »Schwarmgeister« beschmutzt, entstellt und gefährdet, er verließ sein Asyl und griff im März 1522 mit seinen Invocavitpredigten auf unmißverständliche Weise in den Konflikt ein: Die Reformen wurden drastisch eingeschränkt, die radikalen Prediger vor die Alternative gestellt, das Feld zu räumen oder sich zu unterwerfen. Mit der Schrift »Eine treue Vermahnung an alle Christen. Sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung« (27. März) steckte Luther erneut die Grenzen gegen jede Radikalisierung ab. Schon war der Moment erkennbar, da die Bewegung, die er ausgelöst hatte, über ihn hinwegschreiten würde.

Die Jahre bis 1524, die den Charakter einer Übergangsphase trugen, brachten eine zunehmende Differenzierung innerhalb der antirömischen Bewegung, wobei sich auf komplizierte Weise die rasche geographische Ausdehnung der Reformation in Deutschland, wie auch darüber hinaus, und die daraus folgende Artikulierung regionaler Sonderinteressen mit einer eindeutigen politisch-sozialen Frontenbildung verbanden. In der weiteren Auseinandersetzung standen sich konkurrierende »Lager« (Gruppierungen, Strömungen) gegenüber: Die religiös-politische Revolution nahm unter dem spontanen Druck der Volksmassen den Charakter einer religiös-sozialen Revolution an, wenngleich die Vorstellungen in solcher Richtung noch äußerst unbestimmt blieben.

Hatte Luther der radikal-bürgerlichen Ausbeutung der Reformation in Wittenberg schon eine deutliche Absage erteilt, so

Sickingenfehde

ging er auch gegenüber dem Zug Sickingens gegen das Kurfürstentum Trier (September 1522) auf Distanz. Die Revolte des niederen Adels, dessen soziale Borniertheit und Raubrittermentalität Städter wie Bauern von einer Mitwirkung abhielten, mündete in ein Fiasko. Sickingen starb an einer Verwundung während der Belagerung seiner Burg Landstuhl (7. Mai 1523), Hutten, als Anhänger der Rebellen verfolgt, floh auf die Insel Ufenau im Zürichsee, wo er bald vergessen und qualvoll an einer venerischen Krankheit endete. Seine einstige Hoffnung:
"nimm den Strick Barbarei und geh in‘s Exil"
, zeugte in tragischer Weise gegen ihn. Mit den Reichsrittern zerbrach eine der möglichen Säulen im Ringen um eine Nationalmonarchie.

Der Nürnberger Reichstag von 1524 offenbarte die extrem labile und widersprüchliche politische Situation. Selbst in der katholischen Partei standen sich Anhänger begrenzter Reformen im Sinne der »Gravamina« und Fürsprecher eines rigorosen Durchgreifens gegen die »Ketzer« gegenüber. Kaiser und Kurie drängten auf die Verwirklichung des Wormser Edikts, die Fürsten sagten bedingt zu, die von der Reformation voll erfaßten Städte — Straßburg, Nürnberg, Konstanz und viele andere — lehnten strikt ab, das allgemein geforderte Nationalkonzil wurde auf Weisung Karls V. verboten... Von schwerwiegender Bedeutung erwies sich das im Juni 1524 zwischen Erzherzog Ferdinand (dem Bruder Karls V.), den Herzögen von Bayern und den süddeutschen Bischöfen abgeschlossene Regensburger Bündnis, das den Grundstein für die bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hineinwirkende politisch-konfessionelle Spaltung legte.

Luthers Reformation und das weitere Schicksal der Revolution standen zwischen zwei Feuern: auf der einen Seite die zur Gegenoffensive rüstende katholische Partei, auf der anderen Seite das revolutionäre Lager, das seinen charismatischen Füh-

Thomas Müntzer

rer in Thomas Müntzer fand. Luther — das war die Revolution der Theologie, Müntzer — die Theologie der Revolution.

Was Luther in das Jenseits verlegte, wollte Müntzer auf Erden errichtet wissen. Ihm blieben nicht mehr als fünf Jahre des Ringens um seine die Zeit so unendlich weit übergreifende Vision. Herkunft und Jugend des unerbittlichen Gegenspielers von Luther liegen noch immer im dunkeln, doch darf die Behauptung, er sei armer Herkunft und sein Vater habe am Galgen geendet, inzwischen als Legende gelten. Wie der Mann aussah, von dem der Humanist und spätere Wiedertäufer Melchior Ring meinte, er habe mit seinen Predigten mehr bewegt als Luther durch sein ganzes Leben, wissen wir nur aus Porträtvorstellungen der Nachgeborenen. Vor 1490 in Stolberg geboren, wuchs Müntzer als Sohn einer Handwerkerfamilie heran, die über seine Mutter Anschluß an das Bürgertum von Quedlinburg besaß. Er kam also aus einem Zentrum der frühkapitalistischen Entwicklung, was ohne Zweifel sein Wissen um die Nöte der Ärmsten früh geprägt hat. Erst mit seinem Studium der Theologie in Leipzig ab 1506 wird der Lauf seines Lebens wieder fassbar. Als er 1512 an der Viadrina (Frankfurt/Oder) zum Magister artium promoviert wurde, glänzte er als Kenner der alten Sprachen, der Kirchenväter und antiken Klassiker. Seine erste Begegnung mit Luther fiel — wieder eine Vermutung — in den Winter 1518/19. Obwohl als »Lutheraner« geltend, verfolgte er von Anbeginn einen eigenen geistigen Weg, zu dessen wesentlichen Quellen die Ideen des Mystikers Johann Tauler gehörten. Aus der inmitten der ersten Stürme der Reformation selbst gewählten Einsamkeit eines Beichtvaters im Nonnenkloster Beuditz bei Weißenfels — er soll allerdings den »schönen Maidlein« recht geneigt gewesen sein, ehe er später die entflohene Nonne Ottilie von Gersten ehelichte — kam er auf Luthers Empfehlung als Prediger nach Zwickau (1520). Hier prägte er die ihn endgültig von Luther trennende Lehre vom Kreuz und Geistprinzip aus — nicht der Glaube rechtfertige, sondern der Mensch müsse das Kreuz tragen, bis er den Geist Gottes zu empfangen vermag. Als seine Predigten gegen die »reichen Hansen« zu seiner Entlassung führten, antworteten die seelsorgerisch verwaisten Tuchknappen mit einem Aufstand. Im Boden der frühkapitalistischen Gesellschaftskonflikte und Interessengegensätze trug Müntzers rebellische Saat reiche Frucht. Von Zwickau führte sein Weg in das taboritische Böhmen. Allerdings enttäuschte der »Magister Lutheranus« die gemäßigten utraquistischen Zuhörer in Prag, sein »Prager Anschlag« — mit dem Kemnsatz: »Aber am Volke zweifel ich nicht« — zwang ihn erneut zur Flucht. Über Nordhausen, Jüterbog und Halle trieb es den »willigen Botenläufer Gottes« nach St. Johann zu Allstedt (April 1523). Für kurze, zu kurze Zeit fand Thomas Müntzer hier Ruhe, Seßhaftigkeit und auch familiäre Geborgenheit. In rascher Folge erschienen seine wichtigsten theologischen Schriften, von denen einige zugleich politische Traktate waren: »Deutsches Kirchenamt« und die »Deutsch-evangelische Messe«, »Ordnung und Berechnung des Deutschen Amtes zu Allstedt«, »Von dem gedichteten Glauben«, »Protestation und Entbietung«; ihnen folgte 1524, den unwiderruflichen Bruch mit Luther vollziehend, die »Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens«, die
"Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose sanftlebende Fleisch zu Wittenberg, welches mit verklärter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die erbärmliche [erbarmenswerte] Christenheit also ganz jämmerlich besudelt hat"
und — immer noch auf eine Bekehrung der Herrschenden setzend — die »Fürstenpredigt« vom 13. Juli 1524.

Die Herren verstanden die Warnung wohl; als zudem der von Müntzer geführte »Allstedter Bund« an Einfluß gewann, endeten seine Tage in dieser Stadt. Er verließ sie in dem Bewußtsein, daß die Sache des gemeinen Mannes nur mit dem »Schwert Gideons« (A. T., Rächt. 7,14) erfochten werden konnte:
"Die Herren machen es selber, daß ihnen der arme Mann feind ist. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht weg tun. Wie kann das auf die Dauer gut werden?"
Es konnte nicht »gut werden«, denn als sich Müntzer nach dem ersten mißlungenen Anlauf endgültig im thüringischen Mühlhausen festsetzte, trieb die revolutionäre Gärung unter Plebejern und Bauern dem Höhepunkt entgegen, ihre frühen Entladungen hatte er im Südwesten Deutschlands schon selbst erlebt, ebenso die gnadenlose Abrechnung der Fürsten, die seinen Predigerfreund Johannes Rebmann im oberrheinischen Grießen nach tapferem Widerstand gefangengenommen und geblendet hatten...

Großer Bauemkrieg

Mit dem Großen Krieg der deutschen Bauern, der im Juni 1524 mit der Erhebung der Stühlinger seinen Anfang nahm, trat die frühbürgerliche Revolution in ihre dritte und entscheidende Phase. Der Bauernkrieg war nicht das Produkt der Reformation, und weder Luther noch Müntzer — wie die päpsthich-katholische Seite bald meinte — trugen »Schuld« an seinem Ausbruch; er speiste sich aus den eigenen Quellen des anhaltenden antifeudalen Widerstandes der bäuerlichen Unterschichten, der in der Kette von Bundschuhverschwörungen unmittelbar an den offenen Aufstand herangeführt hatte. Jedoch sahen die kämpfenden Bauern und ihre Führer im neuen Evangelium die Rechtfertigung ihrer Sache, und es waren am Ende vor allem die radikalen Kräfte des linken Flügels, die aus dem neuen Religionsverständnis ein neues, auf völlige Beseitigung der Feudalordnung abzielendes Welt- und Gesellschaftsverständnis ableiteten. Hatte doch Müntzer in seiner Fürstenpredigt schon prophezeit: Würden die Herren den Forderungen des Volkes nachgeben, dann sollten sie am Tage des Jüngsten Gerichts »gnädiglich« zerbrochen werden, stellten sie sich gegen das Volk, dann sollte mit ihnen so verfahren werden wie Hiskia, Josias, Daniel und Elias es mit den Baalspriestern taten — sie würden alle erwürgt, ohne Gnade. Vor allem aus dem Buch Daniel des Alten Testaments wurde die Erwartung von der Aufrichtung des Gottesreiches auf Erden abgeleitet (A.T., Dan. 2,44: ». . . wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen. Er wird alle diese Königreiche zermalmen und zerstören; aber er selbst wird ewig bleiben.«).

Die lokale Erhebung der Stühlinger Bauern unter Hans Müller von Bulgenbach erweiterte sich rasch zu einem allgemeinen Aufstand; der Funke sprang von Dorf zu Dorf und von Landschaft zu Landschaft über. Schon im Juli öffneten die Bürger des reformierten Waldshut den Bauern die Tore. Im Oktober erfaßte der Aufstand das Gebiet Hegaus. In der anschließenden Bewegung im Breisgau (Winter 1524/25) tauchte zum ersten Mal die Forderung auf, nur noch jene Einrichtungen und Auflagen zu tolerieren, die mit dem Evangelium übereinstimmten, das aber hieß, die Rechtmäßigkeit feudaler Untertänigkeit zu bestreiten. Mit dem Anschluß des Klettgaus hatte sich das erste Zentrum des Bauernkrieges voll herausgebildet. Im Februar/März 1525 formierten sich die ersten bewaffneten Bauernlager, die zum Rückgrat des weiteren Kampfes wurden und wodurch die Organisation der Aufständischen eine neue Qualität erreichte: der Baltringer, Oberallgäuer und der Seehaufe, dazu der Unterallgäuer, der Schwarzwald-Hegauer und der Leipheimer Haufe.

