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Elmar Altvater |
Thema |
ZU EINIGEN PROBLEMEN DES STAATSINTERVENTIONISMUS
( original )
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Status |
11/2006 |
Letzte Bearbeitung |
PROKLA 3 Mai 1972 |
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www.mxks.de
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- ZU EINIGEN PROBLEMEN DES STAATSINTERVENTIONISMUS -
1. Einleitung
2. Die ,Besonderung' des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft
2.1. Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen (´Infrastruktur´)
2.2. Setzung und Sicherung von allgemeinen Rechtsverhältnissen
2.3. Regulierung des Konflikts Lohnarbeit und Kapital
2.4. Sicherung der Existenz und Expansion des nationalen Gesamtkapitals auf dem kapitalistischen Weltmarkt
2.5. Schlussfolgerungen hieraus auf den Charakter des Staates
3. Die Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen durch den Staat
Exkurs zur Herstellung allgemeiner Produktionsbedingungen in der asiatischen Produktionsweise
4. Die Regulierung von Krisen durch den Staat
4.1. Die Funktion der Krise in der kapitalistischen Gesellschaft
- Exkurs zum Verhältnis von Widerspruch und Krise im ´Kapital´ -
4.2. ´Keynesianische´ Staatsfunktion und Stagflation
5. Die Bedeutung der Wissenschaft vom Staatsinterventionismus
- ZU EINIGEN PROBLEMEN DES STAATSINTERVENTIONISMUS -
-1-
Über den Arbeitszusammenhang dieses Artikels in Probleme des Klassenkampfs
(PROKLA 3 vom Mai 1972)
1. Einleitung
Es soll hier versucht werden, die Möglichkeiten und Grenzen des
Staatsinterventionismus in der bürgerlich
kapitalistischen Gesellschaft herzuleiten. Um aber diese Möglichkeiten und
Grenzen bestimmen zu können, sind die Funktionen des Staates in der
kapitalistischen Gesellschaft in einem allgemeineren Sinne als sie im Begriff
des Staatsinterventionismus anklingen, zu entwickeln. Jede Begrenzung der
Analyse auf die bloßen Funktion des ökonomisch verstandenen
Staatinterventionismus muß von vornherein blind für die allgemeinen
Funktionsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates und
daher auch für die Erkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen sein , da diese sich ja nur aus der spezifischen Form der
Gesellschaft ergeben. Bei der allgemeinen Bestimmung der
"wesentlichen
Charaktere" des bürgerlichen Staates allerdings kann es nicht bleiben,
sollen einzelne
-2-
Fragen des Staatsinterventionismus behandelt werden. Denn die Erscheinungsformen
gesellschaftlicher Krisen und daher auch die interventionistischen Antworten des
Staates unterliegen
historischen Wandlungen, die jeder Analyse ernsthafte
Probleme stellen, auf die zu Anfang kurz eingegangen werden soll.
Wenn man nicht die
"Bewegung im abstrakten Zustand", als
"Bewegung der reinen Vernunft" rein logisch zu deduzieren
trachtet , dann gilt es, in den historischen
Bedingungen und Entwicklungen der bestehenden Gesellschaft deren
innere
Struktur aufzudecken. Im Verlauf eines Forschungsprozesses hat man sich dann
wie Marx schreibt, den Stoff im Detail anzueignen, seine verschiedenen
Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst
nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend
dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs
ideell wider,
"so mag es so aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion
apriori zu tun."
Diese Explikation des Marxschen
Forschungsprozesses läßt sich nun
dahingehend interpretieren, daß die vielfältigen und komplizierten
Erscheinungsformen des hochentwickelten Kapitalismus selbst Gegenstand der
Untersuchung sein müssen und jede
programmatische Beschränkung auf die
Marxsche
Darstellung des Kapitalbegriffs sich eines Resultats bemächtigt,
das selbst nur als Resultat eines Prozesses der Erkenntnis, als Resultat eines
umfassenden Forschungsprozesses, richtig verstanden werden kann. Dieser
Erkenntnisprozeß im Sinne eines durchaus arbeitsteilig, d. h. kollektiv, zu
organisierenden theoretischen Arbeitsprozesses
muß sich als Forschungsarbeit auch auf die Ausprägungen des hochentwickelten
Kapitalismus beziehen und kann nicht dadurch abgekürzt werden, daß die
"fertige allgemeine Theorie des Kapitals", d. h. die Marxsche
Darstellung des Kapitalbegriffs, übernommen, in ihren Verästelungen angeeignet
wird. Dies kann und soll nicht heißen, daß die intensive Beschäftigung mit der
Marxschen Theorie, ihre genaue Aneignung und Rekonstruktion überflüssig sei. Im
Gegenteil,
-3-
erst das Studium des
"Kapital" und die damit erfolgende logische
Durchdringung der inneren Struktur der bestehenden Gesellschaft ermöglicht es,
Fragestellungen zu entwickeln, die den an historischen Erscheinungen
ausgerichteten Forschungsprozeß zu leiten vermögen. (Fragestellungen ergeben
sich unseres Erachtens auf
"jeder Stufe der Aneignung des Kapital",
und nicht erst zu dem eher mystischen Zeitpunkt, an dem Theorie in Methode
umschlägt.) Dieser Forschungsprozeß aber, der ja immer von Subjekten mehr oder
weniger schlecht vollzogen wird, die innerhalb eines bestimmten historischen und
politischen Zusammenhangs stehen, ist erst vorläufig bestimmt, solange nur
Fragestellungen - oder noch nicht einmal das - aus dem
"Kapitalbegriff im
Allgemeinen" hergeleitet werden und nicht zugleich schon die
"das
herrschende Bewußtsein bestimmenden herrschenden Theorien und objektiven
historischen Bedingungen" in einem wenn auch vorläufigen und nicht in
jeder Beziehung systematischen Sinn kritisiert werden. Der
"Theoretiker" hat es hier nicht besser als der
"politische
Praktiker": Um nicht den objektiven und subjektiven Bewegungen permanent
hinterherzuhinken, ist es notwendig, sich auch dann bereits Problemen zuzuwenden
und sich mit ihnen auseinander zu setzen, wenn der systematische Gang der
Forschung und Aufarbeitung von Theorien es eigentlich noch gar nicht zuläßt.
Marx selbst hat in einer Fülle von Artikeln, Erklärungen, Reden, Adressen
permanent zu aktuellen politischen Fragen Stellung bezogen, ohne jeweils im
einzelnen auf den
"Kapitalbegriff im Allgemeinen" zu rekurrieren - ja
ohne dessen Systematik bereits ausgearbeitet zu haben. Er hat sich nicht
gescheut, die empirische Oberfläche zu interpretieren und daraus
Schlußfolgerungen zu ziehen; die von den historischen Verhältnissen
aufgeworfenen Probleme haben ihn dazu veranlaßt oder gar gezwungen und wir sind
es in unserer historischen Epoche gleicherweise. Insofern ist die Aneignung der
Marxschen Theorie unbedingt notwendig, aber nicht als ein Instrument, das vor
der Auseinandersetzung mit Problemen der wirklichen Bewegung und Theorien
gelernt sein muß, und auch nicht als ein Dogma, das nur noch
"ex
cathedra" auslegebedürftig sei, sondern als
begriffliche
Abstraktion der
wirklichen Bewegung des Kapitalverhältnisses, die mit der
historischen Entwicklung des Kapitalismus auch neue Fragen aufwirft, die nicht
das Wesen dieser Gesellschaft, die Form ihrer Widersprüchlichkeit, wohl aber die
Erscheinungsformen des Kapitalverhältnisses berühren. Und die
"Realanalyse" umschließt sowohl die Analyse des Wesens als auch der
Erscheinungen (sowohl in ihrer systematischen begrifflichen Herleitung als auch
ihren konkreten historischen Verlaufsformen). Die Betonung des
"doppelgleisigen" Vorgehens - Aneignung der von Marx dargestellten
logischen Struktur des Kapitalbegriffs und Analyse historischer
Erscheinungsformen des Kapitalismus - darf allerdings keinesfalls als
methodisches Postulat verstanden werden. Allerdings gibt es auch keinen
Königsweg vom allgemeinen Kapitalbegriff zur Oberfläche des Kapitalverhältnisses
und den historischen Verlaufsformen einer konkreten Gesellschaft. Diese
Doppelgleisigkeit ist vielmehr politisch begründet, aus der Einsicht, daß man
mit der Analyse konkreter Probleme nicht so lange warten kann, bis der
Springpunkt des Umschlags
-4-
von Theorie in Methode endlich erreicht ist. (Diesen Springpunkt kann es gar
nicht geben, da jede nur auf die Logik der Kategorie bezogene Untersuchung, die
nicht an die politische Bedingtheit der forschenden Subjekte
"rückgekoppelt" ist, sich der Endlosigkeit kategorialer Entfaltung
aussetzt.)
Während die besondere Form des bürgerlichen Staates in
"wesentlichen
Charakteren" allen kapitalistischen Gesellschaften gemeinsam ist stellt sich das Problem des modernen
Staatsinterventionismus doch erst in einer Entwicklungsphase des
Kapitalverhältnisses, in der sich historische Bedingungen wie die Herstellung
eines kapitalistischen Weltmarktes, verschärfte Klassenkämpfe im nationalen und
internationalen Maßstab, ein entfalteter Staatapparat zusammen mit
institutionellen Verfestigungen des Konflikts Lohnarbeit Kapital usw.
herausgebildet haben. Auf der Grundlage der wesentlichen Charaktere des Staates
im Kapitalismus vollziehen sich Veränderungen der Staatfunktionen, die mit der
Analyse der wesentlichen Charaktere noch längst nicht im Griff sind. Um diesem
Problem also gerecht zu werden, käme es gerade darauf an, diesen nur sehr kurz
angedeuteten historischen Bedingungen genau nachzugehen, sowie die damit
entstandenen Theorien als Systematisierungen dieses Zustandes zu kritisieren,
was an einigen Beispielen in diesem Aufsatz auch versucht werden soll. Die
allgemeine Theorie kann nicht als solche der
"schmutzigen" Geschichte
wie ein
"Zauberspiegel", in dem von den Verunreinigungen der Empirie
nichts mehr zu sehen ist, entgegengehalten werden. Der verkehrte Schein des
Wesens des Kapitals stellt sich auch als
wirkliche Kategorien, sich
historisch entfaltende Formen, in denen sich diese Gesellschaft
materialiter reproduziert, dar. Der Staatsinterventionismus und die
darauf bezogenen Theorien dürfen daher auch nicht nur als eine falsche
Vorstellung von den Staatsfunktionen im Kapitalismus kritisiert werden, sondern
er ist sehr wohl als wirkliche Aktion des Staates auf die Gesellschaft unter
jeweils wechselnden historischen Bedingungen zu begreifen. Erst auf der Grundlage dieses Sachverhalts sind die Theorien des
Staatsinterventionismus zu kritisieren.
-5-
Unter Berücksichtigung der angeschnittenen Schwierigkeiten kann es in diesem
Aufsatz nur darum gehen, einige allgemeine, gegenwärtig relevante
Erscheinungsformen des Staatsinterventionismus zu erörtern, die natürlich der
Konkretisierung und Ausführung bedürfen. Wir worden im Folgenden
-
zuerst versuchen, die wesentlichen Charaktere des bürgerlichen Staates in der
für unser Problem gerade noch zu verantwortenden Kürze herauszuarbeiten,
- daran anschließend insbesondere die Schaffung allgemeiner materieller
Produktionsbedingungen durch den bürgerlichen Staat untersuchen
- und dann uns den Versuchen des staatlichen "Krisenmanagements"
zuwenden.
Dabei wird uns insbesondere das Problem der Stagflation interessieren.
- In einem abschließenden Teil wird exemplarisch die Frage untersucht, ob und
inwieweit der Fortschritt bürgerlicher Wissenschaft die staatlichen Aktionen in
der kapitalistischen Gesellschaft effektivieren kann.
Diese Problemkreise sind weniger einer entwickelten Systematik der Darstellung
des Staatproblems geschuldet, als nach ihrer politischen Wichtigkeit ausgesucht.
Der Aufsatz selbst versteht sich als Beitrag zur Entwicklung einer marxistischen
Staatstheorie.
2. Die ,Besonderung' des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft
Der Staat ist im Kapitalismus Organ der Herrschaft des Kapitals über die
Lohnarbeiterklasse. Diese Aussage ist nicht nur politische Erfahrungstatsache,
die in der bisherigen Geschichte der verschiedenen kapitalistischen Länder immer
wieder gemacht wurde und wird, sondern läßt sich auch systematisch ableiten. Um
aber diese Herleitung vollziehen zu können, muß von den Bedingungen des
kapitalistischen Reproduktionsprozesses ausgehend das sich auch politisch
ausdrückende Klassenverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft untersucht und
darin die Funktion des Staates bestimmt werden. Diese Herleitung allerdings wird
in diesem Aufsatz nicht vollzogen, da wir uns nur einer Seite staatlicher
Aktionen zuwenden, nämlich seinen Aktionen auf die vielen Einzelkapitale.
Entscheidend für unser Problem ist dabei die Frage, in welcher Weise die reale
Zusammenfassung der aus vielen Einzelkapitalen bestehenden Gesellschaft erfolgt
und welche Bedeutung dabei dem Staat zukommt.
Auf der von Marx analysierten Ebene des
"Kapital im
Allgemeinen" wird die reale Existenz des
Kapitals als gesellschaftliches Gesamtkapital vorausgesetzt. Das Gesamtkapital
Ist die Zusammenfassung im Sinne der realen
-6-
Durchschnittsexistenz der vielen Einzelkapitalen, deren subjektives Handeln
entsprechend den jeweiligen Bedingungen
im Resultat "hinter ihrem
Rücken", die Durchschnittsbedingungen als die Bedingungen des
Gesamtkapitals hervorbringt.
"Bewegungsgesetze" der kapitalistischen
Produktionsweise beziehen sich daher immer auf das Gesamtkapital, niemals auf
die vielen Einzelkapitale, die jedoch in ihren Aktionen bewußtlose
Vollzugsorgane kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten sind. Denn nicht das
Gesamtkapital handelt, sondern die vielen Einzelkapitale; aber in ihrem Handeln
erzeugen die Einzelkapitale die Existenzbedingungen des Gesamtkapitals:
durchschnittliche Ausbeutungsbedingungen, gleiche Mehrwertrate,
Durchschnittsprofitrate. Auf der, begrifflichen Ebene des
"Kapital im
Allgemeinen" werden die Durchschnittsbedingungen und ihre gesetzmäßigen
Bewegungen analysiert, d. h. das Handeln der Einzelkapitale interessiert hier
nicht als solches, sondern nur seine Resultaten. Allerdings ist auch auf der begrifflichen Ebene das Kapital im
Allgemeinen die
Form entwickelt, in der sich die allgemeinen Gesetze (als
Tendenzen) der kapitalistischen Produktionsweise aus dem und gegen das Handeln
der vielen Einzelkapitale durchsetzen. Diese Form ist die
Konkurrenz, in
der sich die immanenten Zwangsgesetze der kapitalistischen Produktion geltend
machen. Die Konkurrenz ist aber nicht bloße Form, die
gleichgültige
Inhalte exekutiert, sondern gerade die Form der Durchsetzung der immanenten
Gesetze des Kapitals. Sie ist also nicht bloß Instrument, gleichgültig gegen die
Inhalte, sondern real und begrifflich notwendiges Moment zur Herstellung des
Kapitals als Gesamtkapital. Die Durchschnittsbedingungen und Bewegungen des
realen Gesamtkapitals sind die reale Basis der begrifflichen Abstraktion des
"Kapital im Allgemeinen".
-7-
In der Konkurrenz kann das Kapital als Gesamtkapital aber nur insoweit
hergestellt werden, als die einzelnen Kapitale sich
wirklich aufeinander
beziehen. Dies können sie jedoch nur, insofern sie kapitalistisch handeln, d. h.
als Mehrwert produzierende Kapitale. Nicht alle gesellschaftlichen Funktionen
aber lassen sich in diesem Sinne kapitalistisch ausführen, sei es weil die
Produktion bestimmter (materieller) Produktionsbedingungen keinen Profit
abwirft, sei es weil der Allgemeinheitsgrad mancher Regelungen unter jeweils
konkreten Bedingungen zu groß für ihre Wahrnehmung durch Einzelkapitale mit
Ihren jeweiligen Sonderinteressen ist. Aus der kapitalistischen Form der
Produktion ergibt sich also gleichermaßen notwendig, daß die einzelnen Kapitale
sich zum Gesamtkapital in der Konkurrenz konstituieren
und daß diese
Konstituierung zur kapitalistischen Gesellschaft in Form der Konkurrenz
allein gar nicht angelegt sein kann. Der Hinderungsgrund liegt im Kapital
selbst, da die spezifische Form gesellschaftlicher Beziehungen - Warentausch
und Kapitalproduktion - bestimmte Verhältnisse gar nicht erst zustande kommen
läßt, wenn ihre Herstellung nicht profitabel ist oder aber ihre Herstellung in
einem Ausmaß und unter Bedingungen erfolgt, die die Existenz der ganzen
Gesellschaft gefährden (z. B. Destruktion der natürlichen Ressourcen einer
Gesellschaft, der
"Umwelt" als aktueller Beleg). Das Kapital kann
somit von sich aus in den Aktionen der vielen Einzelkapitale die in ihm
angelegte Gesellschaftlichkeit seiner Existenz nicht produzieren; es bedarf auf
seiner Grundlage einer besonderen Einrichtung, die seinen Grenzen als Kapital
nicht unterworfen ist, deren Handeln also nicht von der Notwendigkeit der
Mehrwertproduktion bestimmt ist, die
in diesem Sinne eine besondere
Einrichtung,
"neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft" ist, und die gleichzeitig auf der unangetasteten
Grundlage des Kapitals den immanenten Notwendigkeiten nachkommt, die das Kapital
vernachlässigt. Im Staat entwickelt demzufolge die bürgerliche Gesellschaft eine
spezifische, das Durchschnittsinteresse des Kapitals ausdrückende Form. Der Staat kann also weder als bloßes politisches
Instrument noch als vom Kapital abgehobene Institution begriffen werden, sondern
nur als besondere Form der Durchsetzung der gesellschaftlichen Existenz des
Kapitals neben und außer der Konkurrenz, als wesentliches Moment im
gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß des Kapitals.
-8-
Wann der Staat auch das Durchschnittsinteresse des Kapitals ausdrückt, so doch
nicht in einer widerspruchsfreien Weise. Denn der Begriff der
Durchschnittsexistenz des Kapitals hebt nicht die Aktionen und Interessen der
vielen Einzelkapitale auf, die als solche gegensätzlich zueinander stehen. Diese
Gegensätze hebt weder die Konkurrenz auf, noch sind sie der Konkurrenz oder der
"Anarchie des Marktes", wo sie erscheinen, geschuldet, noch kann der
Staat sie beseitigen. In diesem Sinne ist der Staat also niemals wirklicher,
materieller Gesamtkapitalist, sondern immer nur
ideeller oder fiktiver
Gesamtkapitalist. Dies ist der Inhalt der
Kategorie der
"Besonderung des Staates", der
"Verdoppelung" der bürgerlichen Gesellschaft in Gesellschaft und
Staat. Daraus läßt sich schon an dieser Stelle eine wichtige Schlußfolgerung
ziehen: Der Staat substituiert nicht die Konkurrenz, sondern er tritt neben sie,
und in bezug auf das die immanenten Gesetze ihrer Durchsetzung begrifflich
zusammenfassende
Wertgesetz bedeutet dies nicht seinen Ersatz oder gar
seine Aufhebung, sondern seine entsprechende
Modifikation. So macht der
Staat die Konstituierung der in Einzelinteressen zerfallenden Gesellschaft
historisch erst möglich gerade aufgrund der Tatsache, daß er ihre
Existenzgrundlage sichert (wie Erhaltung der Lohnarbeiterklasse als
Ausbeutungsobjekte des Kapitals, Schaffung allgemeiner Produktionsbedingungen,
Rechtsverhältnisse), die das Kapital entweder infolge seines durch die
Konkurrenz aufgeherrschten Zwangs zur maximalen Kapitalverwertung immer wieder
zu destruieren tendiert (vgl. Ausdehnung des Arbeitstags,
-9-
verschärfte Intensivierung der Arbeit und als Antwort darauf
Arbeitsschutzgesetze usw.) oder aber gar nicht zu erzeugen vermag, da die
Erzeugungsbedingungen nicht kapitalistische Produktion implizieren (wie es auf
einen Großteil der allgemeinen materiellen Produktionsbedingungen zutrifft). Der
Staat nimmt also Funktionen zur Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaft
wahr, und er kann sie gerade deshalb wahrnehmen, weil er als besondere
Institution neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft den Notwendigkeiten
der Mehrwertproduktion nicht unterworfen ist, wie das Einzelkapital, und sei es
noch so groß. Die
adäquate Form des Staats im Kapitalismus ist demnach
die gegenüber den Einzelkapitalen besondere Existenz und nicht etwa diejenige
als
"Instrument der Monopole". (Dies wird er erst in einem
vermittelten Sinne.)