Gegen eine rasche Niederschlagung der Bauernkrieger durch die Fürsten wirkte für den Moment eine Reihe von Faktoren: Einige Adlige hielten die zunächst gemäßigten Forderungen der Bauern für verhandlungsfähig, der Herzog Ulrich von Württemberg versuchte sogar, auf dem Feuer sein eigenes politisches Süppchen zu kochen, der Kaiser war in Italien gegen Frankreich und den Papst gebunden, und der Schwäbische Bund hatte Mühe, seine Gefolgschaften mobil zu machen.

Zwölf Artikel

Ein zweites städtisches Zentrum gewannen die aufständischen Bauern im reichsfreien Memmingen, das ebenfalls zur Reformation übergegangen war und die von der Stadt abhängigen Dörfer aus der Leibeigenschaft entlassen hatte. Hier entstanden die von Christoph Schappeler und Sebastian Lotzek verfaßten »Zwölf Artikel«. Mit ihnen überschritt der bäuerliche Protest den lokalen Horizont. Obwohl aus verschiedenen Quellen gespeist und unterschiedliche Handschriften verratend, handelte es sich um den Versuch, die Vielfalt der bäuerlichen Bedrängnisse gegenüber den Herren auf einen Nenner zu bringen und in eine Form zugießen. Die Forderungen stellten das bestehende System nicht in Frage, im Gegenteil, sie respektierten es (»Nicht, daß wir gar frei sein, keine Obrigkeit haben wollen; das lehret uns Gott nicht.«), verlangten aber, auf das Evangelium, vor allem auf das 2. und 5. Buch Mose und den Römerbrief gestützt, eine entscheidende Erleichterung der Lasten von ungerechten Steuern und Fronen, insbesondere der von der Bibel nicht gedeckten Leibeigenschaft, darüber hinaus den Zugang zur Allmende und als zentralen Punkt die freie Wahl ihrer Pfarrer. Das »Memminger Modell« sollte für das Ganze verbindlich sein. Speziell die in der Einleitung enthaltene Berufung auf das Göttliche Recht bezeugt nicht nur die soziale Sprengwirkung der Reformation aus der Sicht der bäuerlichen Massen, auf denen die ganze Last der feudalen Pyramide ruhte und die von Generation zu Generation an Schwere gewann (6. Artikel). Sie bot überdies die zeitweilig einigende Plattform sowohl für die gemäßigten, zu ihrem Unheil auf den vermeintlichen Verhandlungswillen der Herren bauenden Kräfte im bäuerlichen Lager als auch für jene radikalen Elemente, denen eine Lösung im gegenseitigen Einvernehmen immer unwahrscheinlicher erschien.

Die Hoffnung auf ein Kompromiß verflog bereits durch das negative Ergebnis der Verhandlungen mit dem Schwäbischen Bund (25. März 1525), der offensichtlich auf Zeitgewinn zielte, um seine Position für die Generalabrechnung zu verbessern. Nun setzte ein Sturm auf die ritterlichen und fürstlichen Herrensitze sowie die Klöster ein. In dieser Atmosphäre der offenen bewaffneten Konfrontation fanden die wesentlich radikaleren For-

Artikelbrief

derungen des »Artikelbriefes« ein breites Echo. Obwohl der »Amtikelbrief« nicht aus der Feder von Thomas Müntzer stammte, trug er doch deutlich sein geistiges Gepräge. Der Artikelbrief forderte kategorisch den Anschluß an die »christliche Vereinigung und Bruderschaft«: »Wo ihr aber solches abschlagen würdet,. . . tun wir euch in den weltlichen Bann.. .«‚ das hieß nicht weniger als den Ausschluß aus der christlichen (menschlichen) Gemeinschaft. Die Ächtung galt den »Schlössern, Klöstern, Pfaffenstiften« und damit allen Institutionen der weltlichen und geistlichen Macht wie ihren Inhabern; diese könnten sich nur dadurch retten, indem sie ihre Privilegien und ihren Reichtum preisgäben und sich als einfache Brüder der Gemeinschaft anschlössen. Es ging nicht mehr um die Reform, Verbesserung oder Vermenschlichung der feudalen Macht-, Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse, sondern um deren Beseitigung. Auf frühere Überlegungen Müntzers, »wie man herrschen soll«, erfolgte im Artikelbrief die Antwort, wer herrschen soll.

Im Frühjahr 1525 griff die Erhebung der Bauern auf das Fränkische über; ihre allgemein gefürchtete Speerspitze fand die Bewegung im Taubertaler Haufen. Das Neckar-Odenwälder Gebiet stand unter Kuratel des Hellen Haufens, zu dessen Führern Florian Geyer gehörte, einer der — neben Götz von Berlichingen — wenigen Adligen, die auf die Seite der Bauernrevolution getreten waren und für deren Sache ihr Leben verloren. Ein erster militärischer Erfolg gelang dem Hellen Haufen mit der Erstürmung

Sturm auf Weinsberg

von Weinsberg im April 1525: Graf von Helfenstein, ob seiner Grausamkeit bei den Bauern verhaßt, und 13 weitere Adlige wurden durch die Spieße getrieben — eine Tat, die Adel und Städte in Entsetzen erstarren ließ. Schon einen Tag später schloß sich Heilbronn der »Bruderschaft« an; damit gewann die Bauernbewegung des gesamten Südwestens ein politisches Zentrum. Um diese Zeit erreichte die bäuerliche Erhebung, die zugleich in wachsendem Maße bürgerliche und plebejische Schichten in ihren Sog zog, ihre größte Ausdehnung. Ein Beobachter der Kurie berichtete, daß sich über 300.000 Bauern im Aufstand befänden.

Trotz der Heftigkeit der Auseinandersetzung lag der bestimmende Einfluß auf die Bauern noch immer bei den gemäßigten Führern, die an der Hoffnung auf ein Einsehen und Einlenken der Herren festhielten, entgegen allerorts entmutigender Erfahrung. In Georg III., Truchseß von Waldburg und habsburgischer Statthalter in Württemberg, der als Feldhauptmann, d.h. Oberbefehlshaber, an die Spitze des Schwäbischen Bundes trat, fanden die Bauern einen verschlagenen und gnadenlosen Gegner. Meisterhaft beherrschte er die Taktik des Zeitgewinns durch Verhandlungen und Versprechen, um inzwischen den kopflos gewordenen Adel wieder aufzurichten und in eine Front zu bringen. Die ersten Erfolge des Truchseß ließen die innere Schwäche der Bauern, ihre mangelnde Organisation und Ausrüstung, die Querelen ihrer Führer, die tödliche Lokalborniertheit und den naiven Glauben an die Versprechungen der Gegenseite in dramatischer Weise zutage treten. Fast kampflos überrannten die Truppen des Truchseß am 4. April einen Bauernhaufen bei Leipheim, ein gleiches Schicksal traf die Baltringer, die noch im März »Frieden« geschlossen hatten und nun im entscheidenden Moment von den Allgäuern und Seebauern im Stich gelassen

Vertrag von Weingarten

wurden. Und dann kam die Wende von Weingarten: Am 15.April 1525 standen sich 7.000 Mann des Schwäbischen Bundes und 12.000 Aufständische gegenüber. Der Truchseß begriff das Risiko eines Angriffs auf die in günstiger Position stehenden Bauern und setzte wiederum auf Verhandlungen, die zum Vertrag von Weingarten führten. Gegen das vage Versprechen, über die Beschwerden ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen, gaben die Bauern den sicheren militärischen Sieg aus der Hand. Die Bündischen hatten den Rücken frei, um in anderen Gebieten »nach dem Rechten zu sehen«. Die Fürstenpartei begann in die Offensive zu gehen; selbst zwischen katholischen und evangelischen Landesherren wurden bestehende Differenzen zurückgestellt. Im Schwäbischen rüstete der Truchseß, im Hessischen der in der Wahrnahme fürstlicher Interessen mit allen Wassern gewaschene Landgraf Philipp — dessen Beiname »der Großmütige« reinste Blasphemie war, es sei denn, man denkt dabei an sein alle Normen sprengendes Triebleben: Paul Joachimsen nannte ihn »Ehebrecher und Hurer« und »ein echtes Kind seines animalischen Zeitalters« — und im Sächsischen der fanatische Luthergegner Herzog Georg zur »letzten Schlacht«.

Auf dem Höhepunkt des Bauernkrieges im April/Mai 1525 kristallisierte sich neben Schwaben und Franken der mitteldeut-

Aufstand in Thüringen

sche Raum, speziell Thüringen, als das dritte große Zentrum heraus. Im Unterschied zu den anderen Gebieten waren es hier Thomas Müntzer und seine Anhänger, die eindeutig dominierten oder zumindest erheblichen Einfluß besaßen. Aus der fortgeschrittenen frühkapitalistischen Entwicklung dieses Gebietes ergab sich das wesentlich stärkere Gewicht des plebejischen Elements als Träger der religiös-sozialen Radikalisierung. Objektive und subjektive Faktoren gingen im Thüringischen eine besonders wirksame verbindung ein. Von Mitte April bis Anfang Mai überrannte ein allgemeiner Aufstand die meisten weltlichen und geistlichen Herrensitze zwischen Mansfeld und dem Werragebiet. Das große Ziel, die Verbindung mit den fränkischen Bauern herzustellen und Hessen einzunehmen, wies Thomas Müntzer nicht nur als den ideologisch-programmatischen Führer, sondern auch als Organisator und Strategen der revolutionären Bewegung aus. Obwohl die bäuerlich-plebejischen Massen die Hauptträger waren und die Gewalt »dem gemeinen Manne« sein sollte, hoffte auch Müntzer mit der Androhung des »weltlichen Bannes« Teile des Adels und des Patriziats zur Preisgabe ihrer Macht bewegen zu können: Die feudale Ordnung als Ganzes sollte untergehen, ihre Repräsentanten konnten als einfache Glieder der »Bruderschaft« Rettung finden.

Müntzers Tragödie bestand nicht allein darin, zu früh gekommen zu sein und über seine Zeit hinausgedacht und -gewollt zu haben, er scheiterte an ungleich profaneren Dingen. Selbst im Thüringischen gelang es ihm nicht, die Mehrheit zu gewinnen, was ihm immer wieder Kompromisse abzwang, auch hier wirkte die Lokalborniertheit der Akteure, während Müntzer stets den Blick für die großen Zusammenhänge wahrte. Personifizierter Ausdruck dieses unauflösbaren Dilemmas war der Konflikt mit seinem Gefährten Heinrich Pfeiffer.

Am 28. Februar 1525 gelang es Thomas Müntzer, nach Mühlhausen, an den Ort seines größten Einflusses, zurückzukehren, wo er glaubte, die neue Ordnung aufrichten zu können. Den Entwurf dafür hatte er ja schon im September 1524 mit Heinrich Pfeiffer in die »Elf Mühlhäuser Artikel« gefaßt. Seine Wirkungsstätte fand Müntzer in der Pfarrkirche St. Marien; er pre-

Müntzer in Mühlhausen

digte unter der hinter dem Altar aufgepflanzten »Regenbogenfahne«, dem legendären Banner der letzten Wochen und Tage des großen Krieges; bis 2.000 Zuhörer, meist die Ärmsten der Armen, folgten gebannt seinem Worte. Letztlich lassen sich die politischen Verhältnisse im reichsfreien Mühlhausen für die Zeit von März bis Mai als »Doppelherrschaft« bezeichnen. Zwar vermochte der Volksreformator am 17. März 1525 die Einsetzung des »Ewigen Rates« zu erzwingen, der die plebejische Opposition tolerieren und deren politisch-soziale Forderungen erfüllen mußte, aber letztlich doch ein Organ des wohlhabenden Bürgertums blieb, dem sich Heinrich Pfeiffer im Moment der Entscheidung verbunden zeigte. Lokalbomiertheit war beileibe keine bäuerliche Eigenschaft, auch die Städte litten daran. Das erfuhr Müntzer, als er einen Zug in das Eichsfeld unternahm: Städte wie Eisenach, Nordhausen oder Sangerhausen verschlossen sich Müntzer im Bewußtsein der sich abzeichnenden fürstlichen Übermacht. An Sympathien mangelte es dennoch nicht, was fehlte, waren das Wissen und der Blick für das Ganze und der Entschluß zur Tat.

Müntzer blieb nur noch das Vertrauen auf seinen rächenden Gott, während die Fürsten lieber auf ihre Geschütze und Reiter setzten. Auch Martin Luther verließ sich nicht auf das von ihm dem Volke gepredigte Evangelium, unter dessen Schutz die Bauern ihr Handeln gestellt hatten und von dessen Geist ihre Gebete und ihre Gesänge am Vorabend der entscheidenden Schlachten erfüllt waren. Luther sah in Thomas Müntzer die Emanation des leibhaftig gewordenen Satans. Als sich die Schwäbischen erhoben, griff er abwägend mit seiner »Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben« ein: »Denn weltlich Reich kann nicht stehen, wo nicht Ungleichheit ist in Personen, daß etliche frei, etliche gefangen, etliche Herren, etliche Untertanen«; dann folgte im Mai die vernichtende Anklage »Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern«. Jetzt gebot er der Obrigkeit, das Schwert zu führen gegen die vom Erzteufel Müntzer besessenen Bauern: »Drum soll hie zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann und gedenken, daß nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann, denn ein aufrührerischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muß... « Und das Gewissen? »Dünkt das jemand zu hart, der denke, daß unerträglich ist der Aufruhr und alle Stunde der Welt Zerstörung zu erwarten sei.« Wie ein Flamberg hieb Luthers mächtiges Wort auf die Abtrünnigen ein. Die im Endkampf stehenden Bauern mag diese Schrift kaum erreicht und an der Gerechtigkeit Gottes irre gemacht haben, für die Fürsten und ihre dreinschlagenden Knechte aber bot sie Rechtfertigung vor dem Tag und der Geschichte. Gewiß lag Luther am Beweis — wie einst Wyclif gegenüber dem Aufstand von 1381 —‚ nicht der Anstifter zum Kriege gewesen zu sein. Seine Gegner konnte er damit nicht überzeugen, selbst Erasmus von Rotterdam sah den Reformator in der Schuld. Viel empfindlicher traf ihn, daß auch enge Anhänger für diese Abrechnung mit den Bauern kein Verständnis aufbrachten. Ein Widerruf des Unwiderruflichen kam ihm nicht über die Lippen; noch war das Blut der letzten Enthaupteten nicht verronnen, da antwortete er denen, die auf eine Rechtfertigung warteten:
"Barmherzig ist Gott nur mit dem, der nicht auf sein Reich pocht, sondern sich der Gnade getröstet."
Um dieselbe Zeit vollzog Luther in zechfroher Runde die Eheschließung mit Katharina von Bora, einer Nonne, der er 1523 mit acht Gefährtinnen selbst aus dem Kloster zur Flucht verholfen hatte, die aber erst auf dem Umweg über einen Nürnberger Patriziersohn zu ihm, der selbst recht freizügig dachte (»... ich habe drei Frauen zugleich gehabt und so wacker geliebt. . . «)‘ zurückkehrte. Unter den Zeugen der Trauung und des symbolischen Beilagers am 13.Juni 1525 war auch Lucas Cranach; Melanchthon meldete Bedenken an, gehörte aber zu denen, die sich beim großen Hochzeitsmahl vom 27. Juni bei Wildbret und einem »Faß vom besten Torgauischen Bier« ihrer entledigen durften.

Im Mai 1525 rückten Philipp von Hessen, Herzog Georg von Sachsen und Johann von Sachsen, nach dem Tode Friedrichs des Weisen neuer Kurfürst, gegen Thüringen vor. Mit wenigen Anhängern und noch weniger Bewaffnung verließ Müntzer

Das Ende in Frankenhausen

Mühlhausen und zog nach Frankenhausen, wo ihm nochmals Tausende zuströmten. Aber wer konnte das Ende aufhalten? Einer Ubermacht dreier Fürstenheere standen am 14. und 15.Mai 1525 8.000 zum letzten entschlossene Bauern, Bürger und Plebejer gegenüber, nach tapferem Widerstand starben mehr als 6.000 von ihnen, 600 gerieten in die Gefangenschaft, unter ihnen Thomas Müntzer. Graf Ernst von Mansfeld erbat sich Müntzer als »Beutepfennig«. Was ihn erwartete, war die Folter in schwerster Form. Seine letzte Bitte an die Fürsten galt nicht der Gnade für die eigene Person, sondern für das geschändete Volk. Am 27. Mai 1525 — zwei Tage zuvor fiel Mühlhausen — legten Müntzer und Heinrich Pfeiffer, der so lange an seiner Seite gekämpft und seine große Vision doch nicht verstanden hatte, ihr Haupt auf den Richtblock. Zurück blieb eine Frau, die für ihr lebendes und ein noch ungeborenes Kind bat.

Die Niederlage von Frankenhausen und die Einnahme Mühlhausens brachte die unwiderrufliche Entscheidung. Zug um Zug fielen die noch bestehenden isolierten Bauernhaufen den fürstlichen Heeren zum Opfer. Über den Südwesten brach erneut der Truchseß von Waldburg herein. Und noch immer trauten die Bauern seinen Verhandlungsangeboten; so gelangte Stuttgart am 25.April in seine Hände. Jäcklein Rohrbach, einer der Bauernführer, die Widerstand leisteten, wurde bei lebendigem Leibe geröstet. Vor diesem Hintergrund verblaßte das um diese Zeit entstehende, von Wendel Hipler und Friedrich Weigandt

Programm von Heilbronn

verfaßte Heilbronner Programm zu einem Testament der sterbenden Revolution. In den Forderungen nach Reform des Gerichtswesens, Aufhebung der Zölle, Entlastung von Steuern, Einheit der Maße und Gewichte tauchten die Konturen einer vor allem den Interessen der Bürger entsprechenden Reichsordnung auf, die vage Idee einer Nationalmonarchie. Ein Bauernparlament sollte die erforderlichen Beschlüsse fassen, jedoch endete in den Monaten Juni und Juli der letzte bedeutende bäuerliche Widerstand. Nur Grenzpositionen zur Schweiz — wie Waldhut und Gebiete des Klettgaus — hielten sich bis Dezember.

Im Herzen der habsburgischen Lande, in Tirol, losgelöst von den übrigen Zentren des Bauernkrieges, erhoben sich im Mai 1525 die Freibauern und Bergknappen gegen Erzherzog Ferdinand. Der Aufstand nahm seinen Ausgang vom Bistum Brixen. Am 13. Mai wählten die Brixener Bauern den ehemaligen bischöfli-

Michael Gaismair und der Tiroler Bauernkrieg

chen Sekretär, Michael Gaismair, zu ihrem Obristen; sie gewannen damit eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher militärischer, politischer und diplomatischer Begabung für ihre Sache. Ihre Beschwernisse legten die Bauern in 62 Artikeln nieder und ließen sich zunächst auf Verhandlungen darüber ein. Anders dagegen verhielten sich die im entfernten Salzburg aufgestandenen Bauern; sie brachten ihren Gegnern in offener Feldschlacht eine Niederlage bei; aber ihr Triumph war von kurzer Dauer, da Frundsbergs Landsknechte bald den Widerstand erstickten (16. August). Inzwischen hegte Gaismair trotz der zeitweiligen Niederlagen — er selbst konnte dem Kerker im Oktober entfliehen — weitreichende Pläne. Wesentlich von Huldrych Zwingli inspiriert, entwarf Gaismair mit der »Tiroler Landesordnung« das berühmteste Grundgesetz der Zeit des Bauernkrieges. Gaismairs große politische Vision zielte auf die Errichtung einer Republik der Bauern und Bergknappen, ohne Adel und mächtiges Patriziat, deren Aufgabe im Schutz der Armen und in der Lenkung von Gewerbe und Handel bestand. Das aufständische Gebiet sollte aus Habsburg herausgelöst werden und sich in Anlehnung an die Schweiz verselbständigen; selbst an den Beitritt der Republik Venedig und an ein Bündnis mit Frankreich gegen Habsburg war gedacht. Trotz lokaler Erfolge mußten Gaismairs Anhänger im Juli 1526 ihr Kampfgebiet räumen. Gaismair trat in venezianische Dienste; er arbeitete unentwegt für eine antihabsburgische Koalition, bis ein von den Kaiserlichen gedungener Mörder seinem Leben ein Ende setzte.

Die Niederlage der Tiroler durchschnitt den Hoffnungsfaden auf eine Wiederbelebung des bäuerlichen Widerstandes. Sowohl Luthers Reformation, die in ihrer beginnenden landeskirchlichen Ausprägung Frieden mit dem Fürstenstaat schloß, als auch Zwinglis lokal-bürgerliche Reformationsvariante in der Schweiz unterwarfen sich dem Gesetz der bestehenden Obrigkeit. Dagegen fand die radikal-plebejische Komponente für be-

Täuferbewegung und Königreich Zion

stimmte Zeit in der Täuferbew9gung ihre Heimstatt. Sie nahm den organisierten Ausgang von Zürich; das äußere Symbol bestand in der Erwachsenentaufe (fälschlich »Wiedertaufe« genannt). Ungleich wesentlicher war die antiautoritäre Grundhaltung der Täufer: Sie lehnten jede geistliche und weltliche Macht, d.h. die institutionalisierte Kirche (gleich ob katholischer oder evangelischer Provenienz) und den Staat ab, ihre Gemeinschaft galt ihnen als eine Gemeinde der Heiligen, deren sittliche Normen der Bergpredigt (N.T., Matth.5—7, Luk.6, 20—49) folgten und in apokalyptisch-chiliastische Heilserwartungen einmundeten. Jeder Gläubige trug in sich das »innere Licht«, die Befähigung zur prophetischen Erleuchtung in der Nachfolge Christi. Von Anbeginn sahen sich die Täufer schwersten Verfolgungen ausgesetzt. »Mit unvergleichlichem Mut ertrugen Tausende das Martyrium« (Karl Heussi). Ihre hervorragenden Vertreter fanden die Täufer in Konrad Grebel, der den Kontakt mit Müntzer suchte, Felix Mantz, Balthasar Hubmaier (1528 in Wien verbrannt), Ludwig Hätzer (1529 in Konstanz enthauptet), Jakob Hutter (1536 in Mähren dem Scheiterhaufen übergeben), Melchior Hoffmann (1543 im Gefängnis gestorben). Nach ihrer gewaltsamen Vertreibung aus Zürich verbreiteten sich die Täufer über Süddeutschland, die habsburgischen Lande bis Mähren und Ungarn; sie faßten auch in den norddeutschen Regionen Fuß und schlugen besonders unter den plebejischen Schichten der Niederlande Wurzeln. Mit Zustimmung Luthers legte Melanchthon der Universität Wittenberg 1531 ein Gutachten vor, das aus dem Evangelium die Todesstrafe für die Täufer rechtfertigte. Die Täufer im süddeutsch-habsburgischen Raum versuchten auf der »Märtyrersynode« von Augsburg (August 1527)— nur wenige ihrer Teilnehmer überlebten die einsetzenden Verfolgungen — ein gemeinsames religiöses Grundverständnis zu erarbeiten und sagten für Pfingsten 1528 den Weltuntergang voraus. Die Antwort bestand in einem kaiserlichen Mandat, das alle Täufer mit der Todesstrafe belegte. Unter dem Eindruck der in systematische Ausrottung übergehenden Verfolgung konnte sich innerhalb der Täuferbewegung der revolutionär-aktionistische Flügel gegenüber den pazifistisch-duldenden Kräften durchsetzen.