Welches sind aber die Funktionen, die der Staat innerhalb der kapitalistischen
Gesellschaft wahrnimmt, da Einzelkapitale sie nicht wahrzunehmen vermögen? Es
sind dies im wesentlichen vier Bereiche, in denen der Staat vor allem tätig
wird, nämlich:
- Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen
("Infrastruktur");
- Setzung und Sicherung von allgemeinen Rechtsverhältnissen, in denen sich die
Beziehungen der Rechtssubjekte in der kapitalistischen Gesellschaft
abspielen;
- Regulierung des Konflikts Lohnarbeit und Kapital und gegebenenfalls
politische Unterdrückung der Arbeiterklasse und zwar nicht nur mit rechtlichen,
sondern auch mit polizeilichen und militärischen Mitteln;
- Sicherung der Existenz und Expansion des nationalen Gesamtkapitals auf dem
kapitalistischen Weltmarkt.
Alle diese Funktionen sind zwar sozusagen allgemeine Charakteristika des
bürgerlichen Staats, aber sie entwickeln sich auf der
historischen
Grundlage der Kapitalakkumulation.
2.1. Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen (´Infrastruktur´)
Gehen wir zunächst auf die materiellen Produktionsbedingungen ein. Was jeweils
allgemeine, vom Staat herzustellende Produktionsbedingungen sind, hängt vom
historischen Stand der Kapitalentwicklung ab; von der stofflichen Seite her
betrachtet in ihrer Funktion für den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß sind die
Funktionen z. B. der Eisenbahn heute die gleichen wie vor hundert Jahren.
Dennoch wurde die Eisenbahn im 19. Jahrhundert privat betrieben, war sie eine
rentable Form der Kapitalanlage, wohingegen sie heute für das Kapital ein
ausgesprochenes Verlustgeschäft ist und somit eine Sphäre für Aktionen des
bürgerlichen Staates darstellt. Dies ist nur ein
-11-
Beispiel für die konkrete historische
Bedingtheit staatlicher Aktivitäten bei der Herstellung allgemeiner
Produktionsbedingungen. Allgemein läßt sich nur so viel sagen, daß die vom Staat
übernommenen bzw. regulierten notwendigen Produktionsprozesse zunehmen müssen
aufgrund der
historischen Tendenz der fallenden Profitrate, deren
Begleiterscheinung es ja ist, das immer mehr Produktionsprozesse den
Einzelkapitalen als unrentabel (allerdings aus oberflächlich verschiedenen
Gründen) erscheinen und daher aufgegeben oder eingeschränkt werden, also aus dem
Aktionsbereich der durch die Konkurrenz vermittelten Einzelkapitale
entschwinden.
Um diesen Prozeß, der hauptsächlich allerdings für die materiellen allgemeinen
Produktionsbedingungen und nur in modifizierter Weise oder gar nicht (vgl.
unten) auch auf die anderen staatlichen Funktionsbereiche zutrifft, wirklich zu
verstehen, ist es notwendig, ihn aus dem Doppelcharakter des kapitalistischen
Produktionsprozesses als Arbeits- und Verwertungsprozeß (auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene) zu begreifen.
Einen Teil der vom
Arbeitsprozeß eines jeden Einzelkapitals geforderten stofflich materiellen
Produktionsbedingungen auf dem jeweiligen und durch die Konkurrenz (auf dem
Weltmarkt) aufgeherrschten Niveau der Produktivkräfte können Einzelkapitale
selbst bereitstellen. Die einen Einzelkapitale produzieren demnach
Produktionsvoraussetzungen für andere Einzelkapitale. Dieser Zusammenhang wird
mittels der Konkurrenz auf dem Markt als Prozeß
gesellschaftlicher
Arbeitsteilung der Kapitale untereinander hergestellt. Ein
anderer Teil
der stofflichen Produktionsbedingungen aber kann nicht von Kapitalen produziert
werden, da ihre
Produktion im Sinne kapitalistischer Bedingungen, also
als Verwertungsprozeß, unrentabel ist. So ergibt sich, daß vom
gesellschaftlichen Arbeitsprozeß her Anforderungen gestellt werden, die unter
kapitalistischen Bedingungen der
Einheit von Arbeits- und
Verwertungsprozeß nicht erfüllt werden können. (Um welche Bedingungen es sich
dabei handelt, wird unten noch dargestellt.) Was also als
Produktionsvoraussetzung dieser Art für die Einzelkapitale erscheint, ist vom
Arbeitsprozeß her betrachtet ein Bereich, der von den Kapitalen vernachlässigt
wird, der eine Art
"Vakuum" darstellt, in das notwendig der Staat
eintreten muß, da er nicht dem Verwertungszwang als Einzelkapital, aus dem immer
dieses
"Vakuum" resultiert, unterworfen ist. Dementsprechend sind die
Teile des gesellschaftlichen Wertprodukts, die vom Staat eingezogen und
verausgabt werden, in seinen Händen
kein Kapital. Aufgrund dieser
Tatsache gehen staatliche Funktionen dieser Art immer von einem gegebenen
gesellschaftlichen Kapitalfonds ab und
begrenzen so die
Kapitalakkumulation der einzelnen Kapitale. Hier
-12-
haben wir denn auch eine recht wirksame Grenze staatlicher Interventionen: sie
können nicht ein Ausmaß annehmen, bei dem die private Kapitalakkumulation zum
Erliegen kommt. Diese Grenze resultiert gerade aus der Tatsache, daß der
Staat Nicht-Kapitalist in einer kapitalistischen Gesellschaft ist; wäre
er dagegen selbst Kapitalist, hätten die Aufwendungen für allgemeine
Produktionsbedingungen Kapitalcharakter, dann wäre nicht einzusehen, wieso durch
die wachsende Staatstätigkeit die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft
verschärft würden.
Der einzelkapitalistische Produktionsprozeß bedarf also als Arbeitsprozeß
bestimmter
Voraussetzungen, um seinem Charakter als Mittel des
einzelkapitalistischen Verwertungsprozesses gerecht werden zu können, die
nicht Anlagesphären für Einzelkapitale sind. In deren Wahrnehmung besteht
die allgemeine Funktion des Staates, wobei die Art und Weise dieser Wahrnehmung
historisch bestimmt ist.
Mit der historischen Tendenz des Falls der Profitrate haben wir
eine
Seite der Bedingungen dafür bezeichnet, warum das Kapital immer weniger in der
Lage sein wird, den Anforderungen des Arbeitsprozesses als Mittel des
Verwertungsprozesses genüge zu tun. Die
andere Seite ergibt sich aus dem
steigenden Niveau der Produktivkräfte, die - allgemein gesagt - die bornierte
Seite kapitalistischer Produktion, Produktion von Mehrwert zu sein, sprengen.
Allerdings ist hierbei. zu berücksichtigen, daß Tendenzfeststellungen im
Kapitalismus nur insofern einen Sinn haben, als sie die
zyklische
Verlaufsform dieser Tendenz einkalkulieren. Entsprechend dem zyklischen Gang
der Produktion verschiebt sich quasi naturwüchsig auch der jeweilige
Staatsantell am Sozialprodukt als ganz grober Indikator für das hier
angesprochene Problem. Bei der Behandlung des
Problems der
"Stagflation" im 4. Teil wird dieser Zusammenhang noch
deutlicher werden.
Wenden wir uns nach dieser noch groben Kennzeichnung des staatlichen
Funktionsbereichs der Sicherung der allgemeinen materiellen
Produktionsbedingungen kurz den übrigen erwähnten Funktionsbereichen zu.
2.2. Setzung und Sicherung von allgemeinen Rechtsverhältnissen
Während die ökonomischen Verhältnisse in vorkapitalistischen Produktionsweisen
und beim Obergang zum Kapitalismus noch teilweise als unmittelbare
Zwangsverhältnisse konstituiert sind, tritt mit der Entwicklung des
industriellen Kapitals der unmittelbare Eingriff des Staats in die ursprüngliche
Akkumulation als ein wesentlicher Ausdruck des unmittelbaren Zwangs zurück. Die
Funktion des Staates bezieht sich nun wesentlich auf die Herstellung der
allgemeinen Voraussetzungen der freien Konkurrenz, die Beseitigung von
Friktionen durch Setzung
allgemeiner Rechtsverhältnisse und
-13-
durch Überwachung ihrer Einhaltung. Erst
durch die Regelung der Sphäre der Konkurrenz, des Austausches und des
kapitalistischen Eigentums wird in der Konkurrenz das Kapital
freigesetzt, um aufgrund seines gesicherten Eigentumstitels den
kapitalistischen Aneignungsprozeß kontinuierlich vollziehen zu
können. Aber niemals in der bürgerlichen
Gesellschaft hat die Rechtsetzung sich lediglich auf die Sphäre der Konkurrenz
begrenzt.
"Der andere wesentliche Teil des Rechts der bürgerlichen
Gesellschaft organisiert Herrschaftsverhältnisse unmittelbar, z. B. im
Strafrecht, Gewerberecht, Arbeitsrecht etc." Im Recht kodifiziert so der bürgerliche Staat nicht nur die
allgemeinen Verkehrsbedingungen von Warenbesitzern, sondern auch die allgemeinen
Produktionsbedingungen, Arbeitsbedingungen usw. Daß der Staat hier organisierend tätig wird, hat seine Ursache
gerade in der Konkurrenz, die die Kapitale als Einzelkapital zwingt, gegen die
Notwendigkeiten der Erhaltung des Kapitalverhältnisses zu handeln. Der Staat als
besondere Einrichtung, die dieser Konkurrenz nicht unterworfen ist, kann allein
hier regulierend tätig werden. Seine Notwendigkeit und die hier bezeichnete
spezifische Funktion ergibt sich gerade daraus, daß der Staat als Organ der
herrschenden Klasse nicht dem Verwertungszwang der einzelnen Kapitale
-14-
unterworfen ist, und sich daher am Gesamtinteresse
aller Kapitale
orientieren kann. Diese Eigenschaft des Staates befähigt ihn zur Setzung und
Oberwachung der Einhaltung des Rechts, der Regeln der Konkurrenz, wie sie etwa
in staatlichen Eichämtern, Materialprüfungsämtern, Patentämtern usw zum Ausdruck kommen, des Arbeitsvertrags, der sich ja
nicht mehr nur auf den Tauschverkehr von Warenbesitzern bezieht, sondern bereits
auf den Produktionsprozeß als Prozeß der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das
Kapital.
2.3. Regulierung des Konflikts Lohnarbeit und Kapital
Hiermit leiten wir über zur kurzen Kennzeichnung der Staatsfunktionen bei der
Regulierung des Konflikts Lohnarbeit und Kapital. Die allgemeine Problematik
besteht ja gerade darin, daß das Kapitalverhältnis zwar auf der Ebene des
Marktes als Verhältnis grundlegend gleicher Subjekte erscheint, aber wesentlich
Herrschafts und Ausbeutungsverhältnis ist. Da die kapitalistische Gesellschaft
also Klassengesellschaft ist, erhält der Staat aus dem ständigen Klassenkonflikt
und der Notwendigkeit seiner Eindämmung zur Erhaltung der Grundlage der
Gesellschaft auch Funktionen, deren Inhalt sich etwa auf die Herstellung
allgemeiner Ausbeutungsbedingungen, die Regulierung der Lohnrate, die
Unterdrückung von Klassenkämpfen bezieht. Dieser Funktionsbereich staatlicher
Aktionen ist ebenfalls Resultat historischer Entwicklungen, nämlich direktes
Resultat der mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung und ihrer bewußten Kämpfe
entstandenen Konterstrategien der herrschenden Klasse. Da im Falle von
Klassenkämpfen immer die bürgerliche Klasse als ganze betroffen oder gar bedroht
ist, können auch nicht einzelne Kapitale individuell die Funktionen der
Befriedung und Unterdrückung übernehmen , dies
wird immer mehr ein Bereich für Aktionen des "Ausschusses, der die
gemeinsamen Interessen der herrschenden Klasse besorgt."
-15-
2.4. Sicherung der Existenz und Expansion des nationalen Gesamtkapitals auf dem kapitalistischen Weltmarkt
Als Nationalstaat ist der Staat die Zusammenfassung der nationalen
Einzelkapitale auch gegenüber anderen Nationalstaaten auf dem Weltmarkt. In
diesem Bereich sind am ehesten die staatlichen Funktionen als staatliche
auszumachen: Sicherung der inländischen Währung, auswärtige politische
Beziehungen bis hin zur militärischen Sicherung der privaten Kapitalakkumulation
und -expansion in der Epoche des Imperialismus. Die Herausbildung von Funktionsbereichen, die dem Staat obliegen,
ist sogar regelmäßig über seinen Charakter als Nationalstaat vermittelt und das
heißt über Konkurrenz und Kampf von Nationalstaaten. Wenn wir auch die Staatsfunktionen nacheinander aufgeführt haben,
so doch nicht unter der Annahme, sie seien wirklich in dieser Weise voneinander
zu trennen.
Vielmehr durchdringt der Charakter des Staates als bürgerlicher
Klassenstaat alle seine Funktionen; sie dienen alle letztlich dazu, das
Kapitalverhältnis als Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis gegenüber der
Arbeiterklasse zu erhalten und zu festigen. Davon kann nicht abstrahiert werden.
Das uns dabei interessierende Problem allerdings ist die Frage, inwieweit in der
Wahrnehmung dieser Funktionen selbst Widersprüche produziert werden, welche
Grenzen dabei der Staat in seinen Aktionen unterworfen ist und welche Probleme
sich jeweils für das Kapital ergeben und welche taktischen Konsequenzen die
Arbeiterbewegung ziehen muß.
Aus der Besonderung des Staates als Form außer und neben der bürgerlichen
Gesellschaft ergibt es sich, daß der Staat den Einzelkapitalen als
negative
Schranke der Kapitalverwertung erscheinen muß: Er setzt Arbeitskräfte ein
zur Schaffung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen, zur Erhaltung des
Rechtssystems, zur polizeilichen und militärischen Unterdrückung, die demzufolge
dem Kapital als Ausbeutungsobjekte nicht mehr zur Verfügung stehen (obwohl vom
Arbeiter aus betrachtet seine Arbeitssituation die gleiche ist wie diejenige des
vom Privatkapital angewendeten Arbeiters)
oder
-16-
er setzt dem Verwertungsdrang des Kapitals durch Begrenzung des Arbeitstags,
durch rechtliche Schranken usw.
äußere Grenzen. Auf der Oberfläche
erscheint den einzelnen Kapitalen die vom Staat gesetzte negative
Verwertungsschranke etwa als abzuführende
Steuern, Soziallasten usw. zur
Deckung der Gemeinschaftsaufgaben, die die individuelle Konsumtion oder/und die
Akkumulation des Mehrwerts einschränken. War vor der Arbeitsgesetzgebung die
natürliche Grenze des Arbeitstags die Schranke des Kapitals in seinem
Drang nach Mehrarbeit, so danach die vom
Staat allgemein gesetzte.
2.5. Schlussfolgerungen hieraus auf den Charakter des Staates
Wenn der Staat in dieser Weise bestimmt ist, als Einrichtung der
kapitalistischen Gesellschaft neben und außer ihr,
gleichzeitig auf ihrer
Grundlage
und als negative Verwertungsschranke erscheinend, dann ist es
klar, daß die historischen Funktionen des Staats ihm nicht sozusagen von Anfang
an und selbstverständlich inhärent sind, sondern Ergebnisse von Krisen der
gesellschaftlichen Reproduktion, vermittelt über Klassenkämpfe und
Auseinandersetzungen von Fraktionen der herrschenden Klasse sein
müssen.
(Aber daß ihm diese Funktionen überhaupt zuwachsen können liegt in der Natur der
kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates überhaupt begründet.) Kein
Kapital kann von sich aus
freiwillig bestimmten, vielleicht als objektive
einsichtigen Notwendigkeiten gehorchen; der Druck der Konkurrenz wird es davon
abhalten. Kein Kapital wird also ohne äußere Veranlassung dem Vorrücken der
äußeren, vom Staat gesetzten Schranke der Kapitalverwertung zustimmen; es wird
sich dazu erst aufgrund von Katastrophen, Auseinandersetzungen, Kämpfen bereit
finden. Dies besagt aber über die Klassenkämpfe auch, daß sie eine wichtige
Funktion haben für die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaft (natürlich
ist dies nur die eine, hier hypostasierte Seite der Klassenkämpfe), indem sie
objektiven historischen Notwendigkeiten zum Durchbruch verhelfen vermittels des
Staats.
So ist auch als sozusagen empirische Bestätigung dieser These festzuhalten, daß
der Anteil des Staates am Sozialprodukt (als grober Indikator für die
Staatsfunktionen in der Gesellschaft) vor allem im Gefolge von Klassenkämpfen
wie nach dem ersten Weltkrieg und im Gefolge bzw. der Vorbereitung der großen
Katastrophen der Weltgeschichte, den Weltkriegen, angestiegen ist. Wenn auch
Adolph Wagner ganz allgemein und wenig begründet vom
"Gesetz der
zunehmenden Staatsstätigkeit" spricht und dabei eher eine Vermutung äußert
als eine begründete Tendenzfeststellung
macht, ist die Tatsache nicht zu leugnen, daß der Staatsanteil in diesem
Jahrhundert in Deutschland von ca. 15 auf über 40 v. H. angestiegen ist. Dabei
ist bemerkenswert, daß die Staatsausgaben
"in einer Phase nachhaltigen
Wirtschaftswachstums weniger stark als in Perioden geringerer Entfaltung, es sei
denn,
-17-
es herrsche Depression mit negativen Wachstumsraten des Sozialprodukts,
(expandieren). Im letzten Falle steigt ihre Anteilskurve steil an. .
." Hiermit wird nichts anderes
ausgedrückt, als daß die Staatstätigkeit, soweit sie mit Kosten verbunden ist,
den Verwertungsbedingungen des Kapitals folgt. Sind diese günstig, so wird der
Anteil, der zur Bewerkstelligung des
gesellschaftlichen Arbeitsprozesses
vom Kapital produziert wird, steigen oder zumindest nicht sinken, während der
vom Staat errichtete Anteil zurückgehen, bzw. nicht steigen wird. Setzt sich
aber die Tendenz des Falls der Profitrate in konjunkturellen Abschwungsphasen
durch, dann werden zum Teil naturwüchsig infolge der gestiegenen
Regulierungsanforderungen, worauf unten eingegangen wird, die Staatsfunktionen
anwachsen.
Der Staat ist also auf der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft den
Einzelkapitalen gewissermaßen komplementär, wobei die
"Komplementarität" staatlicher Funktionen jeweils historisch bestimmt
ist. Selbst in den Theorien des
"Staatsinterventionismus" aus
verschiedenen Epochen und Ländern kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck. Wurden
etwa von Adam Smith und in modifizierter Weise auch von Ricardo die
Staatsfunktionen auf Militär, Polizei, Bildung, Recht eingegrenzt und ansonsten
gefordert, die
"natürliche" Wirtschaftsentwicklung der privaten
Kapitale sich selbst zu überlassen, so wurde von den deutschen Theoretikern der
Finanzwissenschaft des 19. Jahrhunderts (A. Schaeffle, L. von Stein, A. Wagner)
dem Staat eine aktive Rolle bei der Heranbildung und Akkumulation des Kapitals
zugeschrieben. In dieser theoretischen Unterschiedlichkeit drückt sich exakt die
unterschiedliche Situation Englands und Deutschlands in bezug auf die
Kapitalakkumulation und die Konkurrenz auf dem Weltmarkt im 19. Jahrhundert aus.
Es zeigt sich hier auch, daß gesellschaftliche Funktionen immer erst dann als
staatliche entstehen, wenn sie nicht von Einzelkapitalen wahrgenommen werden
oder werden können.
Die Besonderung des Staates liegt somit in der
"Natur" des Kapitalverhältnisses begründet, aber die Herausbildung
des wirklichen Staates vollzieht sich jeweils unter den besonderen historischen
Bedingungen eines Landes in einer bestimmten Epoche; erst auf der Grundlage
der jeweiligen historischen Situation ist daher auch zu entscheiden, welche
allgemeinen Produktionsbedingungen
"allgemein" in dem Sinne sind, daß
sie staatlich erzeugt werden müssen und weiche als
"allgemeine"
dennoch von privaten Kapitalen hergestellt werden können. Diesem Problem wollen
wir uns im folgenden Abschnitt am Beispiel der allgemeinen materiellen
Produktionsbedingungen ausführlicher zuwenden.
3. Die Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen durch den Staat
-18-
Wir haben die Gründe für die Besonderung des Staates vor allem in der
Herstellung allgemeiner Produktionsbedingungen gesehen. Es wird jetzt notwendig
sein, vor allem auf die materiellen Produktionsvoraussetzungen einzugehen und zu
fragen, woran es liegt, daß sie vom Staat produziert werden und nicht von
privaten Kapitalen. Geht man von einem
allgemeinen
Interdependenzzusammenhang einer Gesellschaft aus, so schwinden die
Unterscheidungskriterien zwischen allgemeinen und besonderen
Produktionsbedingungen und zwischen allgemeinen, vom Kapital produzierten und
allgemeinen, vom Staat produzierten Produktionsbedingungen. Zu denjenigen Funktionen, die nicht oder nicht mehr oder noch
nicht vom Kapital besorgt werden, gehören nach ihrer
stofflichen Seite
beispielsweise: Herstellung eines Kommunikationssystems (Straßen, Wasserstraßen,
Telegraphie, Post), Erzeugung einer den Produktivkräften adäquaten
Qualifikationsstruktur (Bildungswesen), Reparatur des Arbeitsvermögens
(Gesundheitswesen), Wasserversorgung und die Beseitigung von Abwässern, Müll
usw. Die Gründe, aus denen heraus es sich nicht lohnt, diese Prozesse als
kapitalistische zu betreiben, sind ganz verschiedene. Sie liegen jedenfalls
nicht an den stofflichen Eigenschaften der erwähnten Einrichtungen. Es
kann daran liegen, daß die Kapitalauslage zu groß für ein Einzelkapital und die
Umschlagzeit (Arbeitsperiode, Produktionszeit oder Umlaufzeit) zu lang sind;
oder daran, daß die Resultate dieser Produktionsprozesse
unmittelbar keinen
Warencharakter haben (Qualifikationen, Forschungsergebnisse ); oder daran; daß der Markt (das gesellschaftliche
Bedürfnis) für eine rentable Produktion,
-19-
d. h. für die Realisierung des vorgeschossenen Kapitalwerts plus Mehrwert
absolut zu klein ist; oder daran, daß sich das Kapital nicht mit einer
unterdurchschnittlichen, wenn auch noch positiven Profitrate zufrieden gibt,
weil es noch profitablere Anlagesphären z. B. im Ausland, gibt.
Je länger die Arbeitsperiode und je langfristiger die Kapitalrückflüsse, desto
größer die gegenwärtige Kapitalauslage, desto unsicherer ist auch die Erzielung
der Durchschnittsprofitrate. Kommt bei solchen Kapitalauslagen aber noch hinzu,
daß die Resultate des Produktionsprozesses nicht Warencharakter annehmen können,
also die Leistungen etwa einer Straße allen zur Verfügung stehen können oder
müssen, dann können solche Anlagen kapitalistisch nicht betrieben werden.
Kapitalistischer Betrieb heißt hier: Ausbeutung von Arbeitskraft zur Produktion
von Mehrwert, d. h. Produktion zur Verwertung von Kapital. Wenn nun aber die
Notwendigkeit zum Ausbau der
"Infrastruktur" groß genug ist, so daß
Aufwendungen dafür vorgenommen werden müssen,
"dann wälzt das Kapital sie
auf die Schultern des Staates oder, wo der Staat traditionell ihm gegenüber noch
eine superiore Stellung einnimmt, besitzt er noch das Privilegium und den
Willen, die Gesamtheit zu zwingen, einen Teil ihrer Revenue, nicht ihres
Kapitals, in solche allgemein nützliche Arbeit (zu stecken), die zugleich als
allgemeine Bedingungen der Produktion erscheinen, und daher nicht als besondere
Bedingung für irgendeinen Kapitalisten und solange das Kapital nicht die Form
der Aktiengesellschaft annimmt, sucht es immer nur die besondren Bedingungen
seiner Verwertung, die gemeinschaftlichen schiebt es als Landesbedürfnisse dem
ganzen Land auf. Das Kapital übernimmt nur vorteilhafte, in seinem Sinn
vorteilhafte Unternehmungen." Daß diese
Vorteilhaftigkeit angesichts tendenziell sinkender Profitrate und steigendem
Niveau der Produktivkräfte auch für Aktiengesellschaften nicht mehr gegeben sein
muß, zeigt die Entwicklung des Eisenbahnwesens: ursprünglich vielfach eine
rentable Anlagesphäre, ist die Eisenbahn heute bei kapitalistischer Kalkulation
ein Verlustgeschäft.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß man von
Produktion und
Betrieb infrastruktureller Einrichtungen sprechen. Es ist klar, daß die
Produktion einer Straßenbrücke genauso
"produktiv", d. h. profitabel
ist, wie die Produktion einer Maschine oder eines Anzugs. Alle drei Produkte,
die wir als Beispiele gewählt haben, werden als Waren produziert und auf einem
Markt getauscht; die Form ist allerdings je verschieden. Der Anzugsproduzent
liefert für einen Massenmarkt, und hat ein Käufer den Anzug erworben, so hat der
Kapitalist sein ausgelegtes Kapital einschließlich des Profits ersetzt und der
Käufer ein Konsumgut gekauft, indem er Revenue verausgabt. Der Anzug
interessiert von diesem Augenblick als Wert nicht mehr, nur noch als
Gebrauchswert den Käufer: aber der Gebrauchswert ist so lange gleichgültig für
die ökonomische Analyse, wie er selbst
nicht formbestimmend ist - und
dies ist nach vollbrachtem Austausch der Fall. Der Maschinenproduzent dagegen
produziert aufgrund einer Bestellung des Maschinenkäufers. Dies
-20-
ändert aber nichts daran, daß er dennoch für den Austausch, für einen ihm
mittelfristig unbekannten Markt produziert und mit der Umsetzung der Maschine in
Geld einen Zirkulationsakt seines Kapitals vollzieht. Darin unterscheidet er
sich also nicht vom Anzugproduzenten. Anders allerdings als beim
Anzug
käufer legt der Fall beim Maschinenkäufer. Er kauft die Maschinen
nicht aus seiner Revenue, sondern aus dem
Geldkapital, das er vorschießt,
um einen Produktionsprozeß aufzunehmen oder fortzusetzen. Die Maschine wird also
in einen Teil des Produktivkapitals verwandelt; sie ist Produktionsmittel in
Kapitalform und zirkuliert dementsprechend als Kapital weiter. Wenden wir uns
nun dem Brückenproduzenten (z. B. ein Tiefbauunternehmen) zu. Auch hier wird
eine Ware spezifischen Charakters produziert (auf Bestellung, nach Vorauszahlung
usw.), in ihrem Verkauf realisiert auch dieser Produzent den vorgeschossenen
Wert und den Mehrwert, sonst würde er die Produktion bleiben lassen. Aber er
tauscht sie nicht gegen in Geldform vorgeschossenes Kapital wie beim
Maschinenverkauf oder gegen Revenue eines individuellen Käufers für dessen
Konsumtion aus, sondern gegen
Revenue, die der Staat ausgibt. Die Revenue
bezieht der Staat per Steuern, Abgaben usw., um sie für die Errichtung
allgemeiner Produktionsbedingungen zu verausgaben. Die
Herstellung der Brücke
ist also durchaus für das Kapital profitabel, nicht aber deren Verwendung.
Kein Kapitalist würde sein Kapital vorschießen, um eine Straßenbrücke zu bauen.
Entscheidend dafür, ob bestimmte Produktionsbedingungen vom Staat übernommen
werden oder nicht, ist also die Frage, ob sich erstens ein Kapitalvorschuß dafür
kapitalistisch lohnt, und zweitens, ob die jeweilige Produktionsbedingung
wirklich vom gesellschaftlichen Arbeitsprozeß her notwendig ist. (Daß diese
Notwendigkeit nicht allein aus Einsicht erkannt wird, sondern in Kämpfen,
Konflikten, Katastrophen, Krisen aufgeherrscht wird, wurde schon betont.)
Allgemeine materielle Produktionsbedingungen lassen sich also sehr wohl
profitabel herstellen, nicht aber unter einzelkapitalistischen Aspekten
profitabel betreiben.
Anders ist es im Ausbildungsbereich. Für die materielle Seite dieses Bereichs
gilt das gleiche wie für die erwähnte Brücke: Schulbauten, Unterrichtsmittel
usw. sind kapitalistisch herstellbar. Nicht aber in größerem Umfang die
Produktion der Qualifikationen. Sie werden bereits in staatlichen Anstalten
hergestellt, während ihre Verwendung als stoffliches Element des variablen
Kapitals von Einzelkapitalisten erfolgt. Qualifikationen tauschen sich als
integrales Bildungselement der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt aus in der
Regel gegen Kapital. Dieser Unterschied
zwischen Verkehrswesen usw. einerseits (auch Schulbau) und Ausbildungsbereich
ist gravierend. Alle Infrastrukturausgaben bestreitet der Staat aus der Revenue
des Landes, sie gehen demzufolge zumindest teilweise vom akkumulationsfähigen
Teil des Mehrwerts ab. Aber die Ausgaben für Brücken oder Schulbau fließen doch
wieder Einzelkapitalen zu, die auf diese Weise in die Lage versetzt werden, ihr
Kapi-
-21-
tal zu verwerten, indem die Zirkulation des Kapitalwerts gelingt. Die Ausgaben
für die Produktion von Qualifikationen, vor allem für Lehrer also, fließen
jedoch nicht an Einzelkapitale; sie ermöglichen vielmehr die Existenz einer
Schicht, die einen gegebenen Arbeitszeitfonds der Gesellschaft zur Ausbeutung
durch das Kapital verringert. Erst recht gilt dies für die Schüler und
Studenten, die während der Ausbildungszeit keine produktive Arbeit leisten und
daher nicht nur der direkten Herrschaft des Kapitals zeitweise entzogen sind,
sondern darüber hinaus nach Abschluß der Ausbildungszeit mit den auf sie
verwandten höheren Bildungskosten dem Kapital auf dem Arbeitsmarkt nur mit einem
höheren Wert der Arbeitskraft entgegentreten können, ohne daß daraus schlüssig
auch eine erhöhte wertbildende Potenz der Arbeit folgern würde. Ausgaben für den Ausbildungssektor gehen also nicht
nur vom Mehrwert des Kapitals ab, sondern erhöhen im Falle ihrer Steigerung
immer auch den Wert der Arbeitskraft und verringern damit bei sonst
gleichbleibenden Bedingungen die Mehrwertrate. Auf der anderen Seite jedoch
produziert der Lehrer mit seiner Arbeit die allgemeinen Qualifikationen als
Bedingungen, damit der Arbeitsprozeß überhaupt als Mittel des
Verwertungsprozesses stattfinden kann, damit kapitalistische Produktion und
Reproduktion des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich ist. Nur aufgrund dieser
Seite der Lehrertätigkeit kann sich das Kapital bereit finden, den
Ausbildungsbereich zu unterhalten. Die ökonomischen Funktionen der einzelnen
Infrastrukturbereiche sind also nicht nur von ihrer stofflichen Seite, sondern
auch von ihrer Stellung im kapitalistischen Reproduktionsprozeß her scharf
auseinander zu halten.
Da das Kapital sich also aus den beschriebenen Gründen hier nicht oder nur
unzureichend engagiert, wird der Staat gerade deshalb die Produktion von
Infrastruktureinrichtungen vornehmen müssen, weil er nicht gezwungen ist,
kapitalistisch zu produzieren: sein Fonds stammt ja aus der Revenue des Landes.
Auf der anderen Seite wird das Kapital sich dagegen zur Wehr setzen, sollte der
Staat Produktionsprozesse übernehmen, die doch dem Kapital unter seinen
jeweiligen
Sondergesichtspunkten als rentierliche erscheinen. Denn
erstens würde dies eine Verminderung der im Sinne des Kapitals unproduktiven
Arbeit bedeuten und zweitens die Ausschaltung einer Konkurrenz, die nicht nach
maximaler Selbstverwertung eines Kapitalvorschusses zu
-22-
streben braucht. Daß dies dann auch gesetzlich fixiert wird, ist nicht mehr
verwunderlich. So heißt es in den westdeutschen Gemeindeordnungen, daß die
wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden
- durch einen öffentlichen Zweck gerechtfertigt sein muß,
- die gemeindliche Finanzwirtschaft nicht in Gefahr gebracht werden darf,
- die Aufwendungen in angemessenem Verhältnis zum voraussichtlichen Bedarf
stehen müssen und
- der wirtschaftliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch
private Unternehmen erreicht werden kann.
Und im Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1971 heißt es dazu ganz
ähnlich:
"Angelpunkt fast aller wirtschaftspolitischen Überlegungen zur
mittelfristigen Entwicklung der Gesamtwirtschaft ist das Verlangen des Staates,
einen höheren Anteil des Produktionspotenzials in Anspruch nehmen zu können.
Weithin findet dieses Verlangen Zustimmung, wenn auch das Problem des Quantums
einer solchen Anteilserhöhung unterschiedlich gesehen wird, weil jede Erhöhung
unter dem Vorbehalt stehen muß, daß der Staat seine Aufgaben sinnvoll
erweitert, jedenfalls nicht nur Private aus ihrer Aktivität verdrängt,
sondern diese ergänzt und fördert. . ."
Nun darf man alle diese Prozesse nicht losgelöst von der historischen
Entwicklung betrachten. Was dem Kapital in einer bestimmten historischen
Situation als profitabel erscheint, braucht es in anderen Situationen nicht zu
sein. Immer dann, wenn Industriezweige nicht mehr rentabel sind, gibt es zuerst
staatliche Subventionen , und dann - wenn die
auch nicht helfen werden - diese Zweige vom Staat in eigener Regie übernommen
(Kohlenbergbau nach 1945 in England). Umgekehrt bestehen durchaus Tendenzen,
bereits staatlich betriebene Produktionsprozesse zu reprivatisieren, wenn die
Arbeit als produktive ausgebeutet werden kann (VEBA, VW).
Hier wird also plastischer, weil konkreter als noch im vorhergehenden Abschnitt,
daß der Staat in seiner Funktion für den kapitalistischen Produktionsprozeß
nicht nur Regulator ist, sondern mit der aus seiner besonderen Existenzform
resultierenden Funktion gerade dem Kapital zu seiner Durchschnitts-
-23-
existenz als Gesamtkapital verhilft. Der Staat sichert die allgemeinen
Produktionsbedingungen durch Übernahme aller derjenigen
stofflichen
Prozesse, die nicht kapitalistisch betrieben werden können. Seine Funktion als
Staat im Kapitalismus zur Sicherung der Basis der Ausbeutung der Lohnarbeit,
besteht gerade darin, nichtkapitalistische Produktionsprozesse in eigener Regie
zu übernehmen, und die wirklich die gesamte Kapitalklasse und darüber hinaus die
gesamte Gesellschaft betreffenden Bedingungen, (Rechtsverhältnisse usw.)
verbindlich zu regeln und einen nach innen und außen gerichteten Gewaltapparat
zu unterhalten. Nur so kann er seiner Funktion als Staat auf der Grundlage der
kapitalistischen Gesellschaft gerecht werden. Um es noch deutlicher
auszudrücken: Wenn wir von dem
"einheitlichen Mechanismus, der Staat und
Monopole zusammenfaßt" ausgehen, dann können wir seine Funktionsweise nur
in der Weise beschreiben, daß der Staat aufgrund der Anforderungen der
Produktivkräfte des Arbeitsprozesses Produktionsbedingungen zu erzeugen hat, die
aufgrund der Borniertheit des kapitalistischen Produktionsverhältnisses von
Kapitalen nicht erzeugt werden. Der Staat sichert das Kapitalverhältnis, indem
er nichtkapitalistisch agiert, also bei den vom Staat erzeugten allgemeinen
Produktionsbedingungen gerade nicht von
"Kapital" gesprochen werden
kann. Es ist also ungenau von
"Staatskapital" zu sprechen, ohne
zwischen Infrastrukturausgaben und
"Erwerbskapital" zu
differenzieren , und falsch zu behaupten:
"Der imperialistische Staat tritt jedoch nicht nur den Arbeitern und
Angestellten im unmittelbar staatlichen Bereich als Kapitalist gegenüber . . .
" Wenn der Staat sich als Kapitalist
betätigt, dann kann dies nur aus der besonderen Geschichte eines Landes, aus
besonderen historischen Bedingungen erklärt werden. In Ausnahmesituationen wird
die Betätigung als wirklicher Kapitalist immer wieder geschehen, wie im ersten
Weltkrieg in Deutschland (aus dieser Zeit stammt der Begriff des
"Staatkapitalismus"), z. T. im deutschen Faschismus oder in Italien
und Frankreich und nach dem zweiten Weltkrieg. Damit ist jedoch keineswegs die
kapitalistische Produktionsweise aufgehoben, wenn auch die Zunahme der vom Staat
direkt betriebenen Produktionsprozesse ein eindeutiges Anzeichen für die
Auflösungserscheinungen des entwickelten Kapitalismus, für seine
Stagnation und die mangelnden
"privaten" Investitionsgelegenheiten
ist.
Denn der Staat handelt ja - von den erwähnten historischen Besonderheiten
abgesehen - als Nicht-Kapitalist und begrenzt als solcher das Feld privater
Kapitalakkumulationen und -reproduktionen. Wäre der Staat selbst Kapitalist,
dann würde er gerade die Sphäre der Kapitalproduktion erweitern und alles
-24-
andere ausdrücken als Auflösungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft.
Insofern ist die Theorie des Staatmonopolistischen Kapitalismus in sich
widersprüchlich, wenn in ihr einerseits behauptet wird, der Staat fungiere
selbst als Kapitalist, anderseits aber von den allgemeinen
Niedergangserscheinungen des Imperialismus gesprochen wird. (Wir leugnen die
erste These, nicht die letztere.)
Exkurs zur Herstellung allgemeiner Produktionsbedingungen in der asiatischen Produktionsweise
Es ist in der Menschheitsgeschichte nichts Neues, daß vom Staat oder einer den
unmittelbaren Produzenten übergeordneten Einheit bestimmte Aufgaben des
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses wahrgenommen werden. Besonders wichtig
in diesem Zusammenhang ist die
asiatische Produktionsweise, die dadurch
gekennzeichnet ist, daß vor allem die komplizierten Bewässerungssysteme für die
landwirtschaftliche Produktion von der übergeordneten Einheit, dem Staat,
erhalten und erweitert werden, wie in Indien, in China und auch in einzelnen
Gebieten Afrikas und Lateinamerikas vor der Kolonialzeit. Aber hierbei handelt
es sich eben nicht um besondere Funktionen
neben und außer der
Gesellschaft, sondern um
gesellschaftliche Funktionen als solche. Die
Bewässerungssysteme werden nicht errichtet, um einzelnen Kapitalen die
Verwertungsbasis zu ermöglichen, sondern sind
Teil eines gesellschaftlichen
Arbeitsprozesses, der nicht das Mittel vieler Verwertungsprozesse ist. Die
künstliche Bewässerung ist in der asiatischen Produktionsweise die grundlegende
materielle Bedingung der Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Glieder; diese
Funktionen werden von der übergeordneten Einheit ausgeübt, weil sie auf
Dorfebene oder durch die einzelne Gens nicht ausgeübt werden können. Dies ist
etwas grundlegend anderes gegenüber der Bedeutung der
"Gemeinschaftsaufgaben" im Kapitalismus, wo sie deshalb vom Staat
übernommen werden, weil die Wahrnehmung der Funktionen keinen Profit abwirft und
folglich für Einzelkapitale uninteressant ist. Der Unterschied besteht also
nicht in der stofflichen Seite, und allgemeine Produktionsbedingungen lassen
sich nicht stofflich begründen. Er besteht in der
Form der
Produktionsweise, die erst im Kapitalismus durch den Doppelcharakter des
Produktionsprozesses gekennzeichnet ist. Erst hier kann es die eigentümliche
Trennung von kapitalistisch vollzogenen Produktionsprozessen und nicht
kapitalistisch d. h. staatlich vollzogenen Produktionsprozessen, geben, also die
Trennung in Gesellschaft und Staat in Form der Besonderung des Staates. In der
asiatischen Produktionsweise hingegen erfordert der gesellschaftliche
Arbeitsprozeß direkt die Wahrnehmung bestimmter Funktionen, ohne daß die
Zweiteilung dieser Funktionen wie im Kapitalismus eintreten könnte. Bezogen auf
die Problematik der gesellschaftlichen Krise zeigt sich der Unterschied zwischen
asiatischer Produktionsweise und Kapitalismus schlagend: In der asiatischen
Produktionsweise ist es der
Zerfall bzw. die Zerschlagung der zentralen
Gewalt durch die
-25-
Kolonialherren, die Vernachlässigung der zentralen Aufgaben des Wegebaus, der
Bewässerung usw., der zur Auflösung dieser Gesellschaftsform führt; im
Kapitalismus ist gerade die
wachsende Funktion des Staates, die
Herausbildung dessen, was man
"gemischte Wirtschaft" nennt, eine
Erscheinungsform der Auflösung dieser Gesellschaft. So wird hier deutlich, daß
jede Analyse des
"Staates" immer nur den Staat einer bestimmten
Gesellschaftsformation meinen kann; Verallgemeinerungen sind unmöglich.