Ihren letzten Höhepunkt erreichte die Täuferbewegung im westfälischen Münster. Im Februar 1534 erzwangen 500 Täufer vom Rat die Respektierung ihres Glaubens. Aus den Niederlanden kamen Jan Mattijs und Jan Beuckelszoon (Bockelson), ein Schneider, nach Münster; in der Hoffnung, das neue Jerusalem zu errichten, suchten zahlreiche Täufer in der Stadt Zuflucht, deren Regiment sich bald unter ihrer Kontrolle befand. Innerhalb kurzer Zeit schlossen die Truppen des vertriebenen Bischofs, unterstützt von Einheiten benachbarter Herrscher, den Belagerungsring um die Stadt. Unter den Ausnahmebedingungen von Isolation, Blockade und Weltuntergangserwartung nahm die Täuferherrschaft eigenwillige Züge an: Edelmetall, Wertgegenstände und Geld mußten abgeliefert werden, alles Gut unterstand gemeinsamer Verwaltung. Mit Berufung auf das Alte Testament galten die Vielweiberei und die Bildung von Großfamilien als obligatorisch. Ihren Toleranzgedanken preisgebend, unterdrückten die Täufer jede Form der Opposition, auch die der sich zur Wehr setzenden Frauen. Die sektiererische Entgleisung kulminierte in der Ausrufung von Jan Bockelson zum König des Neuen Jerusalem (Zion). »Jan van Leyden« regierte mit offener Gewalt, wodurch die Basis seiner Herrschaft rasch zerbröckelte. In der Nacht vom 25. zum 26. Juni 1535 eroberten Landsknechte die Stadt, über die Besiegten ging ein Strafgericht ohnegleichen nieder. Kaum einer der Täufer überlebte, die in Gefangenschaft geratenen Führer wurden mit glühenden Zangen gefoltert, erdolcht und in Käfigen, die noch heute eine historische Attraktion Münsters bilden, zur Schau gestellt (Januar 1536). Nach der physischen Ausbrennung des militant-chiliastischen Flügels gingen die Reste des Täufertums fast vollständig in den friedfertigen Mennoniten auf.
"Noch unerhört wartet die unterirdische Geschichte der Revolution, bereits begonnen im aufrechten Gang." (Ernst Bloch)


Spanien

Genau einen Monat vor Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg landete im Hafen von Tazones an der Küste Asturiens eine aus Flandern kommende Flotte. Ihr entstieg Spaniens neuer König Karl I., den Isabella die Katholische durch Testament zum Nachfolger bestimmt hatte. In Gent geboren und die ganze Jugend in Flandern verbracht, besaß Karl kaum mehr als eine nebelhafte Vorstellung von Spanien; seine Muttersprache war das Französische, von der Sprache seiner neuen Untertanen wußte er nichts. Weder der König noch seine flandrischen Berater und der ebenfalls importierte Hofstaat ahnten, daß das Land am Vorabend einer Revolution stand, zu deren treibender Kraft und Mittelpunkt die Städte Kastiliens wurden.

Der zentrale Ansatz des sich 1519 entladenden Konfliktes lag in der Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen Krone —

Die Katholischen Könige

Adel — Stadtbürgertum. Erst die Eheschließung Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragon im Jahre 1469 hatte die Voraussetzung für die politische Verbindung der beiden größten Teilstaaten der Iberischen Halbinsel geschaffen, der 1516 noch der Anschluß Navarras folgte. Mit dem Doppelregiment der Katholischen Könige (1469—1504) entstand im äußersten Westen Europas ein neues Gravitationszentrum, das sich in weniger als einer Generation zur Weltmacht aufschwingen sollte. Obwohl die kastilisch-aragonesische Personalunion keine nationalstaatliche Einigung im eigentlichen Sinne des Begriffs darstellte, gelang es unter den Katholischen Königen, den Einfluß der rivalisierenden Adelsgruppen, die das Land in ruinöse Bürgerkriege gestürzt hatten, entscheidend zurückzudrängen. Besonders die 1492 erfolgte Eroberung der letzten maurischen Bastion auf spanischem Boden, Granada, hatte das Prestige der Krone gestärkt. Am raschesten schritt der Prozeß der politisch-administrativen Zentralisierung in Kastilien voran. Die Rechte der Ständevertretung (Cortes) wurden eingeschränkt, zwischen 1482 und 1498 tagte sie überhaupt nicht; die reale Macht lag in den Händen des neugeschaffenen Kastiienrates. Mit der Übernahme der drei großen militärischen Orden (Alcántara, Calatrava und Santiago) durch die Krone verlor der Adel ein wichtiges Instrument im Kampf um die Macht. Eine vergleichbare Zentralisierung der Krongewalt in Aragon gelang dagegen nicht. Sowohl bei der Befreiung Granadas als auch bei der Brechung adligen Widerstandes konnten sich die Katholischen Könige auf die bewaffneten Aufgebote der Städte, die Hermandades, stützen. Zugleich sorgte die Einsetzung von königlichen Aufsehern dafür, daß auch die Ambitionen der Städte beschnitten wurden. Damit war der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die unter Karl I. und Philipp II. zur Herausbildung des Absolutismus führte.

Während alle politisch-administrativen Institutionen (Cortes, Räte) für beide Teilstaaten getrennt blieben, schufen sich die Katholischen Könige in der 1478 erneuerten Inquisition die einzige gesamtstaatliche und allein der Krone unterstehende Einrich-

Neue Inquisition

tung. Obwohl eine religiöse Institution, spielte die Inquisition, deren Vollzug in den Händen der Dominikaner und Franziskaner lag, eine außerordentlich wichtige Rolle bei der Brechung jeden Widerstandes gegen die Politik der Krone. In der einsetzenden Verfolgung von Juden und Mauren verschmolzen religiös-dogmatische und wirtschaftliche Motive auf untrennbare Weise. Enteignete Vermögen von »Ketzern« und durch hohe Summen erkaufte Gnadenbriefe der Konvertierten füllten das Staatssäckel auf. Immerhin konnte Ferdinand von Aragon mit den Einnahmen der Inquisitionskammer von Valencia 1486 eine ganze Flotte nach Süditalien ausrüsten. In der Folge sollte es sich jedoch zeigen, daß die Ausrottung, Vertreibung und Unterdrückung der jüdisch-maurischen Bevölkerungsgruppen — allein für die Zeit der Katholischen Könige ist von 90.000 bis 200.000 Vertriebenen die Rede —‚ die vor allem im Bankwesen, im Handel, im Handwerk und in der intensiven Agrikultur (Bewässerungssysteme) eine hervorragende Rolle gespielt hatten, einen für Spanien irreparablen Schaden und die verhängnisvolle Schwächung seiner frühkapitalistischen Entwicklungspotenzen bedeutete.

Der Tod Isabellas von Kastilien im Jahr 1504 schien das Werk der staatlichen Einigung Spaniens nochmals völlig in Frage zu stellen. Sofort erhob die vom Hochadel, den Granden, angeführte ständische Opposition das Haupt, um die seit 1469 erlittene Machteinbuße rückgängig zu machen. Völlig unübersichtlich wurde die Situation durch die Wirren an der Spitze des Staates, deren Protagonisten Ferdinand von Aragon, Johanna die Wahnsinnige und Philipp der Schöne waren. Da die legitime Nachfolgerin Johanna, die Tochter der Katholischen Könige, schon erste Anzeichen geistiger Umnachtung zu erkennen gab, hatte Isabella testamentarisch mit der Thronfolge Karls I. zugleich die Regentschaft Ferdinands für die Zeit der Minderjährigkeit Karls verfügt; dagegen schritt Johannas Gatte, Philipp der Schöne, dessen lockerer Lebenswandel nicht unwesentlich zu deren geistiger Labilität beigetragen hatte, mit dem Anspruch auf die Krone ein; er regierte jedoch nur ein Jahr (1506). Obwohl damit erneut Ferdinand die Krone Kastiliens trug, übte die reale Macht ein Regentschaftsrat unter Vorsitz von Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros aus, der zugleich an der Spitze der Inquisition stand. Sein Verdienst lag darin, das historische Werk der Katholischen Könige — wenn auch um den Preis von Kompromissen mit dem Hochadel — über die Krisenzeit hinweg gerettet zu haben. Hauptleidtragende dieser Entwicklung waren die Städte, deren wirtschaftliche Blüte von einer starken Krongewalt, innerer Stabilität und einem politisch gezähmten Adel abhing, verbunden mit der Hoffnung einer ihren Interessen entgegenkommenden Wirtschafts- und Steuerpolitik. Sowohl die Förderung als auch der Schutz von Wollverarbeitung und -handel standen im Vordergrund der Interessen großer Städte wie Burgos, Toledo, Medina.

Karl I

In ihrer Erwartung, in Karl I. einen »nationalen« König zu finden, sahen sich die Städte jedoch bitter enttäuscht. Zu den ersten Maßnahmen des siebzehnjährigen Monarchen gehörte die sofortige Entlassung von Cisneros. An dessen Stelle trat der Erzieher Karls I., Adrian von Utrecht, der bereits seit 1515 die Interessen Karls in Spanien gegen Ferdinand und Cisneros wahrgenommen hatte. Zum Hofstaat des neuen Monarchen gehörte eine ganze Clique von flandrischen Favoriten, die den Cortes den Eindruck vermittelten, unter Fremdherrschaft geraten zu sein. Wilhelm von Croy, Herzog von Chièvres, avancierte zum »Contador Mayor« (Finanzminister), sein gleichnamiger Neffe erhielt mit kaum 16 Jahren die Würde eines Erzbischofs von Toledo und besetzte damit als Fremder das ehrwürdigste Kirchenamt Spaniens, die Cortes erhielten Jean de Sauvage, den Großkanzler Karls I., vor die Nase gesetzt. Was die Cortes vollends in Harnisch brachte, waren die unmäßigen Geldforderungen des Monarchen, vor allem, nach dessen Wahl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; schließlich galt es, die von den Fuggern vorgeschossenen Bestechungsgelder zu begleichen.

Aufstand der Städte

Das Zentrum der Auflehnung lag in Toledo, dessen Stadtadel über den ganzen Sommer des Jahres 1519 rebellierte. An der Spitze der Bewegung stand Juan de Padilla, ihm zur Seite Don Pero Laso de la Vega, Hernando Dávalos und andere führende Vertreter des adlig-patrizischen Stadtregiments. Padilla erwies sich in der weiteren Auseinandersetzung als der klarste politische und strategische Kopf; mit ihm stand und fiel die Bewegung der Stadtgemeinden (Comunidades). Auf die Forderung Karls I. an Padilla, sich vor ihm zu rechtfertigen, antwortete Toledo mit dem Aufstand und der Konstituierung einer »Junta de Gobierno«. Rasch griff die Bewegung der Comuneros auf andere Städte über (Sevilla, Granada, Valladolid, Burgos, Zamora, Segovia u. a.), nachdem publik wurde, daß Karl I. die Mehrheit der Deputierten der Cortes von La Coruna (April 1520) durch Bestechung und Erpressung dazu bewegt hatte, entgegen dem Auftrag ihrer Städte die neuen Steuern zu bewilligen. Einige der nachgiebigen Cortesvertreter kostete dieses Verhalten den Kopf. Zeitlich fast parallel, aber unabhängig von den Comunidades erhoben sich im Süden des Landes die Germanías (Zünfte) von Valencia und auf Mallorca.

Konfliktebenen

In der Revolution der Comunidades und der Germanías entlud sich eine Vielzahl von Widersprüchen, die regional und zeitlich sehr unterschiedlich wirkten:

— Konflikt Krone — Städte. Die Städte stellten keineswegs die Autorität der Krone in Frage, trotz aller Zweifel an der Legitimität des Herrschaftsanspruchs von Karl I. Allerdings hätte eine Erfüllung ihrer Forderungen eine fast konstitutionelle Einschränkung der Krongewalt zu ihren Gunsten bedeutet, denn es ging um nichts weniger als die Ausweitung der Rechte der Cortes, besonders in Steuerfragen und hinsichtlich des Anspruchs, periodisch und auf eigene Initiative (d.h. nicht auf Einladung des Königs) zusammenzutreten; die Forderung auf Parität der Stände innerhalb der Cortes hieß Stärkung der Städtevertretung gegen Adel und Klerus. Mit der Residenzpflicht des Monarchen — »es ist nicht Spaniens Sitte, ohne König zu sein« — versuchten sie, dem Universalmachtanspruch Karls I. (nach seiner Kaiserwahl als Karl V.) zugunsten des Nationalprinzips einen Riegel vorzuschieben; sie lehnten deshalb auch »Fremde«, d.h. die flämischen Berater, in hohen staatlichen Positionen ab. Aus diesen Forderungen sprach ein stark ausgeprägtes Nationalbewußtsein, das die These widerlegte, es habe sich lediglich um eine Erhebung zur Verteidigung mittelalterlicher Privilegien gehandelt.

— Gegensatz Städte — Hochadel. Zunächst nahm der Hochadel gegenüber dem Aufstand der Städte eine zwar distanzierte, aber nicht offen gegnerische Haltung ein, denn er sah darin nur eine Verlegenheit mehr für die Krone, die am Ende dem Adel zugute kommen mußte. Allerdings ergab sich eine neue Situation, als die Städte die Rückgabe aller seit 1504 dem königlichen Besitz durch den Adel entzogenen Güter und Privilegien einklagten. Mit der politischen und sozialen Radikalisierung der Bewegung und dem Versuch einiger Städte (z.B. Duenas), sich der Adelsherrschaft zu entziehen, schwenkten die Granden Um und erwiesen sich als die entscheidende militärische Kraft zur Niederschlagung der Revolution.

— Antagonismus Patriziat — Handwerker. Diese Konstellation galt vor allem für die Germanías von Valencia und Mallorca, die sich damit nicht nur geographisch, sondern auch in ihrer sozialrevolutionären Zielsetzung deutlich von den Comunidades in Kastilien abhoben. Die Unzufriedenheit der Handwerker, Gesellen, Tagelöhner, kleinen Geschäftsleute aller Art steigerte sich durch den Ausbruch der Pestepidemie von 1519 entschieden. Rascher und intensiver als in Kastilien griff im Süden die Bewegung auf das flache Land über. In Verbindung mit dem Anspruch der Handwerkerzünfte, neben städtischem Patriziat und Adel an der Macht beteiligt zu werden, wehrten sich die Aufständischen in erster Linie gegen die erdrückenden und ungerecht verteilten Steuerauflagen. Die die Comunidades kennzeichnende nationale Komponente (Auseinandersetzung um die Stellung der Krone) fehlte bei den Germanias völlig, hier dominierte die politisch-soziale Konfrontation im Kampf um die regionale und lokale Macht. Auf Mallorca, wo der Tuchhändler Don Juan Crespí an der Spitze der Germanías stand, steigerte sich der Machtkampf bis zur physischen Ausrottung des Adels, der daraufhin auf Ibiza Zuflucht suchte. In Valencia konstituierte sich ein »Rat der Dreizehn« (Junta de los Trece), der zunächst sogar die offizielle Anerkennung durch Karl V. fand. Der anfänglich tonangebende gemäßigte Flügel um Joan Llorens wurde schließlich durch die Radikalen um Vicenc Peris abgelöst. Zu den dunklen Kapiteln der Germanias gehörte die barbarische Maurenverfolgung, da die in der Region Valencia verbliebenen Mauren (Mudéjares) den Schutz ihrer adligen Herren genossen und den Germanias indifferent gegenüberstanden. Durch ihren religiösen Fanatismus engten die Germanias ihre ländliche Basis entschieden ein und provozierten einen Massenzulauf der Mudéjares zur Adelspartei.

— Kirchenfrage. Im Unterschied zu Deutschland bestand die Besonderheit darin, daß es in Spanien zwar eine starke Bewegung für eine »reformatio« an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gab, um der auch hier verbreiteten Unzahl klerikaler Mißbräuche Herr zu werden, aber es erwuchs — trotz der späteren Existenz krypto-protestantischer Kreise — daraus keine Reformation. Das lag nicht allein an der rigorosen Verfolgung durch die Inquisition, obwohl diese prompt einsetzte. Die erste spanische Übersetzung einer Lutherschrift ist für 1521 nachweisbar, der erste spanische Märtyrer des protestantischen Glaubens, Francisco de San Romano, starb 1542 auf dem Scheiterhaufen. Der Humanist Francisco de Enzinas, genannt Dryander, studierte ab 1541 in Wittenberg und übertrug als Schüler Melanchthons das Neue Testament ins Spanische. Seine Kühnheit, dem Kaiser ein Exemplar zu überreichen (25. November 1543), hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet. Für das Verständnis der Kirchenfrage in Spanien zur Zeit der Revolution der Comunidades und Germanias sind jedoch noch andere Aspekte zu beachten. Als Inhaber des Patronats hatten die Katholischen Könige und ihre Nachfolger erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der kirchlichen Belange. Faktisch besaß die katholische Kirche Spaniens den Charakter einer Nationalkirche, die völlig den inneren und äußeren Interessen der Krone diente. Bereits 1491 autorisierte Papst Alexander VI. die Katholischen Könige — dieser Titel wurde als Dank für den Kampf gegen Frankreich verliehen (1496) —‚ in ihrem Herrschaftsbereich eine Kirchenreform durchzuführen. Gründe dafür gab es genug: Das geringe Niveau der Liturgie und der Mangel an Kenntnissen der christlichen Dogmen unter dem niederen Klerus galten als sprichwörtlich; die Klärung der rechtlichen Stellung der Konkubinen und ihrer Kinder stand in jeder Cortesberatung auf der Tagesordnung; daß Laien die Bischofswürde erhielten, war keine Seltenheit; ein unehelicher Sohn Ferdinands von Aragon besetzte als Fünfjähriger den Stuhl des Erzbistums von Zaragoza .. . In Kardinal

Kardinal Cisneros

Cisneros fand sich für die Kirchenreform ein Initiator, dessen Energie gefürchtet war. Als eines der prominentesten Mitglieder des Franziskanerordens neigte Cisneros zu den asketischen Spiritualen, die — entgegen den gemäßigten und weltlich angepaßten Konventualen — auf der strikten Einhaltung des Armutsgelübdes beharrten. Als Kirche der Armen sollten die Klöster und die Kurie wieder das Gesicht dem Volke zuwenden. Beginnend beim eigenen Orden, versuchte Cisneros mit eiserner Hand eine Reform durchzusetzen. Einige seiner Maßnahmen wurden für so streng befunden, daß aus Andalusien 400 Ordensbrüder nach Afrika gingen und zum Islam übertraten. Mit der Reform war der Grundstein für einen Prozeß gelegt, der — flankiert durch die Inquisition — Spanien weitgehend gegen die Fernwirkung von Luthertum und Calvinismus immunisierte.

Hier gilt es auch, das traditionelle Bild eines fanatischen Obskurantismus zu korrigieren. Spanien öffnete sich zu jener Zeit in bemerkenswerter Weise dem Humanismus. Cisneros trug sich mit dem Gedanken, Erasmus von Rotterdam an die neue Universität von Alcala de Henares zu holen. Anhänger des Erasmus gehörten zum Kreis um Karl I. und prägten die öffentliche Meinung (Luis Vives, Juan de Valdés). Die erste spanische Übersetzung des »Enchiridon militis Christiani« erfolgte schon 1526.

Die Forderungen der Comunidades auf kirchenpolitischem Gebiet wiesen eine unübersehbare nationale Komponente auf: keine Vergabe kirchlicher Ämter an Ausländer, keine Abführung kirchlicher Gelder nach Rom, Residenzpflicht für Bischöfe; die Inquisition dagegen blieb unangetastet. Mit dem Fortgang der Revolution spaltete sich die Kirche: Die Kirchenoberhäupter und der Orden standen fest auf seiten der Krone und des Hochadels: Dagegen liierte sich ein Teil des niederen Klerus mit den Aufständischen und spielte als Kanzel-, Wander- und Bußprediger eine wesentliche Rolle bei der Mobilisierung des Volkes.

Heilige Junta

Die rebellierenden Städte Kastiliens schlossen sich am 29. Juli 1520 in der »Heiligen Junta« (Junta Santa) von Avila zusammen. An deren Spitze stand als Präsident Pero Laso de la Vega, das militärische Oberkommando übernahm Juan de Padilla. Obwohl die Junta schwor, »im Dienste des Königs und der Comumdades« zu regieren, zögerte sie nicht, die Kronbeamten (Corregidores) abzusetzen und die königlichen Steuereinkünfte für den Aufbau einer eigenen Streitmacht zu verwenden, dazu eine Steuerpolitik nach eigenem Geschmack festzulegen. In Abstimmung mit Karl, der sich zur Annahme der Kaiserwahl nach Deutschland begeben hatte, versuchte Adrian von Utrecht der rebellischen Städte durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche Herr zu werden. Einige Städte wurden von der besonders verhaßten Verkaufssteuer (Alcabala) und anderen Auflagen befreit, dagegen versank das in seiner merkantilen Blüte stehende Medina del Campo in einem Flammenmeer (21.August 1520). Die auf so grausame Weise an einer der mächtigsten Städte geübte Vergeltung verfehlte ihre abschreckende Wirkung, es schlossen sich im Gegenteil weitere Städte dem Verbündnis der Heiligen Junta« an.

Mit der Übersiedlung der Junta nach Tordesillas (September 1520) erreichte die Revolution ihren Höhepunkt. Praktisch befand sich damit Johanna, die Königinmutter, in den Händen der Aufständischen; sie ließ sich aber trotz fortwährenden Drängens keinerlei politische Zugeständnisse abringen. Auf Weisung der Junta durfte weder den Anordnungen Adrian von Utrechts noch des Regentschaftsrates, d. h. der Krone, Folge geleistet werden. Damit trat die Macht der Junta an die Stelle der Königsgewalt.

Auf dem Höhepunkt der Bewegung setzte zugleich deren innere Krise ein, geprägt vom wachsenden Interessengegensatz

Burgos gegen Toledo

zwischen Burgos und Toledo. Das vorwiegend im Wollexport nach Flandern exponierte reiche Burgos wollte den völligen Bruch mit der Krone vermeiden, um die weitreichenden Handelsbeziehungen nicht zu gefährden; nicht zuletzt schreckte das reiche Bürgertum von Burgos vor den Tendenzen einer Plebejisierung der Revolution zurück. Die innere Auseinandersetzung um die Machtfrage spitzte sich darauf zu, ob im Namen des Königs oder an dessen Stelle regiert werden sollte. Karl V. nutzte die aufkommenden Konflikte mit Geschick, indem er sich bei einer ganzen Reihe der von den Comunidades formulierten Gravamina kompromißbereit zeigte; er sagte u. a. zu, daß kein Fremder königliche Ämter bekleiden dürfe, der Geldexport verboten und die Mißbräuche kirchlicher Rechtsprechung beseitigt würden; der Regent Adrian von Utrecht erhielt zwei Vertreter des spanischen Hochadels (Fadrique Enríquez und Inigo de Velasco) an die Seite gestellt, darüber hinaus kündigte Karl seine vorzeitige Rückkehr nach Spanien an. Die vermeintliche Konzilianz des Herrschers verfehlte nicht ihre Wirkung. Eine Reihe von Städten, allen voran Burgos, löste sich von der »Heiligen Junta« und schloß ein königstreues Gegenbündnis (17. Februar 1521). Indessen vollzog sich im Lager der Comunidades eine deutliche Radikalisierung. An die Stelle von Laso de la Vega trat Gonzalo de Guzmán, ein Vertreter des niederen Adels. Von nun an begann sich die Revolution zunehmend gegen die Granden zu wenden, deutlich trat eine antifeudale Stoßrichtung hervor. Erst jetzt fanden Karl und sein Regent Adrian beim Hochadel mit der Forderung nach militärischem Eingreifen Gehör. Das moralische Argument bestand in der Forderung nach Befreiung der Königinmutter. Auf ein Friedensangebot Adrians antwortete die Junta mit der Drohung, den gesamten Regentschaftsrat aufzuknüpfen.