4. Die Regulierung von Krisen durch den Staat
Bei der Darstellung der Funktion des Staates, die allgemeinen
Produktionsvoraussetzungen, vor allem materieller Art zu gewährleisten, wurde
schon betont, daß der Staat dabei den
Notwendigkeiten, die aus dem
Arbeitsprozeß und den
Grenzen, die aus dem Zwang der Kapitalverwertung
resultieren, unterworfen ist. Er wird also nicht als Ergebnis eines von diesen
Problemen freien Planungsprozesses der Gesellschaft die Wahrnehmung von
Funktionen übertragen bekommen wie in einer sozialistischen Gesellschaft;
vielmehr drängen sich diese Funktionen der Gesellschaft und erst von daher dem
Staat in
krisenhaften Situationen, durch Konflikte, Kämpfe, Katastrophen,
Unzuträglichkeiten auf. Daher tritt der Staat nicht erst als Regulator von
Krisen, als
Meister des Krisenmanagement, oder
"spätkapitalistischer
Wohlfahrtsstaat" in Erscheinung, wie
eine neuere Richtung der Staatstheorie, vor allem vertreten durch Habermas und
Offe, aber auch Hirsch und andere meinen,
sondern er ist
als historisch gewordener Staat selbst
Resultat
historischer Gesellschaftskrisen und davon geprägt. Es würde hier zu weit
führen, diese Prägung im einzelnen nachzuzeichnen - würde dies doch bedeuten,
die Staatsformen, die personelle Seite des Staatapparates und deren konkrete
Geschichte abzuhandeln -, doch scheint mir dieser Hinweis zur prophylaktischen
Vermeidung von Fehlern bei der Untersuchung des Staates und seiner Funktionen,
die ihm so leicht hin apriorisch zugeschrieben werden, ungeheuer wichtig. Denn
nur so kann das Verhältnis von Staat und Gesellschaft richtig verstanden werden
und nicht als eines, in dem der
Staat der Regulator, die
Gesellschaft in ihren Lebensbereichen aber
bloßes Objekt der
Regulierung ist und allenfalls durch Einflußnahme politischer Gruppen auf
den Staatsapparat aktiv zu werden vermag.
Wir werden daher jetzt versuchen, die Staatsfunktionen aus den ökonomischen
Widersprüchen der Gesellschaft, die sich zyklisch immer wieder bis zur Krise
verschärfen, zu analysieren und die grundlegende Befangenheit des Staates in
diesen Widersprüchen aufzudecken. Wir wenden uns damit einem
-26-
staatlichen Funktionsbereich zu, der in seinen Besonderheiten bisher noch nicht
angesprochen worden ist, der aber zumindest seit der
"keynesischen
Revolution" eine wachsende Bedeutung erlangt hat und nicht zuletzt aus
diesem Grunde zu Fehleinschätzungen von der Wirksamkeit des
Staatsinterventionismus geführt hat. Um aber die Möglichkeiten staatlicher
Interventionen beurteilen zu können, ist es notwendig, die Gründe der Krisen in
der gesellschaftlichen Struktur aufzudecken und ihre Funktionen zu untersuchen.
4.1. Die Funktion der Krise in der kapitalistischen Gesellschaft
Auf der abstraktesten Ebene ist die Funktion der Krise doppelt bestimmt:
-
"In den Weltmarktkrisen bringen es die Widersprüche und Gegensätze der
kapitalistischen Produktionsweise zum Eklat. . ." Krisen sind also nichts anderes als bis zum Eklat zugespitzte
Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise.
-
"Es ist gerade die Krise, worin ihre Einheit (der sich gegeneinander
verselbständigenden Momente der Kapitalentwicklung und des Austausches E.A.)
sich bestätigt, die Einheit der Unterschiedenen."
Krisen implizieren also immer auch die
zeitweilige Lösung der
Widersprüche, die Vereinheitlichung sich verselbständigender Momente und
erzeugen daher immer wieder die Grundlage für eine neue Periode kapitalistischer
Akkumulation. Die Krise ist als zugespitzte Form von Widersprüchen zugleich das,
was in der bürgerlichen Ökonomie mit dem Begriff der
"Reinigungskrise" umschrieben wird. Daher gibt es keine
"absolut
ausweglosen Lagen für die kapitalistische Wirtschaft. Selbst in der Marxschen
Akkumulations- und Krisentheorie bricht der Kapitalismus nicht von selbst
zusammen, sondern findet sein mögliches Ende in den durch die Krise ausgelösten
politischen Aktionen. . . " Aus dieser
doppelten Funktion der Krise folgt aber weiterhin, daß sich die kapitalistische
Akkumulation zyklisch bewegen
muß; die ihr inhärenten Widersprüche
treiben periodisch hin zur Krise, diese bereinigt die der Krise zugrundeliegende
Situation sich verselbständigender Momente, und initiiert so eine neue
Aufschwungphase bis zur erneuten Krise. Der industrielle Zyklus wird somit von
Marx und den Marxisten im Gegensatz zur bürgerlichen Ökonomie
nicht als
Konjunkturzyklus mit aufeinander folgenden grundsätzlich gleichwertigen
Phasen aufgefaßt,
sondern als Krisenzyklus, da ja die Krise der
"Knotenpunkt" ist, in dem sich die Widersprüche des Kapitalismus
konzentrieren. Die Krise, ihr Ausmaß, ihre Länge, ihre konkrete Lösung ist es
daher auch, die den Charakter der anderen Phasen des industriellen Zyklus
weitgehend bestimmt. Noch etwas folgt daraus für die Analyse: Krisenanalyse kann
nicht bei der Erscheinungsform der Krise ansetzen, sondern muß, will sie
Charakter und Funktion der Krise wirklich begreifen, die grundlegenden
Widersprüche des Kapitalismus darlegen und begründen,
-27-
warum und unter welchen Umständen sie zur Krise treiben. Um dies in
gebotener Kürze exemplarisch aufzuzeigen, soll auf Marx' Vorgehen im
"Kapital" eingegangen werden:
- Exkurs zum Verhältnis von Widerspruch und Krise im ´Kapital´ -
Bei dieser Darstellung muß zweierlei unterschieden werden:
- Verschärfung bedeutet nicht Zuspitzung von Widersprüchen. Nicht jeder
Widerspruch impliziert notwendig die Möglichkeit der Krise. Widerspruch und
Krise sind nicht identisch.
- Verschärfung bedeutet Verselbständigung der den Widerspruch konstituierenden
gegensätzlichen Seiten.
Dies ist vor allem anhand der ersten drei Kapitel des ersten Bandes vom
"Kapital" zu klären. Daraus kann folgende - verkürzte -
Argumentationslinie entwickelt werden: Die Ware stellt sich dar als Einheit von
Gebrauchswert und Wert. Diese Qualität erhält sie allerdings nur aufgrund der
Tatsache, daß die zu ihrer Produktion verrichtete Arbeit selbst von doppeltem
Charakter als konkret nützliche und abstrakt allgemeine ist. Da die Ware für den
Austausch produziert wird - und diese Zwecksetzung als Warenproduktion macht sie
bereits in der Produktion zur Ware und nicht erst im Austausch - stellt sich die
Arbeit
zugleich als private (Produktion der einen Ware) und
gesellschaftliche (Produktion für den Austausch gegen Waren, die von anderen
Produzenten hergestellt werden) dar. Die Gesellschaftlichkeit der Arbeit
wiederum ist doppelt bestimmt: einmal durch die zur Produktion aufzuwendende
gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, zum anderen durch das
gesellschaftliche Bedürfnis nach der produzierten Ware. Hierhin ist in nuce
bereits der Widerspruch zwischen Produktion und Realisierung eingeschlossen, der
genauer erst im dritten Band des
"Kapital" behandelt wird. Die
Produktion für den Austausch ergibt die Verdoppelung der Ware in Ware und
Geld. Ist eine Ware als allgemeines Äquivalent aller anderen Warenwerte
ausgesondert, erhält der Warenwert eine doppelte Existenz:
"Die historische
Ausweitung und Vertiefung des Austausches entwickelt den in der Warennatur
schlummernden Gegensatz von Gebrauchswert und Wert. Das Bedürfnis, diesen
Gegensatz für den Verkehr äußerlich darzustellen, treibt zu einer selbständigen
Form des Warenwerts und ruht und rastet nicht, bis sie endgültig erzielt ist
durch die Verdoppelung der Ware in Ware und Geld. In demselben Maße daher, worin
sich die Verwandlung der Arbeitsprodukte in Waren, vollzieht sich die
Verwandlung von Ware in Geld." Geld ist
zunächst nichts anderes als
"notwendige Erscheinungsform des immanenten
Wertmaßes der Waren, der Arbeitszeit."
Die Verdoppelung der Ware in Ware und Geld bringt somit die Funktion des Geldes
als
Wertmaß hervor. In dieser Funktion jedoch dient das Geld nur als
vorgestelltes, ideelles Geld; die Ware hat nur einen Geld-
-28-
namen, einen
Preis. Die Warenwerte sind nur verwandelt in vorgestellte
Goldquanta. Die Waren sagen sich in ihrem Geldnamen nur, was sie wert sind, und
das Geld dient dabei als
"Rechengeld". Die Verdoppelung der Ware in
Ware und Geld ist noch ganz auf die Ware bezogen: sie hat einen bestimmten Wert,
der ihr als Geldnamen, als Preis anhängt; das Geld ist noch nicht wirklich der
Ware
als zu realisierender Preis gegenübergetreten. Aber:
"Die
Preisform schließt die Veräußerung ein." Geld wird daher in der Zirkulation
reel zum Tauschwert,
gegen den die Ware reell getauscht werden muß:
Verkaufen. Das Geld hat
allerdings keinen Gebrauchswert, außer den, gegen eine andere Ware mit
Gebrauchswert eingetauscht werden zu können:
Kaufen.
"Der
Austauschprozeß der Ware vollzieht sich also in zwei entgegengesetzten und
einander ergänzenden Metamorphosen - Verwandlung der Ware in Geld und ihre
Rückwandlung aus Geld in Ware. Die Momente der Warenmetamorphose sind zugleich
Händel des Warenbesitzers - Verkauf, Austausch der Ware mit Geld; Kauf,
Austausch des Geldes mit Ware, und Einheit beider Akte: verkaufen um zu
kaufen." Sobald der in der Ware
eingeschlossene Widerspruch von Gebrauchswert und Wert als äußerer Gegensatz von
Ware und Geld erscheint und sich der gesellschaftliche Charakter der
warenproduzierenden Arbeit sich darin äußert, daß die Ware
reell gegen
Geld getauscht werden muß, ihr Wert also die Geldform annehmen muß, ist auch die
Möglichkeit des Nicht-Gelingens dieses Austauschakts da.
"Keiner kann
verkaufen, ohne daß ein andrer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen,
weil er selbst verkauft hat. Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen
und individuellen Schranken des Produktenaustausches eben dadurch, daß sie die
hier vorhandene unmittelbare Identität zwischen dem Austausch des eigenen und
dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf
spaltet. Daß die selbständig einander gegenübertretenden Prozesse eine innere
Einheit bilden, heißt ebensosehr, daß ihre innere Einheit sich in äußeren
Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der innerlich
Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so
macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine Krise. . ." Die der Ware immanenten Widersprüche erhalten in den
Gegensätzen der Warenmetamorphose die
"Bewegungsformen". Diese
Bewegungsformen
"schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die
Möglichkeit der Krisen ein. . ." Dies
bedeutet, daß Krisen als Möglichkeit des Eklats nicht auf allen
Widerspruchsebenen angelegt sind, sondern die Widersprüche selbst
Bewegungsformen gefunden haben müssen, in denen sich die Momente als äußere
Gegensätze bedingen, aber auch verselbständigen können. Folglich ist es kein
Zufall, wenn die Krise erst von Marx erwähnt wird, als der der Ware immanente
Widerspruch von Gebrauchswert und Wert zur Notwendigkeit der Warenmetamorphose
entwickelt ist und damit die Form begründet ist, in der sich die Momente des
-29-
Widerspruchs überhaupt gegeneinander real verselbständigen können. Erst hier
kann von der Möglichkeit der Krise die Rede sein:
"Die Möglichkeit der
Krise, soweit sie in der einfachen Form der Metamorphose sich zeigt, geht also
nur daraus hervor, daß die Formunterschiede - Phasen -, die sie in ihrer
Bewegung durchläuft, erstens notwendig sich ergänzende Formen und Phasen sind,
zweitens trotz dieser inneren notwendigen Zusammengehörigkeit gleichgültig
gegeneinander existierende, in Zeit und Raum auseinanderfallende, voneinander
trennbare und getrennte unabhängige Teile des Prozesses und Formen (sind). Sie
liegt also allein in der Trennung von Verkauf und Kauf. Es ist nur in der Form
der Ware, daß die Ware hier die Schwierigkeit durchzumachen hat. Sobald sie die
Form des Geldes besitzt, ist sie darüber hinweg... Die Weltmarktkrisen müssen
als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der
bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden. Die einzelnen Momente, die sich also in
diesen Krisen zusammenfassen, müssen also in jeder Sphäre der bürgerlichen
Ökonomie hervortreten und entwickelt werden, und je weiter wir in ihr
vordringen, müssen einerseits neue Bestimmungen dieses Widerstreits entwickelt,
andererseits die abstrakteren Formen desselben als wiederkehrend und enthalten
in den konkreteren nachgewiesen werden. - Man kann also sagen: Die Krise in
ihrer ersten Form ist die Metamorphose der Ware selbst, das Auseinanderfallen
von Kauf und Verkauf.. . " Die
Möglichkeit der Krise liegt also in der Trennung von Verkauf und Kauf. Diese
Form der Bewegung der der Ware immanenten Widersprüche muß erst entwickelt sein,
damit von der Krisenmöglichkeit überhaupt die Rede sein kann. Und darüber hinaus
ist diese abstrakteste, allgemeinste Form ohne Inhalt der Krise in den
konkreteren, in denen sich die Krise real bewegt, enthalten.
Wird die Krise in diesem Zusammenhang begriffen, dann kann auch nicht einfach
vom möglichen Krisenmanagement des bürgerlichen Staates ausgegangen werden, da
ja die Krise, die
"gemanagt" werden soll, nur die unmittelbare sich
aufdrängende Erscheinungsform der sich verschärfenden Widersprüche ist. Nicht
die Krise wäre demzufolge vom Staat zu manipulieren, sondern die sie
hervortreibenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise. Aber es
darf füglich bezweifelt werden, ob der
Staat als Institution auf der
Grundlage der bestehenden Gesellschaft,
mit Funktionen ausgestattet, die
selbst das Resultat eklatierender Widersprüche sind, in der Lage ist, diesen
Widersprüchen beizukommen. Mehr noch: der Staat ist, wie schon gezeigt
wurde, selbst in den Widersprüchen dieser Gesellschaft befangen; wie soll er sie
dann wirksam regulieren können? Aus der Form
-30-
der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates folgt daher die prinzipielle
Unfähigkeit zur Regulierung der gesellschaftlichen Widersprüche. Wenn dann aber
der Staat als Krisenmanager fungiert, so setzt er an den Erscheinungsformen, an
den Symptomen der gesellschaftlichen Widersprüche, der Krisen an. Es sind dem Staat nur die Oberflächenbewegungen der
bürgerlichen Gesellschaft zur Intervention zugänglich, nicht aber die ihnen
zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten. Jedes staatliche Handeln zur Behebung oder
Verringerung von Konflikten setzt daher neue Konflikte. Es ist natürlich
unmöglich, alle Erscheinungsformen der Krise des Kapitalismus heute, die
staatlichen Interventionen und ihre Folgen zu behandeln. Wir werden uns daher
auf einen Aspekt beschränken, der mit dem erst neuerdings auftauchenden Begriff
der
"Stagflation" beschrieben wird. Wir wählen dieses Problem
deshalb, weil sich hier sehr schön zeigen läßt, wie der Staat als
"Krisenmanager" nicht nur voll versagt, sondern auf der Grundlage der
kapitalistischen Produktionsweise, befangen in deren Widersprüchen,
die
Stagflation als spezifische Erscheinungsform der Krise produziert, indem er
keynesianisches Krisenmanagement betreibt.
4.2. ´Keynesianische´ Staatsfunktion und Stagflation
Der Begriff der Stagflation drückt die positive Korrelation zweier Tendenzen
aus, die im
"klassischen" Konjunkturzyklus negativ korreliert waren:
"Der Preisanstieg in Boomperioden ist so alt wie der Konjunkturzyklus; das
Nichtzurückgehen der Preise in der Rezession ist das Spezifikum der jüngeren
Vergangenheit." Weiche Gründe sind es,
die eine solche Kombination bewirken?
Gehen wir zunächst auf die Preisbewegung ein. Daß an der säkulären Inflation
weder die Gewerkschaften und die
"Lohn-Preis-Spirale" Schuld sind,
noch die Monopolisierung der Wirtschaft, soll in diesem Papier nicht ausführlich
dargelegt werden; die Auseinandersetzung mit dieser These wird in anderen
Schriften geführt. Die Preissteigerungen der
vergangenen 20 Jahre
-31-
eines nur durch schwache Rezession kurzzeitig unterbrochenen allgemeinen
Aufschwungs auf dem kapitalistischen Weltmarkt haben ihre Ursache vielmehr in
der raschen Ausdehnung des Kapitals mit der Folge der Kreditausweitung in allen
Weltmarktländern; den im Aufschwung erzielbaren Extraprofiten entwickelter
Kapitale (handele es sich um Einzelkapitale innerhalb einer Nation oder um
nationale Gesamtkapitale auf dem Weltmarkt) die ja darin sich ausdrücken, daß
Preissenkungen nicht entsprechend der Steigerung der Produktivkraft erfolgen und
daher immer ein Moment
"relativer Inflation", wie Hofmann dies
nennt, enthalten; den im Aufschwung aus den
stofflichen Bedingungen des Produktionsprozesses resultierenden Disproportionen
infolge der Länge der Produktionsperiode bestimmter Waren, während der aber
Rohstoffe gekauft und Arbeitskräfte bezahlt werden müssen, so daß dem Markt Ware
entzogen wird, aber keine Ware geliefert wird, während andererseits Geld in die
Zirkulation gelangt; und schließlich haben die Preissteigerungen ihre Ursache in
der kontinuierlich wachsenden Staatsschuld der wichtigsten kapitalistischen
Nationen, vor allem der USA. Da über den Weltmarkt ein enger Zusammenhang der
kapitalistischen Nationen gegeben ist, brauchen die benannten Faktoren nicht
unbedingt in jeder Nation ihren Ursprung zu haben, um in den Prozeß nationaler
Preisinflationen einzumünden. Solange der Weltmarkt expandiert, wird eine
national beschränkte Stagnation oder Rezession, sofern dieses
entsprechende Land in den Weltmarktzusammenhang integriert ist - und welche
entwickelte kapitalistische Nation ist dies heute nicht - auch dann nicht zu
kompensierenden Preissenkungen führen, wenn eine
"disziplinierte"
Wirtschaftspolitik betrieben wird. Das höchste, was erwartet werden kann, ist
eine
zeitweise Preisberuhigung wie in Westdeutschland nach 1966. Im
Weltmarktzusammenhang liegen ja gerade die Grenzen für eine erfolgreiche
nationalstaatliche Wirtschaftspolitik. So
schreibt auch der Sachverständigenrat:
"Das System von Bretton Woods... hat
eine Solidargemeinschaft mit inflatorischem Trend geschaffen. In großer Anzahl
haben die Länder Zielkonflikte, in die sie durch übersteigerte Ansprüche an das
Sozialprodukt gerieten, überwiegend zu Ungunsten der Geldwertstabilität
entschieden. Da diese Länder ein Obergewicht hatten, konnten sie das
Hintansetzen der Geldwertstabilität zur Norm des Systems machen und ... auch die
stabilitätsbewußten Länder zwingen, dem Trend der schleichenden Weltinflation zu
folgen ... Das innere Ungleichgewicht des Systems läßt sich auch so
kennzeichnen:
Während inflatorische Impulse
-32-
sich immer ungehinderter ausbreiten konnten, wurden die disziplinierenden
Wirkungen, die von stabilitätsbewußten Ländern hätten ausgehen sollen - und die
für die Funktionsfähigkeit des Systems völlig unentbehrlich waren - mehr und
mehr durch die Devisenreserven einer reichlich mit Liquidität versorgten Welt
abgefangen, ja konterkariert . . ." Wir
sind nicht der Auffassung, daß die Weltmarktinflation unmittelbar dem System von
Bretton Woods geschuldet ist, sondern dem Weltmarktzusammenhang der
kapitalistischen Nationen in einer allgemeinen Aufschwungphase, gleichgültig wie
das Währungssystem
technisch ausgestaltet ist, und wir halten es für
falsch, die vagabundierenden Devisen, vor allem Dollardevisen, der
"Disziplinlosigkeit" nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik
zuzuschreiben. Denn diese
"Disziplinlosigkeit" selbst ist die
notwendige Konsequenz der fundamentalen Widersprüche im entwickelten
Kapitalismus, die sich in den neuen Formen der Staatstätigkeit nach dem zweiten
Weltkrieg, den besonderen historischen Bedingungen also, unter denen der Staat
Produktionsbedingungen und damit die Reproduktionsbedingungen des
gesellschaftlichen Systems gewährleistet, ergeben. Bevor darauf eingegangen
werden soll, ist es notwendig, die andere Seite der Stagflation, die Stagnation,
kurz zu untersuchen.
Die
Stagnation ist eine
besondere historische Erscheinungsform der
Krise, aus der kein neuer Konjunkturaufschwung erfolgt. Sie drückt somit
einen Zustand der Ökonomie aus, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die
"reinigende Funktion der Krise" sich noch nicht ausgewirkt hat.