Der hohe Adel Kastiliens handelte im Bewußtsein eines doppelten Vorteils gegenüber der Krone: Ohne die adligen Aufgebote war an einen Sieg über »die Rebellen und Verräter« nicht zu denken, was wiederum bedeutete, daß der Adel sich sein Eingreifen durch neue Konzessionen des Königs bezahlen ließ. Die Krone sollte siegen, aber nicht zu sehr, nicht zu schnell und schon gar nicht auf Kosten des Adels. Adrian von Utrecht erkannte sehr wohl, daß die Granden nicht ohne Eigennutz die Partei des Königs ergriffen:
"Ich sehe, die Granden befürchten auf viele Weise, daß ihre Besitzungen sich erheben. Sie wollen Ihrer Majestät dienen und eben damit ihre Häuser retten."
Eine demoralisierende Wirkung auf die Comunidades hatten zwei Ereignisse: die Eroberung von Tordesillas durch die Aufgebote des Regenten (5. Dezember 1520), die an der sich verzweifelt verteidigenden Stadt grausame Rache nahmen; nur Kirchen und Klöster entgingen der Plünderung — selbst das Maultier der Infantin Catalina wurde vergewaltigt. Auf diese erste Niederlage der Comunidades folgte der Verrat des Juntapräsidenten Pero Laso de la Vega, dem der Moment für einen Frontenwechsel günstig schien. Auch der an die Stelle von Padilla in die militärische Führung eingesetzte Pedro Giron lief kurz danach auf die Gegenseite über. Mit der Zahl der Städte, die in der Junta verblieben, reduzierte sich auch die Gruppe der Persönlichkeiten, die sich fähig zeigten, den Aufständischen neuen Mut zu geben. In diesem dramatischen Augenblick trat neben dem unverwüstlichen Padilla eine zweite Person in den Vordergrund, die bis heute zu den umstrittensten in der Geschichte der frühbürgerlichen Revolution Spaniens gehört: Antonio de Acuna, Bischof von Zamora, ein Mann, der das Schwert nicht weniger gut als das Kreuz zu handhaben wußte.

Bischof Antonio de Acuna

Als Meister der Intrige hatte Acuna erreicht, daß ihn Philipp der Schöne 1506 als Botschafter nach Rom schickte. Da sich seine Hoffnungen auf ein hohes Amt am päpstlichen Hofe nicht erfüllten, nutzte er die Vakanz des Bistums Zamora, um sich auf eigene Faust in den Besitz der Bischofswürde zu bringen. Mit einer Privatarmee von Geistlichen und Bürgern erzwang er sich Zugang zur Stadt und leistete so lange Widerstand, bis Ferdinand von Aragon 1508 die »Legitimität« seines Episkopats bestätigte. Acuna dankte dieses Entgegenkommen damit, daß er für Ferdinand delikate geheime diplomatische Aufträge übernahm. Als ihn der Graf von Alba de Liste, Herr über Zamora, zwang, erneut den Bischofssitz zu räumen, schloß sich Acuna den Comunidades an und kehrte an der Spitze einer Armee von Comuneros als Sieger und neuer alter Bischof in die Stadt zurück. Papst Leo X. versprach, den »zweiten Luther« abzusetzen, aber wie? Die von Acuna geführten, zum großen Teil aus Geistlichen bestehenden Einheiten bildeten zum entscheidenden Teil das militärische Rückgrat der Aufständischen in der Schlußphase der Revolution. Acuna begriff — wie Padilla — die Notwendigkeit eines Zusammengehens mit den plebejischen Schichten. Requiriertes Kirchengut stellte er in den Dienst der Revolution und der Kriegführung, das Eigentum von königstreuen Adligen ließ er beschlagnahmen, neue Truppenkontingente wurden formiert, den Comunidades ergebene Verwaltungen eingesetzt, erforderliche Geldmittel mit allen nur erdenklichen Methoden aufgetrieben. Als der frühe Tod Wilhelms von Croy das Erzbistum Toledo vakant machte, griff Acuna nach dem höchsten Kirchenamt des Landes. Mit einem Heer von Geistlichen und Soldaten kämpfte er sich den Weg nach Toledo frei und nahm, von einer Volksmenge umjubelt, den Stuhl des Erzbischofs in Besitz. Daß die Patrizier und Adligen von Toledo ihm die Anerkennung verweigerten, brachte nur ein weiteres Mal die Differenzen innerhalb der revolutionären Bewegung zum Ausdruck.

Ihren letzten Erfolg erzielten die Aufständischen mit der Eroberung der strategisch bedeutsamen Festungsstadt Torreloba-

Von Torrelobatón nach Villalar

tón am 25. Februar 1521 unter der Führung Padillas. Die Comuneros standen ihren Gegnern nicht nach und gaben die Stadt zur Plünderung frei. Das endgültige Schicksal der Revolution entschied sich knapp zwei Monate später in der Schlacht von Villalar (23. April 1521). Mit Padilla an der Spitze ging das letzte Aufgebot von 6.000 Mann gegen eine überlegene und vor allem durch ihre Reiterei beweglichere Streitmacht in den Kampf. Unter dem Banner der Krone standen — im Bewußtsein ihrer an der Wurzel gefährdeten Existenz — die führenden Häupter des Hochadels, die Medinaceli, Haro, Benavente, Alba de Liste, de Castro, d‘Osorno, de Miranda, de Cifuentes usw. Die Bilanz bei den Comuneros: 500 Gefallene und 1.000 Gefangene. Juan de Padilla, Juan Bravo und Francisco Maldonado gerieten in die Hände der Gegner und wurden 24 Stunden später enthauptet.

María Pacheco

Das heroische Schlußkapitel der Revolution in Kastilien schrieb eine Frau, María Pacheco, die Witwe Padillas. Nach Villalar kehrte die Revolution an ihre Wiege, nach Toledo, zurück. Nicht weniger als sechs Monate verteidigte sich die Stadt unter der energischen Führung María Pachecos gegen das Heer der Belagerer. Alle humanen und materiellen Ressourcen wurden kompromißlos in den Dienst des Überlebens gestellt. Sonderauflagen trafen vor allem den Besitz der reichen Stadtbürger. Als sich die Hoffnungen auf französische Hilfe zerschlugen, wurde die Kapitulation unvermeidlich (25. Oktober 1521). Jedoch mußte die königliche Seite ehrenhafte Bedingungen zugestehen: Der Status quo im Stadtregiment, das die Comuneros radikal umgestaltet hatten, sollte unangetastet bleiben, María Pacheco behielt ihren Wohnsitz in Toledo, die Krone verzichtete auf die Einziehung des Padillavermögens. Doch schon binnen weniger Wochen änderte sich die Situation. Da Karl V. den Kapitulationsklauseln nicht zustimmte, begann eine Repressionskampagne, um die vorrevolutionären Zustände wiederherzustellen. Der dagegen geleistete Widerstand mündete am 3. Februar 1522 in einen neuen Aufstand, der im Blute erstickt wurde. Die prophetische Warnung María Pachecos:
"Seht, Brüder, diese Amnestie ist keine aufrichtige; seht, daß sie euch nicht betrügen .. ."
‚ hatte sich auf furchtbare Weise bestätigt. María Pacheco konnte dem Massaker entkommen und floh nach Portugal, sie wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt, ihr Haus machten die Sieger im Namen des Königs dem Erdboden gleich, um die letzte Erinnerung an die Comuneros auszulöschen.

Ende der Revolution

Trotz einer Generalamnestie, die allerdings 200 führende Personen ausschloß, zogen Tausende von Comuneros die Flucht ins Ausland vor. Acuna wurde bei Logrono gefaßt und auf der Feste von Simancas inhaftiert. Sein Fluchtversuch 1526 — nachdem er den Festungskommandanten ermordet hatte — scheiterte. Auf persönlichen Befehl Karls V. starb Acuna unter dem Halseisen. Papst Clemens VII. erteilte dem Monarchen für die begangene Sünde Absolution...

Die erfolgreiche »Befriedung« der kastilischen Städte machte die Kräfte für den Angriff gegen die Germanias frei: Valencia kapitulierte am 3.März 1522, Peris und andere Führer der Agermanados teilten das Ende Padillas. Sporadisch flammte der Widerstand erneut dort auf, wo der mysteriöse »El Encubierto« (Der Vermummte) auftauchte, der angeblich ein Sohn der Katholischen Könige (»Don Juan«) sein sollte. Im Mai 1523 fiel »El Encubierto« zwei gedungenen Mördern zum Opfer. Wenige Wochen zuvor (März 1523) mußten die Rebellen von Mallorca ihre Waffen strecken. Ungleich härter als über Kastilien ergoß sich über Valencia und Mallorca eine anhaltende Welle der Repression. Für die Region Valencia lag diese undankbare Aufgabe in den Händen von Germaine de Foix, der Nichte Ludwigs XII. von Frankreich und zweiten Gattin Ferdinands von Aragon. Eigentlich mehr an Banketten, Empfängen und Festlichkeiten aller Art interessiert, dazu berühmt für ihren auserlesenen kulinarischen Geschmack, der allerdings ihr Leben verkürzte (sie starb an Fettsucht), ging Germaine de Foix, die »Königin von Jerusalem« — so der von ihrem Onkel verliehene Ehrentitel — als Henkerin der Germanías in die Geschichte ein.

Deutsch-spanisches Gleichnis

Deutschland und Spanien — zwei frühe Revolutionen an der Schwelle zur Neuzeit, deren Scheitern tiefe Spuren im historischen Schicksal beider Länder hinterließ. Karls V. Idee einer von der »Unitas christianorum« getragenen Weltmonarchie besaß ihre universalpolitische Basis im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, ihr nationales Rückgrat bildete Spanien. Unabhängig vom konkret-historischen Anlaß und der Fülle von Besonderheiten in Charakter und Verlauf gab es zwischen beiden Revolutionen übergreifende Gemeinsamkeiten: In Spanien dagegen legte die Herrschaft Karls V. zwar wesentliche Grundlagen des Absolutismus, die unter Philipp II. den vollen Ausbau der Zentralgewalt gestatteten, allerdings fehlte dem spanischen Absolutismus jene embryonal-bürgerliche Komponente, die die progressive historische Funktion des englischen und französischen Absolutismus ausmachte. Im Unterschied zu Deutschland konnte Spanien die fehlende Interessensymbiose von Krone und Bürgertum zeitweilig durch den Zugriff zu den internationalen Banken (Ramon Carande: »Carlos V. y sus banqueros«) und den Edelmetallfluß aus den amerikanischen Kolonien kompensieren. Jedoch machte das Unvermögen, von der feudalen Schatzbildung zur Akkumulation des Kapitals und seiner produktiven Verwertung überzugehen, eine Öffnung in Richtung der bürgerlichen Entwicklung niederländischen oder englischen Typs unmöglich. Statt dessen flossen die kolonialen Schätze über und um Spanien nach den neuen Zentren der kapitalistischen Produktion.

Sowohl Deutschland als auch Spanien, wenngleich im Falle Spaniens mit zeitlicher Verzögerung bis in den Dreißigjährigen Krieg (Ende der spanischen Vorherrschaft), sanken zum Objekt internationaler Politik herab. Erst im 18. Jahrhundert zeigten sich Ansätze, um den Abbruch und die lange Schwächung der national-kapitalistischen Entwicklung zu überwinden.

Europäische Dimensionen der Reformation

Mit der Niederlage des Bauernkrieges, die das Schicksal aller volksreformatorischen Ansätze besiegelte, wurde die Reformation weitgehend auf ihre religiös-politische Substanz zurückgeworfen. Doch trotz der Zähmung der sozial-revolutionären Weiterungen dürfen die langfristigen Ergebnisse der Lutherischen Reformation nicht unterschätzt werden: Der Bruch mit der Papstkirche und deren Schwächung als geistig-religiöse, politische und wirtschaftliche Universalmacht blieben unwiderruflich; daran änderte — trotz beträchtlicher Teilerfolge — die seit dem Konzil von Trient (Tridentinum 1545—1563) einsetzende und in erster Linie vom neugegründeten Jesuitenorden getragene Gegenreformation und katholische Erneuerung im Kern nichts. Allerdings gelang es der katholischen Kirche, die bis dahin erfolgreiche Ausbreitung des Luthertums aufzuhalten und in einigen Gebieten zurückzudrängen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts war die Reformation bereits ein europäisches Phänomen, verlor jedoch zugleich ihre ursprünglich von Luther verkörperte Einheit.

Huldrych Zwingli

In die Polarisierung zwischen dem gemäßigt-obrigkeitsorientierten Luthertum und der radikal-plebejischen Linken in Gestalt der Täuferbewegung schob sich die Herausbildung von zwei reformatorischen Strömungen, die vorrangig dem bürgerlichen Emanzipationsanspruch Ausdruck verliehen; auf lokaler Ebene in der Schweiz repräsentiert durch Huldrych Zwingli, mit gesamt-europäischer Dimension gefaßt in die Ideen von Jean Cauvin (Calvin).

Zwingli kam unter dem Einfluß des Erasmus und unabhängig von Luther zur Reformation. Seine Kritik an der bestehenden Kirche wies wesentlich stärkere politische Elemente auf: Die Predigten gegen die Anwerbung und den Verkauf von Schweizer Söldnern an fremde Mächte verschafften ihm in Zürich, wo er seit 1518 als Priester wirkte, großen Zulauf. In der ersten und zweiten Züricher Disputation (Januar und Oktober 1523) brach Zwingli in radikaler Weise mit der Papstkirche und riß den Rat der Stadt mit. Es galt alles als abgeschafft, was nicht seine Rechtfertigung in der Heiligen Schrift fand, das hieß Predigt nur nach dem Evangelium und in der Nationalsprache, Aufhebung des Zölibats und des Fastens, Entfernung der Orgel, Altäre, Reliquien und Bilder, Verbot von Kirchgesängen, Firmung, Prozession und letzter Ölung. Das gesamte Kirchenregiment mit Ehegesetzgebung, Sittenkontrolle und Armenordnung unterstand dem Rat: die ideale, wohlfeile Kirche in den Augen des Bürgertums. Doch auch die Bauern hatten ihren Vorteil. Im Jahre 1525 (Reaktion auf den deutschen Bauernkrieg?) erfolgte die Abschaffung der Leibeigenschaft. Von Luther sah sich Zwingli nicht nur durch den stärkeren Eingriff in das weltliche Leben, in die bestehenden Verhältnisse zugunsten des Stadtbürgertums getrennt, sondern ebenso durch die Lehre der Prädestination, die Calvin noch härter fassen sollte, und die unterschiedliche Auffassung vom Abendmahl. Während Luther im »Abendmahl-streit« (1527/1528) auf scholastische Positionen zurückwich, verteidigte Zwingli »moderne« erasmisch-rationalistische Auffassungen.

Zur selben Zeit stand Zwingli im schweren politisch-religiösen Konflikt mit den katholischen »Urkantonen« der Schweiz, die jegliche Reformatio ecclesiae ablehnten. Der Konflikt entlud sich in militärischer Koufrontation: Die Schlacht bei Kappel (11. Oktober 1531) endete mit dem Fiasko der zwinglitreuen Kantone. Zwingli fiel »tapfer kämpfend« (so eine zeitgenossische Quelle) in der Schlacht, sein Leichnam wurde gevierteilt, dann verbrannt, die Asche in alle Winde verstreut. Trotz des Rückschlages überlebte die Reformation in der Schweiz.

Johannes Calvin

Wie Zwingli, so kam Calvin über den Humanismus (Einfluß von Faber Stapulensis) zur Reformation. Verfolgungen trieben ihn von Paris nach Basel (1534), wo er sein Hauptwerk »Institutio religionis christianae« (1536) herausbrachte, das eine umfassende Darstellung der reformtheologischen Ansichten enthielt. Auf einer Reise durch Genf hielt ihn Wilhelm Farel mit Hilfe einer »furchtbaren Beschwörung« in der Stadt: »Gottes Fluch wird dich treffen, wenn du dem Werk des Herrn deine Hilfe versagst und dich mehr suchst als ihn.« Aber sein »Katechismus« (Instruction et confession de foix) provozierte ob der verlangten Sittenstrenge die Opposition von Teilen der Bürgerschaft. Zeitweilig hielt sich Calvin in Straßburg auf. Dort heiratete er die Witwe eines Täufers. Mit seiner zweiten Berufung

Genf: die Gottesstadt

nach Genf (1541) — inzwischen hatten seine Anhänger erneut die Macht übernommen — erreichte sein Einfluß den Höhepunkt. Calvin ging von der Idee der Einheit der kirchlichen und weltlichen Macht aus; demzufolge galten die strengen religiösen Normen auch für das weltliche Leben (Verbot von Theater, Tanz und Glücksspielen). Faktisch nahm die politische Verfassung von Genf theokratische Elemente auf. Die Anhänger Calvins in Genf, der »Cité de Dieu« (Gottesstadt), galten als Erwählte, geprägt von selbstlosem Opfermut, doch gleichzeitig durch unnachgiebige Härte gegen alle, die dem calvinistischen Gottesverständnis nicht folgten. Kernstück der Calvinschen Lehre bildete die Auffassung von der doppelten Prädestination: Den in Barmherzigkeit von Gott Erwählten standen die unwiderruflich von Gott Verworfenen gegenüber. Bis 1555 gelang es Calvin, jede Opposition gegen seine Herrschaft unter Anwendung drastischer Methoden, einschließlich der Bestrafung mit dem Tode, zu unterdrücken. Symbolischen Ausdruck fand die politisch-religiöse Unversöhnlichkeit Calvins im Opfergang des spanischen

Verbrennung Miguel Servets

Arztes Miguel Servet, des Entdeckers des kleinen Blutkreislaufes. Servet geriet als Antitrinitaner (»De Trinitatis erroribus«, 1531) zwischen die Fronten der religiösen Auseinandersetzung: Katholiken wie Reformierte bekämpften ihn auf gleiche Weise. Sein Werk über das wiederhergestellte Christentum (»Christianismi Restitutio«) und ein vehement geführter Briefwechsel mit Calvin (1545/46) führten zum offenen Bruch. Weder ein Lutheraner noch ein Täufer, sondern ein Häretiker eigener Art, rettete sich Servet, den die französische Inquisition »in effigie« verbrannte, über die Grenze. Auf dem Wege nach Italien kam er nach Genf, wo er die Kühnheit besaß, einer Predigt Calvins beizuwohnen. Der Genfer Reformator erkannte Servet, ließ ihn festsetzen und das über ihn verhängte Urteil vollstrecken: Servet wurde mit seinen Büchern am 27. Oktober 1553 den Flammen übergeben. Obwohl viele Prediger für ein mildes Urteil baten, bestand Calvin auf dem Auto de fe, um der gesamten Opposition in und um Genf eine Lehre zu erteilen. Zu denen, die diesen inquisitorischen Willkürakt nachträglich guthießen, gehörte Philipp Melanchthon.

Von der Schweiz griff der Calvinismus über weite Gebiete Europas aus; daran hatte die 1559 gegründete Akademie mit ihrer intensiven Ausbildung von Predigern entscheidenden Anteil. In England (Confession of faith, 1560) und in den Niederlanden (Confessio belgica, 1561) bildete der Calvinismus das geistige Fundament der künftigen bürgerlichen Revolution, da seine ethischen Prinzipien am deutlichsten den aufkommenden Geist des Kapitalismus«, wie Max Weber schrieb, atmeten.

Eine besondere Dramatik wies die Geschichte des Calvinismus in Frankreich auf. Die französischen Calvinisten — Huge-

Die Hugenotten

notten genannt — fanden in der Schwester Franz‘ I., Margarete von Navarra, eine hohe Gönnerin. Der Calvinismus erfaßte nicht nur Teile des Bürgertums (Zentrum La Rochelle), sondern auch antiabsolutistisch eingestellte Adelsfamiien (Bourbon-Vendome, Chatillon). Die erste hugenottische Nationalsynode fand 1559 in Paris (Annahme der Confession de foix) statt. Ihren politisch-religiösen Kopf besaßen die Hugenotten in Admiral Gaspard de Coligny aus dem Hause Chätillon. Durch ihren Rückhalt in den großen Adelsgeschlechtern stellten die Hugenotten als religiöse und politische Partei faktisch einen Staat im Staate dar. Während sie sich außenpolitisch auf England orientierten, suchte die »katholische Partei« unter Francois de Guise Anlehnung an Spanien, was Philipp II. erhebliche Möglichkeiten der Einmischung in die französische Politik bot. Trotz zeitweiliger Ausgleichsversuche (Edikt von St.-Germain, 1562) herrschte ein latenter Bürgerkriegszustand, der sich zur schwersten Krise des französischen Frühabsolutismus auswuchs und am Ende die Einheit der Nation bedrohte (Krieg der »drei Heinriche«: Heinrich III., Heinrich von Guise und Heinrich von Navarra). Die Verfolgung der Hugenotten erreichte ihren grausamen Kulminationspunkt in der von Caterina de‘ Medici, der Regentin für

Bartholomäusnacht

den unmündigen Karl IX., veranlaßten Bartholomäusnacht (23./24. August 1572), der allein in Paris 4.000 Hugenotten, darunter Coligny, zum Opfer fielen. Caterinas Kommentar: »Hugenottenblut riecht gut!«; vom Balkon des Louvre tobte Karl IX. seine pubertäre Jagdlust an fliehenden Hugenotten aus; Papst Gregor XIII. feierte das Massenschlachten mit einem Te Deum und der Herausgabe von Gedenkmünzen.

Heinrich IV., der 1589 den Thron übernahm und damit an die Stelle der degenerierten Valois das neue Herrscherhaus Bourbon setzte, hatte zwar die Krone mit dem Glaubenswechsel von Calvin zu St. Peter erkauft (»Paris ist eine Messe wert!«). Jedoch sicherte der ebenso fähige wie unorthodoxe König — er besaß bei Regierungsantritt sechs Hemden, brachte es aber auf 56 Mätres-

Edikt von Nantes

sen — den Hugenotten im Edikt von Nantes (1598) die bürgerliche Gleichberechtigung und 150 feste Plätze zu; ein fanatischer Katholik ahndete 1610 den »Verrat« Heinrichs durch einen tödlichen Dolchstoß. Mit Heinrich 1V. endete einer der wenigen Herrscher in der französischen Geschichte, denen das einfache Volk spontane Sympathien entgegenbrachte: Eine Vielzahl von Legenden, naive Malereien über das Intimleben des Herrschers, die bis heute die geheime Attraktion des Schlosses von Pau ausmachen, und eine Fülle von kulinarischen Rezepten mit dem Zusatz »à la Henri Quatre« geben davon Zeugnis.

Zur weitausgreifenden europäischen Dimension der Reformation, die den Boden für eine bürgerliche Umgestaltung aufbrach oder zumindest günstige »Umwelt«bedingungen für spätere Transformationsprozesse schuf, gehörten des weiteren die Reformen unter Heinrich VIII. in England, der Sieg der reformatorischen Idee in Skandinavien und der zeitweilig starke Einfluß der Reformation in Ost- und Südosteuropa (Polen, Ungarn). Das waren ebensoviele Pflöcke gegen die Wiederherstellung der habsburgischen Universalmacht.