Vereinfacht, d. h. vom Resultat her gesprochen, hat die Krise die Situation dann
"bereinigt", wenn die Durchschnittsprofitrate der Einzelkapitale nach
dem Fall, der zur Krise führte, wieder zu steigen beginnt. In der Krise müssen
also Kräfte wirksam sein, die auf der einen Seite das vom Kapitalisten
vorzuschießende Kapital verringern, beispielsweise durch Senkung der Preise der
Elemente des konstanten Kapitals (Rohstoffe, Maschinen), oder durch Senkung des
vorzuschießenden variablen Kapitals (Reallohnsenkung, Einschränkung der
beschäftigten Arbeiterzahl), auf der anderen Seite die Ausbeutungsrate steigern,
vor allem durch Intensivierung der Arbeit, Verlängerung des Arbeitstages der
Beschäftigten. Mit anderen Worten: Kapital muß für einen neuen Aufschwung
entwertet werden und das nicht entwertete, vorgeschossene Kapital muß
eine höhere Profit- und letztlich Mehrwertrate abwerfen, damit
-33-
ein Neuaufschwung einsetzen kann. Zudem
müssen Zinssenkungen und Verringerungen der Grundrente stattfinden, damit der
industrielle Profit zu steigen vermag; denn vom industriellen Profit hängt die
Konjunktur ab, nicht vom zinstragenden Kapital. Und schließlich müssen Realisierungsmöglichkeiten entstehen, um
die neu produzierten Werte auch absetzen zu können, beispielsweise durch
Erschließung neuer Absatzgebiete auf dem Weltmarkt. Sind diese Bedingungen nicht
oder nur teilweise gegeben, dann ist ein neuer Aufschwung zweifelhaft, dann
herrscht allenfalls
"Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung", also
Stagnation, die durch
"mangelnde Investitionsgelegenheiten"
privater Kapitale gekennzeichnet ist.
Die mangelnden Investitionsgelegenheiten beziehen sich natürlich nur auf die
private Kapitalakkumulation. Im Abschnitt über die allgemeinen materiellen
Produktionsbedingungen sind wir noch davon ausgegangen, daß die mangelnde
Kapitalverwertung bei bestimmten Produktionsprozessen in bestimmten historischen
Phasen festgemacht werden kann, die sich aufgrund ihrer besonderen Bedingungen
nicht oder nur schlecht unter das Kapital als Einzelkapital subsumieren lassen,
während in den anderen Bereichen der kapitalistischen Gesellschaft eine für
flotte Akkumulation ausreichende Verwertung des Kapitals gegeben ist. Der Staat
kommt hier sozusagen aus
"strukturellen" Gründen ins Spiel. Anders
verhält es sich aber im Falle der Stagnation, die ja gerade durch
mangelnde
Verwertung im privaten Bereich gekennzeichnet ist. Die Funktion des Staates
besteht jetzt nicht darin, allgemeine Produktionsbedingungen zu erzeugen, um
den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß als Mittel des Verwertungsprozesses der
vielen Einzelkapitale zu ermöglichen, sondern bei der Herstellung von
Verhältnissen mitzuwirken, die die Krise zwar überflüssig machen, dennoch aber
in der Wirkung ihre reinigende Funktion ausüben. Der Staat kommt hier
sozusagen aus
"konjunkturellen" Gründen ins Spiel. Hier haben wir
den Punkt, an dem der Staat mit seinen Staatsausgaben relevant wird; der
stagnierenden Kapitalakkumulation wird durch Staatsausgaben entgegengewirkt. Für
Keynes war die Art der Staatsausgaben gleichgültig jedenfalls soweit es um die multiplikative Einkommens- und
Beschäftigungswirkung geht. Damit sind wir aber dort, wo die Keynesianische
Ökonomie auf gar keinen Fall hin will, nämlich
"in the world of Say's Law
of Markets; only Governement is the deus ex machina that insures effective
demand." Und in bezug auf die Probleme
der Schaffung
-34-
der allgemeinen Produktionsbedingungen haben wir hiermit ein Exempel dafür, wie
tatsächlich der Staat entsprechend den Verwertungsbedingungen des privaten
Kapitals eine Funktion erhält, also nicht von Natur aus irgendwelche
Produktionsbedingungen übertragen bekommen hat und andere nicht. Was allgemeine
Produktionsbedingungen sind, richtet sich gerade danach, was vom Kapital in
einer spezifischen historischen Situation nicht von ihm selbst übernommen werden
kann. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Verwertungsbedingungen des Kapitals es
nur zulassen, daß ein Teil der Arbeiterbevölkerung eines Landes als produktive
Arbeiter, d. h. Kapital produzierende Arbeiter beschäftigt werden kann, dann
gibt es nur die Alternative der
"Unterbeschäftigung" oder ihrer
unproduktiven, d. h. nicht Kapital produzierenden Verwendung durch den Staat.
Daß der Staat nicht Arbeitskräfte gegen Kapital ankauft, zumindest nicht in
größerem Umfang, geht schon daraus hervor, daß der Staat als Kapitalist nicht in
Konkurrenz zu anderen Kapitalen treten wird, weil dies eine weitere
Verschlechterung der schon unzureichenden Verwertungsbedingungen für eine
Vollbeschäftigung zur Folge haben würde, wie bereits dargestellt wurde.
Indem der Staat aber in diesem Sinne Maßnahmen zur Abwendung einer allgemeinen
Stagnation der kapitalistischen Wirtschaft ergreift, übt er in seinen
ökonomischen Aktivitäten bestimmte und je nach Ausgabeart unterschiedliche
Wirkungen auf die Kapitalentwicklung aus. Die Wirkungen der Ausgabenarten sollen
nur kurz dargestellt werden.
- Kommen die Staatsausgaben der Arbeiterklasse zugute, ohne Einschränkung der
individuellen Konsumtion (verbessertes Gesundheits- und Bildungswesen z. B.), so
verbessert sich die Verteilung des Wertprodukts zugunsten der Arbeiterklasse,
was jedenfalls eine verringerte Mehrwertrate und letztlich auch eine verringerte
Profitrate des Kapitals zum Resultat hat. Maßnahmen mit dieser Wirkung können
daher das Ziel der Beseitigung der Stagnation durch Ankurbelung der
Kapitalakkumulation nicht erreichen.
- Werden die Staatsausgaben dazu verwandt, eine Umverteilung des Profits
innerhalb der Kapitalistenklasse vorzunehmen (Subventionen), so ist nur dann ein
positiver Effekt auf die Akkumulation abzusehen, wenn die subventionierten
Kapitale die erhaltenen Beträge akkumulieren, wohingegen die Kapitale, denen die
Subventionen weggesteuert worden sind, die entsprechenden Beträge stillgelegt
oder konsumiert hätten - ein jedenfalls sehr unrealistischer Fall.
- Werden die Staatausgaben für öffentliche Aufträge verwandt, so ist danach zu
unterscheiden, was mit den vom Staat gekauften Waren weiter passiert, aus
welchem Teil der nationalen Revenue, den Lohn- oder den Profiteinkommen sie
hauptsächlich finanziert werden und welcher der beiden Klassen sie hauptsächlich
zugutekommen. Denn gerade davon hängt ihre Wirkung ab. In diesem Zusammenhang
ist zu untersuchen, inwieweit die Staatsausgaben als Geld den Produzenten von
Waren zufließen, ohne daß die vom Staat gekauften Waren selbst wieder in Form
von Warenkapital
-35-
oder Produktivkapital im Zirkulationsprozeß der vielen Einzelkapitale bleiben.
Solche Waren fallen dann aus der Kapitalzirkulation völlig heraus; sie sind
"Endprodukte", die der Konsumtion, wenn auch nicht der individuellen
Konsumtion zur Reproduktion der Arbeiterklasse anheimfallen.
In diese letztere Kategorie fallen vor allem die Rüstungsgüter und
Militärausgaben, die die beliebteste Form der Staatsausgaben darstellen, um eine
stagnative Phase zu überwinden: Rüstungsaufträge und entsprechende Aufträge für
andere Arten von
"Vergeudungsproduktion" ermöglichen die Realisierung
des produzierten Kapitalwerts gerade in den Zweigen, die am meisten unter der
Stagnation oder Depression leiden, nämlich in den Produktionsmittel
produzierenden Industrien (natürlich hängt diese Aussage auch von der
Rüstungstechnologie ab). Rüstungsgüter erhöhen weder den Reallohn der
Arbeiterklasse, bedeuten also keine Umverteilung des Neuwerts zugunsten der
Arbeiterklasse, noch können sie als Produktivkapital in Konkurrenz zu anderen
Privatkapitalen treten. Vom
Gesamtkapital her betrachtet werden
Rüstungsausgaben aus der staatlichen Revenue finanziert, die der Staat entweder
aus Steuern -
zumindest zu einem Teil aus dem Mehrwert abgeschöpft - oder
aus Anleihen bezieht; aber auch Staatsanleihen werden auf dem Kapitalmarkt gegen
einen bestimmten Zinssatz von den Kapitalisten geborgt. Wenn nun aber die Rüstungsausgaben vom Kapital
"selbstfinanziert" werden und ihm wieder in Form von Aufträgen
zugutekommen, dann kann die Schlußfolgerung nur lauten, daß hier eine staatlich
vermittelte Umverteilung innerhalb des Mehrwerts der Kapitalistenklasse vom
akkumulationsfähigen und der individuellen Konsumtion der Kapitalisten dienenden
Teil auf einen staatlich vermittelten destruktiv verwendeten Teil stattfindet.
Für die Gliederung der Wirtschaft in Produktionszweige bedeutet diese
Umverteilung die Bevorzugung der Akkumulation der Rüstungswirtschaft und die
relative Verlangsamung der Akkumulation in den übrigen Zweigen. Wird aber so der
akkumulationsfähige Teil des Mehrwerts beschnitten, wird er permanent dazu
verwendet, Waren aus dem Markt zu ziehen, Geld in die Kapitalzirkulation zu
pumpen und Löhne für Arbeiter und vor allem Nicht-Arbeiter (Soldaten) zu zahlen,
so ist klar, daß
erstens eine permanente Aufblähung des Preisniveaus
erfolgen muß und daß
zweitens unter der Annahme, jede Akkumulationswelle
erhöhe die organische Zusammensetzung des Kapitals, bei einer Verlangsamung des
Akkumulationsniveaus auch der Tendenz zur Erhöhung der organischen
Zusammensetzung des Kapitals und folglich auch der Tendenz zum Fall der
Profitrate entgegengewirkt wird. Auch ist
-36-
hiermit eine nachhaltige Steigerung der Staatsschuld verknüpft, worauf schon
unter dem Aspekt der inflationären Faktoren hingewiesen wurde.
Der Staat kommt also in der Stagnation ins Spiel, aber kann er sie darum auch
nachhaltig bekämpfen und zu einer Situation des
"Gleichgewichts bei
Vollbeschäftigung" hinfinden? Wir müßten allerdings unsere im ersten
Abschnitt entwickelte These revidieren, der Staat fungiere auf Grundlage des
Kapitalverhältnisses und sei in seinen Widersprüchen involviert, ohne sie auf
der Grundlage der bestehenden Gesellschaft lösen zu können, gäbe es Gründe
anzunehmen, der kapitalistische Staat könnte in seinen Interventionen zur
Überwindung der Stagnation erfolgreich sein. Er kann es nicht oder nur
zeitweise, wie einige Überlegungen klarzumachen in der Lage sind:
Einmal ist die Ausdehnung des Rüstungssektors und ähnlicher Bereiche
(Raumfahrt usw.) selbst der wichtigste Faktor für das Anwachsen der
Staatsschuld, der ja innerhalb des gesellschaftlichen Zirkulationsprozesses eine
wachsende Geldmenge entspricht, die in Richtung einer
Aufblähung des
Geldausdrucke der Werte tendiert. Denn infolge der staatlich erzeugten
Geldnachfrage ist es einzelnen Kapitalisten möglich, ihre Preise zu erhöhen.
Warum sollten sie es nicht bei verbesserten Realisierungschancen ihrer Waren auf
dem Markt? In diesen Prozeß werden andere Kapitalisten, die nicht direkt
Lieferanten für den Staat sind, einbezogen, so daß schleichende oder gar
galoppierende Inflation die Folge ist. Es wäre allerdings zu einfach, die
Ausdehnung des Rüstungsbereichs nur aus den ökonomisch interpretierten
Stagnationsproblemen herzuleiten; der militärische Bereich wird vor allem
deshalb ausgeweitet, um die Herrschaftssphäre eines nationalen oder mehrerer
nationaler Kapitale (oder auch die sogenannte
"freiheitlich demokratische
Grundordnung") zu erhalten oder auszudehnen. Wie Rosa Luxemburg sagt: Der
Militarismus bedingt den Imperialismus und der Imperialismus bedingt den
Militarismus. So waren es immer die großen Kriege, die nicht nur eine
galoppierende Inflation, sondern die totale Destruktion des Geldwesens zur Folge
hatten. Und es ist auch heute wieder der Krieg, nämlich die Aggression des US
Imperialismus vor allem gegen die Völker Indochinas, der die weltweite Inflation
hervorgerufen hat einen Grund, den der Sachverständigenrat in dem angeführten
Zitat als
"übersteigerte Ansprüche an das Sozialprodukt" und
"Hintansetzung der Geldwertstabilität" euphemisiert.
Zum anderen aber sind auf diese Weise die stagnativen Tendenzen in einer
hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft gar nicht zu überwinden. Denn
auch die Kapitale, die nicht für den Markt, auf dem die Kapitale untereinander
austauschen, sondern für den Staat produzieren, sind vermittels der Konkurrenz
gezwungen,
als Kapitale zu fungieren. Sie müssen also
akkumulieren
und das heißt, daß sie nicht nur ihre Mehrwertproduktion, sondern auch ihren
Warenausstoß ausdehnen müssen. Damit aber wird vom Staat verlangt, immer mehr
von diesen Kapitalen zu kaufen, das heißt
die Staatsschuld zu vergrößern
zugunsten einer tendenziellen Überwucherung der ganzen Ökonomie durch die
Rüstungsindustrie. Der Staat steht nun vor der Alternative, entweder diese
Überwucherung zuzulassen, also die Akkumulation in der Rüstungs-
-37-
industrie zu begünstigen und damit letztlich andere Einzelkapitale, die nicht
zur Rüstungsindustrie gehören, zurückzudrängen , oder aber die Überwucherung zu stoppen und damit die
Rüstungsindustrie an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung zur Stagnation zu
verdammen.
In dieser Konsequenz manifestiert sich die besondere Funktion des Staates in der
kapitalistischen Gesellschaft, sofern aufgrund der historischen Tendenz der
fallenden Profitrate eine wachsende Zahl von Produktionsprozessen nur noch
infolge staatlich vermittelter Umverteilungsmaßnahmen der produzierten Werte
erhalten werden kann. Bei der Sicherung allgemeiner materieller
Produktionsbedingungen (
"Infrastruktur") gibt es für die staatliche
Aktivität einen aus dem Charakter des Arbeitsprozesses sich ergebenden
Sättigungsgrad, der zwar nie erreicht zu werden braucht unter Bedingungen
der
"öffentlichen Armut", der aber in der Natur der Sache selbst
steckt, genau wie von der Gebrauchswertseite her betrachtet für jede Ware ein
Sättigungsgrad der individuellen oder gesellschaftlichen Bedürfnisse gegeben
ist. Über diesen Sättigungsgrad hinaus wird die Produktion der Ware, auch die
Produktion und der Betrieb der Produktionsbedingungen, überflüssig. Um mit
Keynes zu sprechen:
"Two pyramids, two masses for the dead, are twice as
good as one; but not so two railways from London to York." Es kann sein, daß es gar keine Eisenbahnverbindung
zwischen
"London" und
"York" gibt als Ausdruck des
allgemeinen Mangels an infrastrukturellen Einrichtungen, aber nur eine
Eisenbahnverbindung wäre gut, zwei Verbindungen wären zuviel. Ganz anders
verhält es sich bei den staatlichen Funktionen, bei denen es nicht darauf
ankommt, Bedingungen des Arbeitsprozesses für alle Kapitale zu errichten,
sondern bei denen es darauf ankommt, die Verwertung von Einzelkapitalen selbst
durch Umverteilung von Werten sicherzustellen. Hier vollzieht ja der Staat
gerade nicht nichtkapitalistische Produktionsprozesse wie in der Infrastruktur,
sondern er stützt durch seine Ausgaben akkumulierende Kapitale. Hier gibt
es
keine Sättigungsgrenze, denn der Verwertungstrieb des Kapitals ist
maßlos; hier stützt der Staat einen Produktionsbereich, dessen
Erhaltung nur möglich ist in seiner
permanenten Ausdehnung. Sofern
die Staatsausgaben zum Moment im Zirkulationsprozeß von Einzelkapitalen werden,
auf das sie angewiesen sind, müssen sie entsprechend dem Akkumu-
-39-
lationsprozeß dieser Einzelkapitale expandieren. Zwei Pyramiden, zwei
Totenmessen, sind daher tatsächlich besser als eine, und drei sind besser als
zwei usw. - besser für die in diesen Zweigen akkumulierenden Kapitale.
Erst die Analyse des Charakters der
"keynesischen" Funktion des
Staates ermöglicht es, aus der Art des Krisenmanagements
theoretisch die
Notwendigkeit der Stagflation herzuleiten und damit die historische Tendenz zur
Stagflation zu begründen. Denn nun ergibt sich folgende Konsequenz: Wenn die
Rüstungsausgaben (und ökonomisch ihnen entsprechende Staatsausgaben) permanent
gesteigert werden, dann ist nicht nur eine hohe Inflationsrate, sondern auch
eine strukturelle Veränderung von Ökonomie und Gesellschaft die Folge mit
negativen Begleiterscheinungen für die Reproduktionsbedingungen des
Kapitalverhältnisses. Dies ergibt sich vor allem daraus, daß die Rüstungs- und
Militärausgaben
progressiv steigen müssen, sollen sie wirklich den
Akkumulationsnotwendigkeiten der Kapitale gehorchen. Daß eine solche Progression
ihre gewaltsame Lösung nur im Krieg finden kann, hat die Geschichte
kapitalistischer Staaten schon mehrfach bewiesen. Aber auch eine Stagnation oder
gar Senkung der, Rüstungsausgaben erhöhen
mit jeder verausgabten Geldeinheit
die Staatsschuld absolut. Die inflationistischen Tendenzen wirken also auch
dann weiter, wenn die Rüstungs- und Militärausgaben stagnieren oder gar sinken.
Aber stagnierende, wenn auch auf einem noch so hohen Niveau stagnierende
Militär- und Rüstungsausgaben, bedeuten für die in diesen Sektoren
produzierenden Kapitale
Stagnation der Realisierungsbedingungen und daher
auch Stagnation der Produktion mit der Konsequenz brachliegenden Kapitals,
zurückgehender Bestellungen bei Kapitalen, die für die Kapitalerweiterung
produzieren (Produzenten von Produktionsmitteln), mangelnder
Kapazitätsauslastung und ansteigender Arbeitslosigkeit.
Der Staatsinterventionismus im Keynes'schen Sinne muß also deshalb scheitern,
weil entgegen der Keynes'schen Annahme die
Art der Staatsausgaben für die
Entwicklung des Kapitals nicht gleichgültig ist. Besteht die Staatsfunktion
darin, akkumulierenden Kapitalen die Verwertung und damit auch die Akkumulation
zu ermöglichen, dann dürfen die Staatsausgaben weder der Arbeiterklasse
zugutekommen noch in der Errichtung von Konkurrenten der Kapitale resultieren.
Die Staatsausgaben müssen sich auf einen Bereich konzentrieren, wo sie sich
weder in Produktivkapital noch in Konsumtionsmitteln für die Arbeiterklasse
manifestieren. Der Vorrang der Rüstungsausgaben hat also einen tieferen
ökonomischen Sinn im Kapitalismus. Jedoch ist darin der Widerspruch
eingeschlossen, daß der staatlich vermittelte Rüstungs- und Militärbereich alle
anderen gesellschaftlichen Bereiche und alle anderen Einzelkapitale zu
überwuchern tendiert. Geraten die Rüstungs- und Militärausgaben an diese Grenze,
so kann nur noch Krieg bis zur Destruktion des die Profitrate belastenden
Kapitals die Konsequenz sein oder Kürzung bzw. Stagnation der Rüstungs und
Militärausgaben. Die letztere Alternative ist nun die Ursache für die
Stagnation: Die Staatsschuld wächst weiter, solange überhaupt Rüstungs- und
Militärausgaben vorgenommen wer-
-40-
den, und damit besteht auch der inflationäre Druck weiter. Mit der Stagnation
oder stagnierenden Steigerungsrate der Staatsausgaben jedoch ist der Bereich
privater Kapitale, der davon sozusagen lebt, zur Stagnation verdammt:
Stagflation.
Wir sehen also, wie in den keynesianischen Versuchen der Stagnationsüberwindung
schon die erneute Stagnation und Krise angelegt ist. Die ursprünglichen Impulse
der Staatsausgaben können auf die Realisierungsbedingungen des Kapitals positiv
wirken und die Produktion ankurbeln helfen. Dies ist insbesondere dann der Fall,
wenn den Rüstungsausgaben der Krieg folgt und sein Werk nicht nur der
Menschenvernichtung, sondern der Kapitalvernichtung (
"Entwertung") in
physischer und wertmäßiger Destruktion vollführt und somit dem Kapital einen
Neuanfang der Akkumulation bei hoher Profitrate ermöglicht
(
"Rekonstruktionsperiode").