In Deutschland schrumpfte die von Martin Luther ausgelöste und verkörperte Erneuerung von Glaube und Kirche zur »Fürstenreformation«: Das entstehende Landeskirchentum sicherte den evangelischen Fürsten die politisch-religiöse Gewalt über alle kirchlichen Belange (»summus episcopus«); das hatte zur Folge, daß die Monokonfessionalität des jeweiligen Staatswesens festgeschrieben war, was eine Toleranz nur im Recht auf Auswanderung garantierte. Zunächst gab die Niederlage der Revolution den katholischen Kräften erneuten Auftrieb. Gegen die den evangelischen Besitzstand bedrohenden Beschlüsse des Reichstages zu Speyer (1529) legten sechs Fürsten und 14 Städte

Confessio Augustana

Protest ein (daher »Protestanten«). Die Lutheraner präsentierten auf dem folgenden Reichstag von Augsburg (1530) in Anwesenheit des Kaisers die von Philipp Melanchthon verfaßte Confessio Augustana, das bis in die Gegenwart gültige Glaubensdokument der evangelisch-lutherischen Kirchen. Zwar wurde darin weder die Kritik an den Mißständen der Papstkirche zurückgenommen, noch die zentrale These von der Rechtfertigung allein durch den Glauben preisgegeben, doch stellte die Confessio das Trennende gegenüber der katholischen Kirche zurück. Die Confessio Augustana verkörperte im Vergleich zu den übrigen reformatorischen Bekenntnissen die am weitesten gehende konservative Variante; die vom Kaiser berufenen Theologen antworteten auftragsgemäß mit einer »Confutatio« (Widerlegung). In Erwartung der offenen militärischen Konfrontation mit der kaiserlich-katholischen Partei schlossen sich die protestantischen Stände, die aus der Vereinnahmung des Kirchen-

Schmalkaldischer Bund

gutes erheblichen Gewinn gezogen hatten, im Schmalkaldischen Bund zusammen. Gestützt auf dieses Bündnis gewann der Protestantismus im Heiligen Römischen Reich weiter an Boden, allerdings nicht als nationale, sondern fürstlich-antizentralistische Bewegung. Als Druckmittel nutzten die protestantischen Fürsten selbst das Ringen um die Anerkennung der Kaiserwürde des Bruders Karls V., Ferdinand. In den Jahren 1540/41 scheiterten erneute Gespräche zur religiösen Einigung (Worms, Regensburg); stärker als die dogmatischen, erwiesen sich die machtpolitischen Gegensätze, da die Fürsten der Lutherpartei grundsätzlich gegen die Gewalt von Papst und Kaiser Front machten. In eine moralische Krise geriet das offizielle Luthertum, als Philipp von Hessen die Rechtfertigung seiner unter Billigung der Ehefrau, Christina von Sachsen, geschlossenen Zweitehe mit dem Hoffräulein Margarete von der Säle durch Melanchthon und Martin Luther erlangte. Karl V. nutzte den »schwarzen Tag« in der Geschichte des Luthertums, um Philipp mit der Peinlichen Halsgerichtsordnung zu drohen. Daraus erwuchs eine erhebliche Schwächung der evangelischen Front. Im Schmalkaldi-

Schmalkaldischer Krieg

schen Krieg (1546/47) erlitten die protestantischen Fürsten in der Schlacht bei Mühlberg (24. April 1547) eine Niederlage. Trotzdem scheiterten die Versuche, mit jeglichem Druck die alte Kirche und die vorreformatorischen Machtverhältnisse wiederherzustellen: Die faktische Pattsituation zwischen der protestantisch-fürstlichen und der kaiserlich-päpstlichen Partei, kompliziert durch den unterschiedlichen internationalen Rückhalt beider Seiten (Bündnis des vom Kaiser abgefallenen Kurfürsten Moritz von Sachsen mit Frankreich), fand ihren Ausdruck im Augsburger Religionsfrieden von 1555, der in letzter Instanz die Kapitulation der kaiserlichen Universal- vor der fürstlichen Regionalgewalt bedeutete. Mit Augsburg erreichte die lutherische Reformation nach dem Grundsatz: »Cuius regio, eius religio« (Wes die Herrschaft, des der Glaube) ihre reichsrechtliche Anerkennung, die einheitliche religiös-kirchliche Grundlage des Reiches war für immer aufgehoben. Der Frieden sollte »ein ewig währender« sein, konnte aber den Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) nicht verhindern, der mit der Festschreibung des klein-staatlichen Absolutismus, gleich, ob katholischer oder reformierter Prägung, einen Tiefpunkt in der Geschichte der deutschen Nation darstellte.

Noch während der Augsburger Verhandlungen entschied sich das persönliche Schicksal Karls V. Der bis dahin mächtigste weltliche Herrscher, der allerdings schon seit 1553 Teile seiner Macht an die Nachfolger abzutreten begonnen hatte, übertrug

Karl V.

seinem Sohn Philipp den größeren Teil seines Weltreiches, während sein Bruder Ferdinand mit der Kaiserkrone das restliche Erbe im Heiligen Römischen Reich erhielt; und das alles in Verbindung mit einer ehrgeizigen Heiratspolitik und in offenem Konflikt mit der Papstkirche unter Paul IV., dem selbst hugenottische Söldner willkommen waren, um Spaniens Übermacht zu verkürzen, und dessen grenzenloser Fanatismus in dem Schwur gipfelte: »Selbst wenn mein eigener Vater ein Ketzer wäre, trüge ich Holz zusammen, um ihn verbrennen zu lassen.« Die Idee der Universalherrschaft war mit der Reichsteilung unwiderruflich zu Grabe getragen. Jene Zeitgenossen, die wie Sir Thomas Gresham in Brüssel am 14. Oktober 1555 die letzte Ansprache des scheidenden Kaisers hörten und den Kniefall Philipps II. vor seinem Vater erlebten, fühlten, Zeugen einer Zeitenwende zu sein.

Karls V. Rückzug in seinen Palast beim Kloster von San Yuste brachte keinen totalen Abschied von der Politik, da beide Nachfolger weder seines Rates noch seiner finanziellen Beziehungen entbehren konnten. Am 21. September 1558 starb der letzte Weltkaiser an schwerer Gicht; sein Leichnam fand später in dem unter Philipp II. erbauten Escorial die letzte Ruhe.

Von Karl V. stets als der eigentliche Erbe gesehen, hatte Philipp eine gediegene politische und diplomatische Ausbildung genossen. Das Gemälde Tizians, das Philipp mit 23 Jahren zeigt, läßt einen jungen Mann erkennen, der sich seiner künftigen Verantwortung durchaus bewußt ist. In vielem seinem Vater gleichend, gab es doch einen wesentlichen Unterschied: Es zog ihn nie aufs Schlachtfeld. An Philipps Seite standen begabte Berater, er war also keineswegs der Mann einsamer Entscheidungen. Zum Anschein seiner menschlichen Vereinsamung trugen gewiß die wenig glückhaften vier Eheschließungen bei. Drei seiner Frauen (Maria Manuela von Portugal, Elisabeth von Valois, Anna von Österreich) starben bei der Entbindung. Maria Tudor verstarb, ohne einen Erben zu hinterlassen. Aus der Ehe mit Maria Manuela ging der Infant Don Carlos hervor, dessen aus geistiger Umnachtung, sexueller Verirrung und zügellosem Machtanspruch geborenen Intrigen Philipp veranlaßten, für seine Inhaftierung und Ermordung (wahrscheinlich durch langsam wirkendes Gift) Sorge zu tragen — eine nach den Prinzipien damaliger Staatsräson keineswegs außergewöhnliche Entscheidung. Diese Affäre, seine spätere Bevorzugung schwarzer Klei-

Das spanische Weltreich unter Philipp II.

dung und der asketische Eindruck des klosterähnlichen Esconal haben das historische Bild des »Rey prudente« mitgeformt.

Nach der Abdankung Karls V. übernahm Philipp II. trotz der damit verbundenen Reichsteilung ein Weltreich. Unter seinem Zepter standen die spanischen Königreiche Kastilien, Navarra und Aragon (mit Rosellon und den Balearen), in Amerika umfaßten die Besitzungen der Krone die Karibischen Inseln und das Festland von Neuspanien (Mexiko) bis Chile und zum La-Plata-Gebiet, in Asien gehörten die Philippinen (dem Infanten Philipp zu Ehren so genannt) und Molukken dazu, in Afrika wehte das königliche Banner über den Kanaren sowie den festen Plätzen Oran, Bugia und Tunis, schließlich war Philipp König von Neapel und Sizilien, dazu von Sardinien sowie Herr von Mailand; im letzten Moment hatte Karl noch das burgundische Erbe (eben die Niederlande) und die Franche Comté hinzugeschlagen. Überdies war Philipp entschlossen, Portugal seiner Krone einzuverleiben, was ihm 1580 auch gelang.

Ein heterogeneres Gebilde als dieses Weltreich, dessen politisches Zentrum in Spanien lag, ist kaum vorstellbar. Dem Vermächtnis Karls V. folgend, sah Philipp II. das einigende Band in der katholischen Religion, die in den Dienst der universal ausgreifenden Macht gestellt wurde. Damit avancierte Spanien zur Hauptmacht der Gegenreformation. Philipps Politik verhärtete und dogmatisierte sich in dem Maße, wie er seine Herrschaft einem Mehrfrontenkonflikt ausgesetzt sah. Nach innen rückten die Unterdrückung der Kryptoprotestanten und die gewaltsame Lösung des Maurenproblems in den Vordergrund. Rigoros löschte die Inquisition die Zellen protestantischen Glaubens und kappte ihre über Navarra zu den französischen Hugenotten laufenden Verbindungen. Damit war zugleich das Schicksal der Bekenner erasmischer Ideen besiegelt; selbst der Erzbischof von Toledo, Bartolomé de Carranza, entging nicht dem Verdacht der Häresie. An die Grundlagen der absolutistischen Macht rührte der neu aufflackernde Separatismus Aragons, der durch die Umtriebe des in Ungnade gefallenen engsten Beraters Philipps, Antonio Pérez, gefährliche Ausmaße annahm. In englische und französische Dienste überwechselnd, nutzte Pérez seine internen politischen Kenntnisse und sein Wissen um die persönlichen Schwächen Phiipps, um Spanien nicht unbeträchtliche Verlegenheiten zu bereiten. Dafür verfolgte die Inquisition den Abtrünnigen über den Tod hinaus.

Kampf gegen Frankreich und England

Außenpolitisch stand Philipp II. vor einer schier unlösbaren Konfliktsituation, die auf die Dauer die materiellen und humanen Ressourcen des Landes überfordern mußte. Hauptgegner der Vormachtstellung Spaniens und damit Feind Nummer eins in der internationalen Arena war Frankreich. Die anhaltenden Hugenottenkriege boten Philipp die gewünschte Gelegenheit, sich nachhaltig in die inneren Angelegenheiten des Nachbarn einzumischen. Erst mit der Thronbesteigung durch Heinrich IV. stellte sich ein relatives Kräftegleichgewicht her, aus dem im Verlaufe des Dreißigjährigen Krieges Frankreichs Vormacht über Europa erwuchs. Im Ringen um die Wahrung der kolonialen und maritimen Weltgeltung traf Spanien in erster Linie auf England. Der Versuch, das Inselreich zu bezwingen und zugleich in den Schoß der altgläubigen Kirche zurückzuführen, endete mit dem Untergang der »Unbesiegbaren Armada« (1588). Im Mittelmeer stand Spanien den Osmanen gegenüber, deren Korsaren nicht nur große Teile der nordafrikanischen Küste kontrollierten, sondern auch an die Küsten Kataloniens, Aragons und Valencias vorstießen und durch ihre Präsenz den maurischen Widerstand ermutigten. In der Seeschlacht von Lepanto (1571) gelang es, die osmanische Macht im westlichen Mittelmeer zu brechen. Philipps Ruhm als Verteidiger des katholischen Glaubens stand in diesem Moment im Zenit.

Obwohl sich Philipp an die Spitze der Gegenreformation stellte, verweigerte er jegliche Unterordnung unter die päpstli-

Stellung zum Vatikan

chen Ansprüche. Die Beziehungen zu den Päpsten seiner Regierungszeit (Pius 1V., Pius V., Gregor XIII. und Sixtus V.) waren deshalb äußerst konfliktreich und eindeutig von machtpolitischen Überlegungen bestimmt.

Vor dem Hintergrund dieser weltweiten Verwicklungen und den inneren Stabilisierungsproblemen (vom Staatsbankrott bis zur separatistischen Opposition) wird das Interesse Philipps an einer raschen und radikalen Unterdrückung der niederländischen Unruhen begreiflich, zugleich aber auch das Warum des Scheiterns.


Im Jahre 1572 eroberten die Wassergeusen Briel. Die Stadt bildete die Ausgangsbasis für die Befreiung der nördlichen Provinzen.

{ Der vorstehende Kupferstich von Franz Hogenberg (Rijksmuseum Amsterdam) steht für den Loslösungsprozess der Niederlande von Spanien als Höhe- und Schlußpunkt der frühbürgerlichen Revolution in Europa - die Niederlande konstitutionieren sich 1648 zur ersten bürgerlichen Nation in Form einer konstitutionellen Monarchie. mxks 2004 (d.V.)}



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