Solange diese Periode andauert, ist der in der Form staatlicher
Krisenvermeidungsstrategie angelegte Widerspruch überdeckt, die
"widerstreitenden Agentien" sind nicht bis zur vollen Entfaltung
gelangt. In einer allgemeinen Aufschwungphase des Weltmarktes wie nach dem
zweiten Weltkrieg kann daher die Stagflation nicht oder nur in sehr gehemmter
Weise erscheinen. Gerade die Tatsache, daß zwar die Rüstungsausgaben in allen
kapitalistischen Staaten - allerdings mit Zeitverzögerung, Westdeutschland
entwickelt erst seit Ende der 50er Jahre eine Rüstungsindustrie und Japan noch
sehr viel später - permanent angestiegen sind, gleichzeitig aber die
Verwertungsbedingungen des Kapitals so gut waren, daß die Staatstätigkeit, wie
schon erwähnt, per saldo relativ rückläufig war, zeigt, daß
in den
vergangenen 20 Jahren die Akkumulation des Kapitals wesentlich aus den dem
Kapital selbst immanenten Kräften erfolgt ist. Sobald aber die Phase der
flotten Akkumulation sich dem Ende zuneigt, die Profitrate aufgrund steigender
organischer Zusammensetzung des Kapitals wirklich fällt (
"Tendenz zum
abnehmenden Ertragszuwachs") wird der
hier angeführte Widerspruch zum Tragen kommen. Vermittelt über den
Weltmarktzusammenhang der nationalen Gesamtkapitale wird er zur Erscheinungsform
in der gesamten kapitalistischen Welt ,
während bisher seine Ausdrucksform als Stagflation national begrenzt war (USA
1958).
-41-
Das, was heute mit dem neuen Begriff der Stagflation bezeichnet wird, ist also
nichts Neues, sondern nur die Benennung des der keynesianischen Strategie der
Krisenvermeidung grundsätzlich zugrundeliegenden Widerspruchs, der sich am Ende
eines lange andauernden Weltmarktaufschwungs sichtbar erscheinend historisch
zuspitzt.
5. Die Bedeutung der Wissenschaft vom Staatsinterventionismus
Trotz all der hier aufgezeigten Widersprüchen, in denen der bürgerliche Staat
befangen ist, macht sich die bürgerliche Wissenschaft anheischig, ihm Modelle
und Materialien liefern zu können, mit denen die Interventionen in die Ökonomie
effektiver ausgestaltet werden könnten. Im Gegensatz noch zur klassischen
politischen Ökonomie, deren Erkenntnisziel tatsächlich die Anatomie der
bürgerlichen Gesellschaft war, ist die heutige Sozialwissenschaft weitgehend
darauf ausgerichtet: was ist mit den Ergebnissen in Händen der Politiker
anzufangen? Indem diese Wissenschaft sich selbst auf ein Politikverständnis
bezieht, in dem nur noch der Begriff der
Manipulation gesellschaftlicher
Prozesse seitens des Staates adäquat das Verhältnis von Staat und Ökonomie
auszudrücken vermag, beschränkt sie sich selbst in Analyse und
Forschungsprogramm auf die Bereiche, die wirklich zur Disposition stehen, das
heißt auf die Oberflächenerscheinungen des Kapitalverhältnisses. Der Begriff des
gesellschaftlichen Widerspruchs muß hierbei weitgehend oder völlig verloren
gehen und damit auch die Wahrnehmungsfähigkeit gesellschaftlicher Widersprüche;
allenfalls werden noch Konflikte gesehen, die es gerade zu manipulieren gilt,
und darüber hinaus entfallen in zunehmendem Maße alle Ansprüche, Bedingungen,
Voraussetzungen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen zu
analysieren. So wie der wissenschaftliche Fortschritt in einem schrittweisen
Ansammeln zusätzlicher Fakten erblickt wird, so auch der Fortschritt der
staatlichen Manipulationsfähigkeit in einem schrittweisen Anwachsen der von der
Wissenschaft erkannten manipulierbaren Daten und Prozesse. Aufgrund eines
solchen Verständnisses können es immer wieder wissenschaftliche Scharlatane zu
Ruhm, Ehren und Einfluß bringen, sofern sie nur neue
"manipulierbare Daten
und Prozesse" entdecken. Nicht zuletzt
aus solchen Erfahrungen begründet sich die eher pessimistische Haltung vieler
Wissenschaftler, die sich an Beratung orientieren, daß trotz aller
Beratungsvorschläge und -gremien die Politiker doch aus ihrer politischen
Verantwortung, ihrer Intuition, ihrem praktischen Verständnis unabhängig und
unter Umständen auch gegen die Berater handeln müßten; theoretisch gewendet
führt eine solche Einschätzung geradewegs in die Bestätigung der Behauptung, daß
Politik und Wissenschaft eben zwei verschiedene Bereiche seien,
unterschiedlichen Regeln unterworfen und von Menschen konträren Naturells
bewohnt. Flucht in diese Art der Dichotomie ist allerdings nur die Kehrseite der
Zusammengehörigkeit, wie sich herausstellen wird.
-42-
Wenden wir uns zunächst einem Beispiel zu, um zu sehen, wie Wissenschaft in
Orientierung auf Politikberatung vorgeht, bevor wir unsere Schlußfolgerungen
daraus ziehen. Grundsätzlich kann gesagt werden, daß an die Stelle des
Erkenntnisinteresses der theoretischen Einsicht in gesellschaftliche Vorgänge
die Suche nach zusätzlichen
Informationen getreten ist, von denen
erwartet wird, neue und komplizierte Ablaufanalysen speisen zu können. Diese
Fragestellung durchzieht gerade die Gutachten, mit denen die Politik die Aura
der
Wissenschaftlichkeit und natürlich auch der
Klassenneutralität
produziert, und so werden wir uns in unserer Analyse den Jahresgutachten des
Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
(JG) zuwenden, um unserer Frage nachzugehen.
Die Jahresgutachten sind ganz von ihrem Auftrag her konzipiert, wie er im
"Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrates" formuliert ist.
Dieses Gesetz beauftragt den Sachverständigenrat
"die jeweilige
gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darzustellen"
und zu untersuchen,
"wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung
gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und
außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetig steigendem und angemessenem
Wachstum gewährleistet werden können." Das Gesetz knüpft also selbst an
den Erscheinungsweisen der ökonomischen Entwicklung an, unter denen einige
herausragende Indikatoren, nämlich Preisniveau, Beschäftigungsstand,
außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum als
politische Kriterien für gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht innerhalb
einer marktwirtschaftlichen Ordnung definiert werden. Nun stehen aber
bekanntlich diese vier politischen Kriterien für eine gesamtwirtschaftliche
Gleichgewichtslage widersprüchlich zueinander (magisches Viereck). Alle Ziele
gleichzeitig zu gewährleisten, ist mittlerweile von der bürgerlichen Ökonomie
und der Wirtschaftspolitik als unmöglich aufgegeben worden, worin indirekt zum
Ausdruck kommt, daß die bürgerliche Ökonomie in dem Moment,
wo sie praktisch
werden muß, von den kapitalistischen Widersprüchen nicht zu abstrahieren
vermag. Daraus zieht der Sachverständigenrat die Konsequenz,
"daß der
Sachverständigenrat immer jenen Zielen die größte Aufmerksamkeit zuwenden muß,
die in der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage und deren absehbarer
Entwicklung am wenigsten verwirklicht sind." (JG 67/68, Vorwort Ziff. 3).
Natürlich hängt das Ausmaß, in dem die Ziele widersprüchlich zueinander stehen,
gerade von der konjunkturellen Entwicklung selbst ab. Zu dieser Einschätzung
kommt auch der Sachverständigenrat durch empirische Beobachtung, die er in
seinem Jahresgutachten 1969/70 angestellt hat. Er untersucht (Ziff. 231),
"inwieweit die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen 6
Jahren von diesen vier großen Zielen abgewichen ist", und kommt zu der
Einschätzung:
"Den Zielen noch am nächsten kam man im Aufschwungsjahr 1964,
als nur das Ziel der Geldwertstabilität verletzt war, am zweitnächsten im
Aufschwungsjahr 1968, in dem die Verhältnisse ähnlich lagen, aber außerdem noch
das außenwirtschaftliche Gleichgewicht stark gestört war. Diese Beobachtung
scheint die Auffassung zu erhärten, die großen wirtschaftspolitischen Ziele
seien gleichzeitig allenfalls vorübergehend zu verwirklichen -
-43-
in Perioden der wirtschaftlichen Erholung, die auf Phasen unzureichender
Kapazitätsauslastung folgen." (JG 69/70 Ziff. 231) Hier erscheint also auf
der empirischen Ebene die Tatsache, daß ein
gesamtwirtschaftliches
Gleichgewicht innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaft
allenfalls in
der Phase der Depression, nachdem die Wirtschaftkrise ihre ´reinigende'
Kraft ausgeübt hat, vorhanden sein kann. Dabei ist insofern an dieser generellen
Feststellung eine Modifikation anzubringen, als nach der Krise von 1966/67 keine
langandauernde Depression herrschte, gerade infolge des
"außenwirtschaftlichen Ungleichgewichts", d. h. den außergewöhnlichen
hohen Überschüssen der westdeutschen Handelsbilanz. Aber die Tendenzen zum zeitweisen Gleichgewicht infolge der Krise
haben sich auch nach 1966/67 gezeigt, da sowohl Kapitalentwertung (Bankrotte,
Konzentration durch Vernichtung kleiner und mittlerer Kapitale, Abschreibungen
von Lagern und von veralteten Anlagen usw.) als auch Arbeitsintensivierung
stattfanden, d. h. sowohl das eingesetzte Kapital relativ zur Profitmasse
verringert als auch die Mehrwertrate gesteigert wurde. Die vom
Sachverständigenrat konstatierte Widersprüchlichkeit der Zielverwirklichung ist
nur die äußerste Oberfläche der Bewegung der kapitalistischen Akkumulation und
auf der Ebene der Abschätzung der vier politischen Kriterien sind deren
Zusammenhänge ganz sicher nicht zu analysieren. Der Sachverständigenrat kann
sich bei seinem Verhaftetsein in den Erscheinungsweisen des
Akkumulationsprozesses auf das Gesetz berufen, das ja gerade dies vorschreibt.
Der Sachverständigenrat akzeptiert diese Vorschrift und verzichtet so auf die
Analyse der grundlegenden Widersprüche, die als Ursache für die Entwicklung
aller vier Ziele ausgemacht werden müßten. So bleibt dem Sachverständigenrat der
innere Zusammenhang dessen, was er analysieren soll, nämlich der Krisenzyklus,
letztendlich verborgen.
Hier ist natürlich die Frage anzuschließen, ob es nur die mangelnden
theoretischen Einsichten des Gesetzgebers gewesen sind, die dieses Verhaftetsein
in den Oberflächenerscheinungen vorgeschrieben haben, oder ob dem andere
Ursachen zugrundeliegen. Eine Voraussetzung für die Möglichkeit politischer
Manipulation mit realen ökonomischen Kategorien (Wirtschaftspolitik) ist ein
gewisser Eklektizismus der Theorie. Dadurch
wird erst die Voraussetzung hergestellt, daß die Faktoren, an denen die
Manipulaton an-
-44-
zusetzen hat,
als isolierte betrachtet und behandelt werden können. Wenn
folglich der Gesetzesauftrag von den Notwendigkeiten bürgerlicher
Wirtschaftspolitik her formuliert ist, dann kann von diesem Auftrag gar nichts
anderes erwartet werden, als die erwähnte Isolierung von Faktoren, als die
Abwägung von gegenseitig isolierbaren politischen Kriterien auf der Oberfläche
der bürgerlichen Gesellschaft. Wir erkennen, wie sich die Entwicklung der
bürgerlichen Ökonomie zum Eklektizismus auf der einen Seite und die
Anforderungen der Wirtschaftspolitik an die Wirtschaftstheorie auf der anderen
Seite ergänzen und einen unmittelbaren
"Sachzwang" ausüben, der
dieses Verhaftetsein in den Oberflächenerscheinungen bestärkt.
Ein zweiter Gesichtspunkt zum Auftrag des Sachverständigenrates muß noch
reflektiert werden. Es handelt sich dabei um die bürgerlich positivistische
Trennung von Beratung und Politik, die im Verbot von Empfehlungen ausgedrückt
wird:
"Mit der im Gesetz niedergelegten Beschränkung des Auftrages. . .,
die darin besteht, daß der Sachverständigenrat keine Empfehlungen für bestimmte
Wirtschafts und Sozialpolitische Maßnahmen aussprechen soll, hat der
Gesetzgeber unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß die politische
Verantwortung in diesem Bereich ausschließlich bei den verfassungsmäßig
zuständigen Organen, bleibt; er will nicht einmal Empfehlungen, die diese
Verantwortung nach außen hin abschwächen könnten." (JG 67/68 Vorwort Ziff.
5). Die Grundlage einer solchen Selbstbeschränkung kann nur darin bestehen, daß
es als unmöglich erkannt wird,
richtige Urteile in der bürgerlichen
Gesellschaft abzugeben, Der bürgerliche Theoretiker ist nicht immer in der Lage
zu erkennen, was wahr und richtig ist. Da aber in immer stärkerem Umfang der
Staat in die Wirtschaft regulierend einzugreifen hat, man also das Problem der
Wahrheit nicht mehr dem
"laisser faire, laisser aller", dem Vertrauen
darauf, daß das bürgerliche Individium gemäß seinen Interessen rational und
autonom zu handeln vermag, überlassen kann, bleibt nur der
Dezisionismus,
der sich dadurch absichert, daß Politik mit guten Informationen versorgt selbst
rational sein oder doch werden könne. So muß der Politiker die Entscheidungen
treffen und dabei sich auch über Gutachten des Wissenschaftlichen Sachverstandes
hinwegsetzen können:
"Die Wissenschaft dürfte auch in diesem Bereiche nicht
dahin kommen können, daß der politischen Praxis das Wagnis abgenommen
wird." Die Trennung von
wissenschaftlicher Beratung und Politik hat demzufolge ihren Grund in der
Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, in den unterschiedlichen,
konträren und antagonistischen Interessen der verschiedenen Klassen. Diese
Widersprüche stellen sich
auf der Oberfläche der Erscheinungen
als
politische Zielkonflikte dar. Zu deren Lösung kann der wissenschaftliche
Sachverstand innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nur Beiträge, Vorschläge
liefern. Politik bleibt dem Voluntarismus und Dezisionismus letztendlich doch
überlassen.
-45-
Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Daß überhaupt ein Sachverständigenrat
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gebildet worden ist,
verdankt sich der Annahme, als ob durch verbesserte Informationen über Ziele,
Zielkonflikte, Zielmittelkonflikte, über Funktionen und Abläufe innerhalb des
gegebenen Systems die Rationalität der Wirtschaftspolitik vergrößert werden
könnte. Bei Dürr liest sich dies folgendermaßen:
"Im Bereich der
Konjunkturpolitik ist das Hauptziel die Verminderung der Konjunkturschwankungen.
Wenn eine Theorie die unabhängigen Variablen (Ursachen) der
Konjunkturschwankungen angibt, kann die Konjunkturpolitik durch die direkte oder
indirekte Veränderung dieser unabhängigen Variablen das Ziel ´Stabilisierung der
wirtschaftlichen Entwicklung' erreichen. Wenn die Ursachen der
Konjunkturschwankungen nicht durch die Konjunkturtheorie aufgedeckt werden oder
die konjunkturpolitischen Schlußfolgerungen aus der Konjunkturtheorie nicht
durchführbar sind, kann versucht werden, die als unerwünscht betrachteten
Symptome der Konjunkturen auszuschalten. Solche Symptome sind insbesondere die
Preissteigerungen, die meistens mit der Hochkonjunktur verbunden sind, sowie die
Arbeitslosigkeit in der Depression. Wiederum werden zur Beseitigung dieser
Begleiterscheinungen der Konjunkturen Theorien gebraucht, die das Preisniveau
bzw. die Beschäftigung als abhängige Variablen enthalten und die unabhängigen
Variablen angeben, die Ansatzpunkte der das Symptom bekämpfenden
Konjunkturpolitik sein können. Wenn die Preisschwankungen die Ursachen der
Konjunkturen wären, würde die Preisstabilisierungspolitik eine
ursachenbekämpfende Konjunkturpolitik sein. Diese Ansicht wurde in den zwanziger
Jahren vertreten. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, daß die Stabilität
des Preisniveaus in der Hochkonjunktur die Krise nicht zuverlässig verhindern
kann. In den Vereinigten Staaten war in den zwanziger Jahren sogar eine leichte
Preissenkung zu beobachten, und dennoch brach 1929 dort die bisher schwerste
Wirtschaftskrise aus." Nur dann, wenn
die einzelnen Momente der Bewegung des Kapitals, die widersprüchlich
zusammenhängen und vermittelt sind, als bloße Faktoren, als Ursachen, als
unabhängige Variablen begriffen werden, kann davon ausgegangen werden, daß
Informationen über die Bewegungen der Faktoren und zusätzliche Annahmen über
deren Interdependenz die Manipulationsfähigkeit dieser Faktoren vergrößern
könnte. Die Manipulierbarkeit verlangt also bereits die Eliminierung der
Widersprüche, die Konstruktion eines
"Systems", das zum besseren
Funktionieren gebracht werden kann. Rationalität im Sinne der Gewährleistung der
"vier Ziele" verlangt folglich, jeweils
dem Ziel die größte
Aufmerksamkeit zuzuwenden, das in der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage und
deren absehbarer Entwicklung am wenigsten verwirklicht ist. Dies kann nur
heißen: Isolierung der Auswirkungen auf andere Ziele. Da mit den jeweiligen
Zielen konkrete Interessen verbunden sind, muß dies auch heißen:
Unterdrückung konkreter Interessen zugunsten der
"Rationalisierung" des Ganzen. Es läßt sich in der bürgerlichen
Klassengesellschaft nicht vermeiden, daß die Ratio-
-46-
nalität des Ganzen nur eine Fiktion darstellt, die sich immer wieder an der
Rationalität der einzelnen Klassen bricht. Die Rationalität der Arbeiterklasse
und die Rationalität des Kapitals sind antagonistisch. Das Verkennen dieses
antagonistischen Charakters der Rationalität führt gerade zu entweder naiven
oder zynischen Ratschlägen zur Verbesserung der
"Rationalität" der
Wirtschaftspolitik. Auch dafür ist, wie sich noch zeigen wird, der
Sachverständigenrat ein gutes Beispiel.
In seinem 4. Jahresgutachten, also nach den Erfahrungen der Wirtschaftskrise
1966/67 (die er in seinem 3. Gutachten von 1966/67 noch nicht einmal im Anzug zu
sehen vermeinte, vgl. Ziff. 233), hält der Sachverständigenrat Rückschau, um zu
reflektieren,
"wie man bestehende Fehlentwicklungen beseitigen und künftige
vermeiden könnte." (Ziff. 219) Als Fehlentwicklungen werden Abweichungen
von den genannten Zielen in einem bestimmten
quantitativen Umfang
definiert. Grundsätzlich geht der Sachverständigenrat davon aus, daß es möglich
ist, Fehlentwicklungen zu vermeiden, und zwar
erstens durch ein
frühzeitiges Erkennen von Fehlentwicklungen und
zweitens durch eine
größere Gelassenheit und Stetigkeit der Wirtschaftspolitik:
"Soll das
Wachstum - bei stabilem Preisniveau - stetiger werden, als es in der
Vergangenheit war, wird man die Konjunkturpolitik noch mehr auf mittelfristige
Ziele einstellen müssen. Vor allem wird es darauf ankommen, daß man
Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennt und ihnen vorbeugend entgegenwirkt, statt
sie nachträglich zu korrigieren mit dem Risiko, daß dabei des Guten zuviel
geschieht und der Zyklus dadurch verstärkt wird. Mittelfristige Ziele und eine
konjunkturpolitische Gelassenheit, die von fahrlässigem „laisser faire“ ebenso
entfernt ist wie von der Unrast, zu der der Nothelfer in der Krise gezwungen
ist, müßten mit der Zeit eigentlich auch im Kreise der Investoren Vertrauen in
eine stabile und stetige Entwicklung erwecken und dadurch dazu beitragen, daß
die private Investitionsneigung künftig weniger schwankt als bisher. Insoweit
ist in der Wirtschaftspolitik ein Zeithorizont von mehreren Jahren eine
notwendige Vorbedingung für ein stetiges Wachstum, auch und vor allem in einer
marktwirtschaftlichen Ordnung, in der es viele Unternehmer gibt, die die Risiken
und Chancen des Privateigentums an den Produktionsmitteln selbst tragen und
nutzen." (JG 67 Ziff. 220).
In diesem Zitat wird die implizierte theoretische Vorstellung von der
Konjunkturentwicklung angedeutet. Es ist das Vertrauen bei den
Investoren, welches die Fehlentwicklungen, d. h. die wirtschaftliche
Krise zu verhindern vermag, also der gleiche Psychologismus, der in der
gegenwärtigen Vulgärstökonomie so weit verbreitet ist. Obwohl der Sachverständigenrat mit reichhaltigem ökonomischen
Material jongliert, obwohl er ausgefeilte statistische Methoden zur Aufbereitung
und Interpretation dieses Materials verwendet, ist und dies überrascht nicht,
seine konjunkturtheoretische Vorstellung nicht
-47-
ökonomisch begründet, sondern psychologisch. Der Umkehrschluß des
Sachverständigenrates muß dann aber lauten:
Fehlentwicklungen sind Konsequenz
von Mißtrauen bei den Investoren.
Dann ist aber die Frage zu stellen, welches denn die Ursachen für dieses
Mißtrauen bei den Investoren sind, beispielsweise für das Mißtrauen, das 1966 in
die Wirtschaftskrise geführt hat. (Wir versuchen, mit diesen Fragestellungen die
Konjunkturtheorie des Sachverständigenrates, die er ja nirgendwo expliziert hat,
zu rekonstruieren.) Als Ursachen für die Krise von 1966/67 führt der
Sachverständigenrat folgende Faktoren an:
"Eingeleitet hat den
Schrumpfungsprozeß der Rückgang der privaten und öffentlichen
Investitionsnachfrage." (JG 1967, Ziff. 3)
"Verschärft hat den
zyklischen Rückgang der Investitionsnachfrage eine zunehmende restriktive Geld
und Kreditpolitik." (JG 67, Ziff. 4)
"Steigende Löhne und Preise
veranlaßten die Bundesbank noch im Mal 1966 ihren restriktiven Kurs zu
bekräftigen." (Ziff. 4)
"Dieser Fehlentwicklung sind die
wirtschaftspolitischen Instanzen zu spät und zu zögernd entgegengetreten."
(Ziff. 6)
". . war die Finanzpolitik des Bundes und der Länder damals
noch ganz und gar darauf ausgerichtet, die Haushalte durch Ausgabenkürzungen und
Steigerung der Steuereinnahmen in Ordnung zu bringen, ohne Rücksicht darauf, was
konjunkturpolitisch geboten war." (Ziff. 7) Wir sehen also, daß als
Ursachen für die Rezession in dem ersten Jahresgutachten nach der
Wirtschaftskrise vom Sachverständigenrat beinahe ausschließlich
wirtschaftspolitische Fehler aufgeführt werden.
Fehler der Wirtschaftspolitik
sind nach Vorstellung des Sachverständigenrates verantwortlich für
"Fehlentwicklungen" der Wirtschaft. Dies wird auch deutlich, wenn
wir uns die
"konjunkturpolitischen Lehren der letzten 6 Jahre"
ansehen, die der Sachverständigenrat im Jahresgutachten 1969 zu ziehen versucht
(Ziff. 232).
"Zu den Gründen, die erklären könnten, daß die
gesamtwirtschaftlichen Ziele so selten gleichzeitig erreicht wurden, gehören
sicherlich auch Umstände im Bereich der Konjunkturpolitik. Eine Rolle dürfte
gespielt haben, daß es ... Verzögerungen und mitunter gar
Blockierungen gab; daß deshalb wichtige Maßnahmen unterblieben ... ; daß
das Verhaften der autonomen Gruppen oft nicht oder nur unzureichend mit den
Zielvorstellungen der staatlichen Instanzen koordiniert war. . ." Was soll
man von einer solchen Erklärung halten? Entweder werden Symptome zu Ursachen
gemacht (Rückgang der privaten und öffentlichen Investitionsnachfrage,
restriktive Geld und Kreditpolitik) oder es werden die
Fehler der
Wirtschaftspolitik
als Krisenursache hingestellt.
-48-
Allerdings hat diese Oberflächlichkeit der Analyse auch System. Denn wenn schon
der Investor zur causa movens der konjunkturellen Entwicklung bestimmt wird (wie
bei Schumpeter der
"dynamische Unternehmer"), dann muß natürlich
untersucht werden, welche Faktoren gerade dieses Vertrauen des Investors
bestimmen. Der
"Investor", sprich: Kapitalist, kann sich sowieso nur
an Symptomen orientieren. Da nun die Symptome nach der prinzipiellen Annahme der
bürgerlichen Wirtschaftstheorie politisch gestaltbar sind, ist die letzte
Ursache der Krise das Versagen der Wirtschaftspolitik (JG 1969, Ziff. 239). Aus
dieser Begründung für die Krise - Mißtrauen bei den Investoren - wird nun der
Umkehrschluß gezogen: Die Situation, in der die Investoren Vertrauen haben
können, ist wirtschaftspolitisch herstellbar. Auch hierzu läßt sich der
Sachverständigenrat etwas einfallen: Erstens muß den Fehlentwicklungen
vorbeugend mit richtigem
"timing" begegnet werden und nicht
erst dann, wenn sie bereits voll ins Kraut schießen (JG 69, Ziff. 263).
"Sollen die großen wirtschaftspolitischen Ziele in der Zukunft besser
verwirklicht werden als in den vergangenen sechs Jahren, so wird es vor allem
darauf ankommen, daß man konjunkturdämpfende Maßnahmen ergreift, bevor der
Aufschwung seinen Höhepunkt erreicht hat und daß man eine Politik der
Nachfrageexpansion einleitet, bevor die Wirtschaft in die Talsohle gelangt ist.
Denn wirkt man Fehlentwicklungen nicht vorbeugend entgegen, so besteht, wie
gezeigt, die Gefahr, daß das Richtige zu spät geschieht und dadurch falsch wird.
Im ersten Fall wird der nächste Rückschlag verstärkt, im zweiten Fall der
nächste Boom angeheizt."
Um nun die Wirtschaftspolitik im richtigen
"timing" einsetzen zu
können, müssen verschiedene Bedingungen verbessert oder erst hergestellt werden
(Ziff. 264). Dazu gehören eine
"Verbesserung des konjunkturpolitischen
Entscheidungsprozesses", eine
"Option für Mittelkombinationen, die
den Besonderheiten einer offenen Wirtschaft Rechnung tragen", die
"einkommenspolitische Absicherung des wirtschaftspolitischen Programms,
wenn konjunkturelle Extremlagen zu befürchten sind," (JG 69, Ziff. 264)
und schließlich das Einhalten bestimmter Verhaltensregeln der ´autonomen
Gruppen'. Aus dieser Explikation der konjunkturtheoretischen Basis der
Sachverständigengutachten läßt sich auf folgende Grundannahme in dieser Theorie
schließen: Die handelnden Subjekte innerhalb der Wirtschaft, insbesondere also
die ,Investoren', aber auch die ´Konsumenten', bestimmen mit ihren Handlungen
oder Unterlassungen den Konjunkturablauf. Insofern sind psychologische
Kategorien wie ´Vertrauen' und ´Mißtrauen', auch wenn sie in höchstem Maße
vulgärpsychologisch sind, notwendige Kategorien innerhalb der
konjunkturtheoretischen Positionen. Der Sachverständigenrat setzt so eine
Tradition innerhalb der bürgerlichen Ökonomie fort, in deren System die dramatis
personae immer
"Wirtschaftssubjekte" (genauer: verdinglichte
Menschenhülsen wie der ´homo oeconomicus') gewesen sind (wohingegen die Arbeiter
nur im Reproduktionsbereich
"Subjektcharakter" als
"Konsumenten" haben; im Produktionsbereich zählen sie als dinglicher
"Produktionsfaktor Arbeit"). Vertrauen und Mißtrauen bei Investoren
und Konsumenten quillt allerdings nicht aus ihrer Psyche hervor, sondern ist
durch die ökonomischen Bedingung-
-49-
en bedingt. Diese Rahmenbedingungen werden durch Größen bezeichnet wie:
Preisentwicklung, Auftragseingang, Umsätze, Export-Import-Saldo, Höhe des
Zinses, Aktienkurse, Lohnhöhe, Höhe der Gewinne, Höhe der verfügbaren
Konsumenteneinkommen usw. Sie sind also bestimmt durch Faktoren, deren
Entwicklung der Sachverständigenrat während des jeweils begutachteten Jahres
ausgiebig untersucht. Der Gesamtzusammenhang dieser einzelnen Größen oder
Faktoren erscheint nur noch in einer Reihe
"synthetischer indices",
wie Industrieproduktion, Brutto- oder Nettosozialprodukt und neuerdings in der
Konstruktion eines Gesamtindikators, der frühe Erkenntnisse über den
Konjunkturverlauf ermöglichen soll. Die
Beurteilung des Gesamtzusammenhangs dieser Faktoren unter dem Gesichtspunkt von
Gleichgewicht oder Ungleichgewicht der gesamtwirtschaftlichen Verhältnisse wird
vermittelt über die quantitativen Abweichungen der vier schon genannten
gesamtwirtschaftlichen Ziele von ihren politisch gesetzten Normwerten. Erst über
diese Faktoren und deren synthetischen Ausdrücken vermittelt ergibt sich das,
was gewöhnlich das Wirtschaftssystem genannt wird: ein System von aufeinander
bezogenen Faktoren in Interdependenz. Das Konglomerat von Faktoren, die
Handlungen bzw. Unterlassungen der Wirtschaftssubjekte, bestimmen die Bewegung
dieses Wirtschaftssystems.
Das Kapital als bewegende Kraft all dieser Faktoren, als
"Sachzwang"
hinter all den
"autonomen Subjekten", die allerdings nur als
Charaktermasken innerhalb des Kapitalverhältnisses richtig verstanden werden
könnten, spielt in der Analyse keine Rolle. Nachdem also das
Kapitalverhältnis als Kategorie, aus der erst gesellschaftliche Totalität
theoretisch zu reproduzieren wäre, innerhalb der Gutachten des
Sachverständigenrats also
noch nicht einmal bewußt eliminiert worden ist,
nachdem Wirtschaftsanalyse nur noch als Analyse isolierter disparater Fakten,
Daten, Faktoren angesehen wird, nachdem folglich der wirtschaftliche
Entscheidungsprozeß auf einer Basis von
"Vertrauen" und
"Mißtrauen" der
"Wirtschaftssubjekte" hergestellt wird,
nachdem das Ganze der kapitalistischen Wirtschaft in Zeitreihen, kleine
Einheiten, selbständige Subjekte (deren überragende Bedeutung in Gestalt kleiner
und mittlerer selbständiger Unternehmer vom Sachverständigenrat an jeder nur
einigermaßen passenden Stelle hervorgehoben worden ist) aufgelöst ist, kann
allerdings der sich
in den Zielkonflikten und in den zyklischen Bewegungen
selbst aufdrängende Gesamtzusammenhang nur noch von einem Hypersubjekt
hergestellt werden, von einem Subjekt, das den größeren Überblick über die
vielen Daten und Faktoren hat, das in seinen Handlungen einen weiteren
Zeithorizont hat als die anderen Wirtschaftssubjekte, das auch in der Lage ist,
jenseits der vielen Einzelinteressen das zu berücksichtigen, was vom
Sachverständigenrat ganz in der Tradition affirmativer Sprachregelung das
"Gesamtinteresse" oder
"Gemeinwohl" genannt wird.
Gerade aus
-50-
der Auflösung gesellschaftlicher Totalität in kleinste Einheiten ergibt sich
schlüssig die hypostasierte Bedeutung der Wirtschaftspolitik des Staates für die
Regulierung des Ganzen. Nur auf der Grundlage einer solchen theoretischen
Einschätzung ist es möglich, die Ursachen für
"Fehlentwicklungen"
gerade in der Wirtschaftspolitik des Staates zu suchen und nur auf dieser Basis
ist es auch möglich, ohne weitere Umschweife oder besondere theoretische Skrupel
Vorschläge, Mahnungen, Ratschläge,
"objektive Notwendigkeiten" für
die staatliche Politik als
"Krisenvermeidungsstrategien" zu
formulieren.
Schaut man sich darauf noch einmal die wirtschaftspolitischen Vorschläge des
Sachverständigenrates an, so wird man finden, daß sie, soweit sie
institutionelle Änderungen betreffen, auf eine weitere Hypostasierung des
Staatsapparates hinauslaufen: Begrenzung der Autonomie der ´autonomen Gruppen',
Zentralisierung der Wirtschaftspolitik beim Bund, also Aufhebung oder
Einschränkung föderalistischer Strukturen, Begrenzung der
"Rigiditäten des
Entscheidungsprozesses", indem die Legislative der Exekutive mehr
konjunkturpolitische Befugnisse überantwortet (Ziff. 267, JG 69) und dergleichen
mehr. Damit wird allerdings am Kapitalverhältnis und seinen Bewegungen
grundsätzlich nichts verändert - dies ist ein Punkt, der häufig völlig falsch
beurteilt wird, da vielen linken Kritikern zwar nicht das Wort, wohl aber der
Begriff des Kapitals fehlt. Die Hypostasierung des Staates ist demnach einmal
aus den besonderen Formen bürgerlicher Wirtschaftstheorie selbst abzuleiten, zum
anderen aber erst recht aus den objektiven Bedingungen, in die der Staat
regulierend eingreifen soll, wie schon gezeigt worden ist.
Natürlich läßt sich zu einem solchen Vorgehen, wie es für den
Sachverständigenrat typisch ist, nur mehr sagen, daß die beständigen Versuche,
entweder den zufälligen Charakter der Krisen zu zeigen oder aber die Ursachen
für die Krise in subjektiven Fehlern, nicht in den objektiven Verhältnissen,
nachzuweisen, also den notwendigen Zusammenhang mit der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung zu leugnen,
"ihre Ursache in dem apologetischen
Bestreben der bürgerlichen Wissenschaft (haben), die bestehende
Wirtschaftsordnung vor jeder Kritik zu bewahren." Apologie jedoch ist keine Wissenschaft und deren Prognosen können
folglich auch nur
zufällig richtig sein, und deshalb kommt den Analysen
des Sachverständigenrates die reale Entwicklung selbst dann und wann in die
Quere. So 1966, als die Wirtschaftskrise eintrat, die der Sachverständigenrat
nicht in der Lage war vorauszusehen, noch nicht einmal in einer sehr
kurzfristigen Prognose. Jedoch, wie kann es
anders sein, muß der Sachverständigenrat die Einheitlichkeit der Termino-
-51-
logie und die Einheitlichkeit der theoretischen Analyse selbst aufgeben. Denn
unvermittelt spricht er im Zusammenhang mit der Rezession von 1966/67 auch von
"Reinigungskrise" oder von
"Stabilisierungskrise":
"Die zweite These, Rezessionen hätten den Charakter von Reinigungskrisen
und förderten insoweit das Wachstum der Wirtschaft auf längere Sicht, gilt nur,
wenn zuvor versäumt worden ist, Übersteigerungen zu vermeiden. Nach den
wirtschaftspolitischen Fehlern und Versäumnissen von 1964/65 hätte eine milde
Rezession 1966/67 innerhalb gewisser Grenzen sicher eine reinigende und damit
wachstumsfördernde Funktion gehabt... Soll das Wachstum stetiger werden als
bisher, so muß man versuchen, den künftigen Aufschwung rechtzeitig und sanft zu
bremsen, damit es nachher kaum mehr (!) einer Reinigungskrise bedarf.. ."
(JG 67, Ziff. 239). In den Begriffen
"Reinigungskrise",
"Stabilisierungskrise",
"Gleichgewicht bei
Unterbeschäftigung" formuliert sich nun der Rest von Realismus innerhalb
der bürgerlichen Theorie, ohne daß begriffen würde, daß hinter diesen bewußtlos
verwendeten Begriffen nichts anderes steht als die Tatsache, daß innerhalb des
Kapitalismus
"Gleichgewicht" der Wirtschaft immer wieder gewaltsam
und zeitweise durch die Krise hergestellt werden muß.
Das Beispiel des Sachverständigenrates zeigt somit zweierlei:
Einmal hat
die Naturwüchsigkeit kapitalistischer Entwicklung und die Beschränktheit
staatlicher Interventionsmöglichkeiten eine Form wissenschaftlicher Beratung zur
Folge, die auf ganz oberflächlichen Theorien basieren muß. Es ist der Intention
dieser Wissenschaft, Beiträge zur Politikberatung zu liefern, geschuldet, daß
ihre Fragestellungen nicht mehr auf grundlegende Widersprüche dieser
Gesellschaft zielen; denn gerade diese sind nicht manipulierbar. Letztendlich
drückt sich in dem Verhaftetsein an den Oberflächenphänomenen, die nur noch
systematisiert und pedantisiert werden, auch das grundsätzliche
Einverstandensein mit der bestehenden Gesellschaft, ihr affirmativer, ja
apologetischer Charakter aus. Eine politische Ökonomie des Proletariats dagegen
muß gerade nach den grundlegenden Widersprüchen fragen, ihre Bewegung
untersuchen, nach ihren Ursachen und Erscheinungsformen fragen, denn sie will
gerade mit dem Nachweis des Bewegungsgesetzes dieser Gesellschaft die
wissenschaftlichen Voraussetzungen ihrer Veränderung liefern.
Die von der bürgerlichen Wissenschaft und auch vom Sachverständigenrat gezogene
Konsequenz der Suche nach
"rationaler",
"wissenschaftlich
fundierter" staatlicher Politik allerdings ist auch politisch bedeutsam:
Wir sehen eine Tendenz, sich über Grenzen institutioneller und konstitutioneller
Art dadurch hinwegsetzen, daß dem Staat im Interesse der Steigerung seiner
Interventionsfähigkeit immer weniger Grenzen auferlegt werden - außer das
Kapitalverhältnis zu respektieren. Die Richtung solcher Vorschläge ist eindeutig
bestimmt: hin zum autoritären Staat, der mit effektiver Gewaltmaschine unter
Gesichtspunkten der
"Rationalität des Sachzwangs" besser als der
parlamentarisch verfaßte Staat in der Lage ist, die Gesellschaft wirklich zu
-52-
einem
Objekt seiner Manipulation zu machen. Der autoritäre Staat aber ist
letztlich die Auflösung der Wissenschaft
als Politikberatung. Denn
wissenschaftliche Einsichten im Sinne von rational kalkulierten Alternativen
werden in dem Maße überflüssig, wie die
praktische Politik sich über die
Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Produktionsverhältnisses und die
gesellschaftlichen Widersprüche hinwegsetzt und zur direkten Gewalt zur
Sicherung der Herrschaft des Kapitals und der bürgerlichen Klasse übergeht.
Warum dann aber wissenschaftliche Politikberatung in der bürgerlichen
Gesellschaft, wenn ihr Beitrag zur Begründung des praktischen
Staatsinterventionismus eher gering eingeschätzt werden muß, gering nicht nur
aus theoretischer Differenz, sondern aus den generellen Grenzen des
Staatsinterventionismus im Kapitalismus? Wir kommen mit dieser Frage zum zweiten
Aspekt, den das Beispiel des Sachverständigenrates verdeutlicht.
Wissenschaftliche Beratung darf nicht nur instrumental in dem bisher erörterten
vordergründigen Sinne gesehen werden. Vielmehr fungiert Wissenschaft und
Beratung auch als Ideologie und zwar in einem spezifischen Sinne zur Disposition
der staatlichen Bürokratie im weitesten Sinne. Nicht nur daß mit der
Wissenschaft und ihrem scheinbaren Neutralitätscharakter die mystifizierten
Bewußtformen bestärkt werden, sondern darüber hinaus hat die Wissenschaft für
die Staatsbürokratie und deren Politik die Funktion nicht nur Handlungsprogramme
zu begründen, sondern vor allem auch
Verhaltensprogramme hervorzubringen.
Der moderne Sozialdemokratismus wäre gar nicht verständlich ohne die
"Wissenschaftlichkeit", mit der einmal die
"alten
Klassenkampfdogmen" abgestreift worden sind, zum anderen die
technokratische,
"ideologiefreie" Wendung im praktischen Verhalten
und den politischen Programmen vollzogen worden ist. Die Wissenschaft in ihrem
Verhältnis zum bürgerlichen Staat, und dies trifft auch auf den
Sachverständigenrat zu, ist nicht oder nur wenig brauchbar für die Begründung
praktischer Politik; nicht zuletzt deshalb klagen die
"Praktiker"
immerzu über die
"Praxisfremdheit" der Wissenschaft und der
wissenschaftlich Ausgebildeten. Aber sie ist in der bürgerlichen Gesellschaft
unabdingbar für die Bildung von
Doktrinen für die Entstehung eines
bestimmten politisch ideologischen Klimas, für die generelle Begründung von
Strategien, auch für die Verfestigung der Klassenspaltung, gehören doch die
wissenschaftlich Ausgebildeten in der Regel zur herrschenden Klasse. Um es
pointiert auszudrücken: Die Gutachten des Sachverständigenrates, um bei unserem
Beispiel zu bleiben, haben eine größere Funktion in den Auseinandersetzungen der
Parteien im Parlament, als für die wirtschaftspolitischen Planer in der
Regierung. Und ihre Funktion für die technokratische Einstimmung der
Öffentlichkeit, oder dessen, was von ihr noch vorhanden ist, leitet sich
geradewegs daraus ab.
In diesem vermittelten Sinne also hat die bürgerliche Wissenschaft auch eine
Funktion in dieser Gesellschaft und zwar eine die Herrschaft sichernde. Das
heißt aber auch, daß sie in diesem vermittelten Sinne zu bekämpfen ist, und
nicht als direktes Instrument der herrschenden Klasse, als Unterdrückungsin-
-53-
strument an sich, das sie gar nicht zu sein vermag. Die bürgerliche Gesellschaft würde eine ewige Lebensdauer haben,
wenn ihre Funktionsfähigkeit mit dem Fortschritt der bürgerlichen Wissenschaft
ansteigen würde. Auch die ausgefeiltesten und abgefeimtesten Theorien und
Modelle heben die Bedingungen und Grenzen staatlicher Aktionen auf diese
Gesellschaft nicht auf, wie sie in den vorhergehenden Abschnitten dieses
Aufsatzes beschrieben worden sind.
Anhang
An der Diskussion des Aufsatzes waren vor allem Karlheinz Maldaner, Wolfgang Müller und Christel Neusüß beteiligt. Im übrigen handelt es sich hierbei um Überlegungen, die aus Diskussionen in Seminaren am Otto Suhr Institut resultieren. Die Diskussionen waren, kontrovers. Auf diese Kontroversen soll in den nächsten Nummern der PROKLA eingegangen werden.
Schon der Begriff des Staatsinterventionismus ist problematisch. Denn er impliziert in den gängigen Vorstellungen ein äußerliches Verhältnis zwischen Gesellschaft, ihrer ökonomischen Struktur und dem Staat. Er erweckt den Eindruck, als ob es sich im Verhältnis von Staat und Ökonomie um ein Verhältnis zwischen steuerndem und reguliertem Subjekt handeln würde. In diesem Aufsatz wird aber gerade versucht, eine solche Vorstellung zu kritisieren. Da aber auch die Begriffe der "staatlichen Regulierung", der "Planung im Kapitalismus", des "Krisenmanagements" und dergleichen mehr keine wirkliche Alternative darstellen, bleiben wir im folgenden beim problematischen Begriff des Staatsinterventionismus.
In diesem Sinne wäre Paul Boccara, Zum staatsmonopolistischen Kapitalismus, SOPO 11, S. 14, zuzustimmen, wenn er schreibt, daß innerhalb des staatsmonopolistischen Kapitalismus der Staat als Bestandteil eines "einheitlichen Mechanismus, der die Macht der Monopole mit der des Staates zusammenfaßt" zu begreifen sei.
Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 128: "Ebenso wie wir durch Abstraktion jedes Ding in eine logische Kategorie verwandelt haben, braucht man nur von jeder unterscheidenden Eigenschaft der verschiedenen Bewegungen zu abstrahieren, um zur Bewegung im abstraktem Zustande, zur rein formellen Bewegung, zu der rein logischen Formel der Bewegung zu gelangen. Hat man erst in den logischen Kategorien das Wesen aller Dinge gefunden, so bildet man sich ein, in der logischen Formel der Bewegung die absolute Methode zu finden, die nicht nur alle Dinge erklärt, sondern die auch die Bewegung der Dinge umfaßt ... Was ist somit diese absolute Methode? Die Abstraktion der Bewegung? Die Bewegung im abstrakten Zustande. Was ist die Bewegung im abstrakten Zustande? Die rein logische Formel der Bewegung oder die Bewegung der reinen Vernunft ... "
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Nachwort zur 2. Auflage, MEW Bd. 23, S. 27.
Daß bereits Zwischenergebnisse veröffentlicht werden, und als solche begreifen wir die Mehrzahl der in der PROKLA veröffentlichten Aufsätze - auch den vorliegenden - ergibt sich aus der Tatsache, daß kollektiv durchgeführte theoretische Arbeitsprozesse als solche nur organisierbar sind, wenn die Kommunikation zwischen den theoretischen Arbeitern auf allen Stufen hergestellt wird.
"Jedoch haben die verschiedenen Staaten der verschiedenen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheiten, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehen, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von ´heutigem Staatswesen´ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft abgestorben ist." Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 28. Wenige Zeilen vorher schreibt Marx: "Dagegen der ´heutige Staat' wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein anderer im preußisch deutschen Reich als in der Schweiz, ein anderer in England als in den Vereinigten Staaten. Der heutige Staat ist also eine Fiktion." (ebenda).
Aus einer solchen Aussage darf nun nicht kurzschlüssig gefolgert werden, die theoretische Einsicht In den Bedingungskomplex von Staat, Gesellschaft Ökonomie vermöge, bereits die wirklichen Aktionen des Staates auf die Gesellschaft, also den Staatsinterventionismus im Sinne und Interesse der herrschenden Klasse effektivieren. Denn dabei geht gerade die analytische Einsicht verloren, daß auch die herrschende Klasse in den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft befangen ist und sie nicht "managen" kann. Da eine solche falsche Auffassung vom Staat und der Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Herrschaft der bürgerlichen Klasse weit verbreitet ist und zu schwerwiegenden politischen Fehleinschätzungen verleitet (vgl. etwa die Position des KSV bezüglich der Einschätzung bürgerlicher Sozialwissenschaft (Rote Presse Korrespondenz vom 29.1. 1972, Nr. 151), werden wir im letzten Abschnitt dieser Arbeit darauf noch zurückkommen.
Wir gehen hier nicht auf die Bedeutung dieser Kategorie ein und verweisen auf die Immer noch beste Behandlung bei Roman Roadolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ´Kapital', Frankfurt und Wien 1968, S. 24 124, insbesondere S. 61 ff.
Dies drückt Marx im 10. Kapitel des ersten Bandes des Kapital' deutlich aus: "Die Art und Weise, wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion in der äußeren Bewegung der Kapitale erscheinen, sich als Zwangsgesetze der Konkurrenz, geltend machen und daher als treibende Motive dem individuellen Kapitalisten zum Bewußtsein kommen, ist jetzt nicht zu betrachten . . ." MEW, Bd. 23, S. 335. Marx geht es darum, die immanente Notwendigkeit der relativen Mehrwertproduktion zu begründen, nicht aber darum, den Mechanismus zu ergründen, der die Einzelkapitale dazu bringt, in ihrem Handeln die immanente Notwendigkeit der relativen Mehrwertproduktion zu exekutieren. Anders und komplizierter allerdings liegt der Fall bei der Behandlung der Bildung der Durchschnittsprofitrate im zweiten Abschnitt des dritten Bandes des "Kapital" (MEW, 25). Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Man muß bei der Behandlung der Konkurrenz zwei Aspekte im Begriff der Konkurrenz unterscheiden: "das Kapital als es selbst und seine eigene Oberfläche, als prozessierende Einheit von Wesen und Erscheinung, die selber noch in der begrifflichen Darstellung zum Ausdruck kommt, und dann das Kapital in der historischen Realität. Dieser zweite Aspekt wird grundsätzlich ausgeklammert." Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt und Wien 1970, S. 85.
In den "Grundrissen" schreibt Marx: " ... 2) aber ist das Kapital im Allgemeinen im Unterschied von den besonderen reellen Kapitalien selbst eine reelle Existenz. Es ist dies von der gewöhnlichen Ökonomie anerkannt, wenn auch nicht verstanden und bildet ein sehr wichtiges Moment für die Lehre von den Ausgleichungen etc...
Während das Allgemeine daher einerseits nur gedachte differentia specifica, ist sie zugleich eine besondere reelle Form neben der Form des Besonderen und Einzelnen ..." Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 353.
Karl Marx und Friedrich Engels, Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 62. Marx und Engels bestimmen die besondere Existenz des bürgerlichen Staates aus der "Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen", d. h. aus der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates, aus der Emanzipation von vorkapitalistischen Formen der gesellschaftlichen Organisation.
Der Staat "ist aber weiter Nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach Innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben . . ., in weicher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt.. .." MEW, Bd. 3, S. 62.
Damit sind bereits Positionen kritisiert, wie sie in bestimmten Varianten der Theorien des staatsmonopolistischen Kapitalismus auftauchen, nach denen der Staat das Instrument der mächtigsten Monopole und wie sie in den meisten bürgerlichen Theorien vertreten werden, nach denen der Staat autonomes Subjekt der Regulierung sei. Es sei erwähnt daß die Theorien des staatsmonopolistischen Kapitalismus gerade in dieser Frage sehr uneinheitlich sind. Einmal wird ein einheitlicher Mechanismus, der die Macht der Monopole und des Staates zusammenfaßt oder die Verflechtung der Monopolmacht mit dem Staat behauptet, dann wieder wird der Staat einfach "als Instrument der Monopolbourgeoisie" begriffen. Vgl. etwa der Imperialismus der BRD Frankfurt 1971. Es läßt sich wohl nicht leugnen, daß Staat und Kapital zu einem einheitlichen Mechanismus zusammengefaßt sind, nur käme es jetzt darauf an, die Funktionsbedingungen dieses "Mechanismus" genau zu untersuchen. Und diese Frage haben die Theoretiker des staatsmonopolistischen Kapitalismus noch nicht gelöst. Vgl. als Beispiel für die fortgeschrittenste Theorievariante. Paul Boccara, Übersicht über die Theorie der Überakkumulation-Entwertung des Kapitals und die Perspektiven der fortschrittlichen Demokratie, in: SOPO 16, S. 1 ff. Zur Entwicklung der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Vgl. Werner Petrowsky in PROKLA 1, 1971.
Friedrich Engels, Anti Dühring, MEW Bd. 20, S. 260: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrecht zu erhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist ..." Wir können Engels in seiner Folgerung: "Je mehr Produktivkräfte (der Staat - E. A.) in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist ..." allerdings nicht zustimmen: Zwar wird der Staat durch Übernahme kapitalistischer Produktionsprozesse zu einem wirklichen Kapitalisten, jedoch nicht zum Gesamtkapitalisten. Als kapitalistischer Produzent ist der Staat den Widersprüchen der Einzelkapitale untereinander unterworfen, wie andere große Einzelkapitale auch. Wie sich zeigen wird, ist gerade seine Konstituierung als wirklicher Kapitalist für das Kapital problematisch.
Dies ist einer der Punkte, den das Projekt Klassenanalyse in seiner "Kritik der Sozialstaatsillusion", in SOPO 14/15 nicht berücksichtigt. So heißt es (S. 197): "Jede gesellschaftliche Produktion unterstellt jedoch allgemeine Rahmenbedingungen des Reproduktionsprozesses. Gleichgültig welcher Art, sind diese Bedingungen allgemeine in dem Maße, in dem sie gemeinsame Bedingungen für einen größeren oder geringeren Teil der gesellschaftlichen Produktion sind." (Unterstreichungen E. A) Die Frage ist aber, warum allgemeine Bedingungen nicht von Kapitalen erstellt werden können, worin also die Besonderheit der Herstellung allgemeiner Produktionsbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft und ihren jeweilgen historischen Entwicklungsphasen besteht.
Wie sehr die Übernahme allgemeiner Produktionsbedingungen durch den Staat von der historischen Lage eines Landes und wie wenig von einem prinzipiell verstandenen "Allgemeinheitsgrad" oder "apriori gemeinschaftlichen" Arbeiten (Projekt Klassenanalyse, S. 198) bezogen auf die gesellschaftliche Produktion abhängt, erhellt auch die Tatsache, daß in den USA das Gesundheitswesen zum allergrößten Teil privat, in Westdeutschland staatlich, in Japan sogar ein Großteil des Bildungswesens privat betrieben werden. Diese Beispiele zeigen bereits, daß Verallgemeinerungen in diesem Bereich nur zu Fehlschlüssen führen können.
Diese allgemeine Aussage findet ihre Bestätigung in den an der erscheinenden Oberfläche orientierten Ausführungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1971, Ziff. 327. Danach ist der Anteil des Staates an der Gesamtnachfrage im Verlauf des konjunkturellen Booms nach 1967 real gesunken.
"Das Interesse am Funktionieren des Warenverkehrs, an der Verwertung der Arbeitsprodukte auf dem Markt führt zum Recht und der Errichtung der politischen bzw. staatlichen Gewalt. Der Zwang ´muß ... auftreten als ein von einer abstrakten Kollektivperson ausgehender Zwang, der nicht im Interesse des Individuums, von dem er ausgeht, ausgeübt wird . . .´ sondern im Interesse aller am Rechtsverkehr Beteiligten. Die Macht eines Menschen über den anderen wird als Macht des Rechts in die Wirklichkeit umgesetzt, d. h. als Macht einer objektiven, unparteiischen Norm." Wolf Rosenbaum, Zum Rechtsbegriff bei Stucka und Pasukanis, in: Kritische Justiz, Heft 2/71, S. 156. Das Primärzitat im Text stammt von Pasukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt 1966, S. 123 f.
Vgl. dazu Grundrisse, S. 542 ff. Dort heißt es: ". . die auf das Kapital gegründete Produktion setzt sich nur in ihren adäquaten Formen, sofern und soweit sich die freie Konkurrenz entwickelt, denn sie ist die freie Entwicklung der auf das Kapital gegründeten Produktionsweise; die freie Entwicklung seiner Bedingungen und seiner als diese Bedingungen beständig reproduzierenden Prozesses. Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz, sondern das Kapital ist frei gesetzt . . ." S. 543 f.
Wolf Rosenbaum, a. a. 0., S. 159. Wenn auch die Betonung, daß vom Rechtssystem nicht nur die Sphäre des Austausches geregelt wird, sondern auch der Produktionsprozeß als Herrschaftsbereich des Kapitals bestimmt wird, grundsätzlich richtig ist, so müssen doch gegen die Gleichsetzung von Strafrecht, Gewerberecht, Arbeitsrecht Bedenken angemeldet werden. Denn es ist sicher kein Zufall, daß das Arbeitsrecht als solches historisch erst sehr spät entsteht, eigentlich erst im italienischen Faschismus, also im Zusammenhang eines "korporativ" definierten Staates. Im deutschen bürgerlichen Gesetzbuch spielt die Regulierung des Arbeitsvertrags nur eine äußerst untergeordnete Rolle. Daß es neben dem bürgerlichen und dem Handelsgesetzbuch kein Arbeitsgesetzbuch gibt, liegt gerade daran, daß im Arbeitsprozeß das Kapital "Meister der Produktionsfaktoren" ist und sich in dieser Funktion nur im "Ausnahmefall" beschränken läßt.
Vgl. dazu das 8. Kapitel des 1. Bandes des "Kapital", in dem Marx die Durchsetzung des 10 Stunden Tages beschreibt. Auf diese Seite beziehen sich exemplarisch Wolfgang Müller und Christel Neusüss, Die Sozialstaatsillusion und der Konflikt Lohnarbeit und Kapital, in PROKLA, Sonderheft 1 und SOPO 6/7.
Auch die Münze ist ein Beispiel für staatliche Aktionen. Ursprünglich in vielen Ländern eine private Einrichtung, ebenso wie die Notenbanken nicht von Anfang an staatliche Einrichtungen waren, diente der staatliche Prägestempel lediglich als Garantie, daß Gewicht und Münzaufdruck auch übereinstimmten. In den USA ist als Relikt dieser Geschichte der Secret Service auch heute noch dem Finanzministerium unterstellt, da er ursprünglich dazu aufgestellt war, Münzfälscher zu entlarven.
Hier muß eine wichtige Modifikation berücksichtigt werden. Denn auch große Einzelkapitale unterhalten regelmäßig Unterdrückungsapparate in Gestalt des Werkschutzes, dessen Funktion eindeutig auf die Niederschlagung von Klassenkämpfen auf betrieblicher Ebene bezogen ist. Die Beispiele von Übergriffen der "Werkschutze" gegen Arbeiter, die demonstrieren oder protestieren, belegen eindeutig den Charakter als Privatarmee des Kapitals. Vgl. etwa die Darstellung bei Maurice Dobb, Der Kapitalismus zwischen den Kriegen, in: ders., Organisierter Kapitalismus, Frankfurt 1966, S. 116 - 124 über die Aktionen der großen US Konzerne während und nach der Weltwirtschaftskrise gegen streikende Arbeiter, Arbeiterfunktionäre und Gewerkschaften, die das Gerede von der Idylle des "new deal", des Linkskeynesianertums, des "welfare state" als miese Schönfärberei entlarvt. Vgl. auch den Mord am Genossen Ovemey durch den Werkschutz der Renault Werke in Paris im Februar 1972 und die vielen Notstandsübungen westdeutscher Werkschutze, die vor allem während der Anti-Notstandsbewegung bis 1968 aufgedeckt worden sind, danach aber wieder im Halbdunkel geduldeter Illegalität stattfinden können. Hier zeigt sich übrigens, wie die Sphäre des Staatlichen und der privaten Kapitale nicht einfach und scharf abgrenzbar sind, sondern in vielen Bereichen ineinander übergehen.
"Militärausgaben können in toto als langfristig geltende Komplementärinvestitionen angesehen werden, d. h. langfristig ermöglichen sie erst die Expansion der heimischen (privaten) Wirtschaft ohne äußere Bedrohung. Freilich setzt diese Schau (!) ein internationales 'homo homini lupus' voraus..." Wilhelm Weber, Wachstumseffekte der Staatausgaben, in: Finanztheorie, hrsg. von Horst C. Recktenwald, Köln Berlin 1969, S. 311.
Vgl. dazu auch Neusüss/Blanke/Altvater, Kapitalistischer Weltmarkt und Weltwährungskrise, in: PROKLA 1, 1971, insbes. S. 112ff.
Dies heißt nicht, daß Arbeitsbedingungen und Lohn in staatlichen und privaten Bereichen identisch seien. Vielmehr ist es häufig so, daß die Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Sektor die am schlechtesten bezahlten sind oder unter den schlechtesten Arbeitsbedingungen arbeiten. So in England, in Frankreich, aber auch in der BRD. Vgl. dazu Detlev Albers, Werner Goldschmidt, Paul Oehlke, Klassenkämpfe in Westeuropa, rororo aktuell, Reinbek 1971. Dies entspricht auch der Marxschen These, daß unproduktive Arbeiter, und darum handelt es sich bei den Staatsangestellten, -beamten und -arbeitern in der Regel aus dem Wertprodukt der produktiven Arbeiter alimentiert werden, also zum größten Teil aus dem Mehrwert finanziert werden und in dessen Größe die Grenze ihres Lohns finden. Die Grenzen staatlicher Tätigkeit drücken sich demnach für die einzelnen Staatsbediensteten in schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen aus.
Vgl. Adolp Wagner, Das Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit, Abschnitt aus: Staat in nationalökonomischer Hinsicht, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 1911, abgedruckt in: Finanztheorie, a.a. 0., S. 241 ff. "Nationalökonomisch aufgefaßt bedeutet dieses Gesetz absolut und selbst relativ wachsende Ausdehnung der öffentlichen, besonders der staatlichen gemeinschaftlichen Organisationsform neben und statt der privatwirtschaftlichen innerhalb der Volkswirtschaft..." (S. 241)
Horst Claus Recktenwald, Ergänzung: Zur Wirksamkeit des Wagnerschen Gesetzes in: Finanztheorie, a. a. 0., S. 246
Die Frage des Interdependenzzusammenhangs spielt in der bürgerlichen Wachstumstheorie eine große Rolle. Am weitesten geht die Richtung des "balanced growth", deren bedeutendster Vertreter, P. N. Rosenstein Rodan, schreibt: "Complementarity makes to some extent all industries ´basic'" (Problem of Industrialization of Eastern and South Eastern Europe, in: A. N. Agarwala and S. P. Singh, The Economics of Underdevelopment, New York 1963, S. 252.) Diese These impliziert auf unser Problem angewendet die Annahme, daß erstens jede Produktion allgemeine Produktionsbedingungen erzeugt und zweitens infolge allgemeiner Interdependenz keine weitere Qualifizierung zwischen Staat und privaten Kapitalen notwendig sei. Anders, weniger naiv, wenn auch auf Grundlage der Interdependenzthese argumentiert Walter Wittmann, Staatliche Aktivität, wirtschaftliche Entwicklung und Preisniveau, Zürich 1965, S. 22: "Zunächst ist klar, daß allein private Investitionen, welche zusätzliche Produktionskapazitäten schaffen, zur Sicherung der langfristigen Wirtschaftsentwicklung nicht ausreichen... Um Engpässe in der wirtschaftlichen Entwicklung möglichst zu vermeiden, ist es notwendig, daß die Investitionen in das Sozialkapital (d. h. die allgemeinen materiellen Produktionsbedingungen E. A.) mit der Gesamtentwicklung Schritt halten..."
Warencharakter erhalten Forschungsergebnisse erst dann, wenn sie vom Warenbesitzer in Form des Patents monopolisiert sind und nur der die Forschungsergebnisse benutzen kann, der sie als Ware gekauft hat. Besteht die Patentierungsmöglichkeit, dann werden Forschungsergebnisse auch kapitalistisch produziert. Es sei nur erwähnt, daß dieses Problem in der Schumpeterschen Konjunkturtheorie eine wichtige Rolle spielt, da ja der dynamische Unternehmer gerade aufgrund von patentmäßig abgesicherten technologischem Vorsprung zu produzieren beginnt.
Wir gehen nicht auf die Problematik der produktiven und unproduktiven Arbeit ein. Vgl. dazu die Diskussion in SOPO 6/7 und 8 1970.
Auf das Problem der wertbildenden Potenz der Arbeit soll hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu die Beiträge zum "Reduktionsproblem" in Altvater und Huisken, Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Erlangen 1971.
In der bürgerlichen Ökonomie rangieren alle Infrastrukturbereiche gleichermaßen unter dem Begriff "Sozialkapital". Ausgaben für "Verkehrsanlagen, Energieversorgung, Wasserwirtschaft und bau, Erziehung, Justiz, Polizei und Verwaltung" sind "in unserem Sinn... Komplementärinvestitionen..." Wilhelm Weber, a. a. 0., S. 306. Ebenso Walter Wittmann, a. a. 0., Jacques Stohler, Zur rationalen Planung der Infrastruktur, in: Konjunkturpolitik, 1965 und die meisten anderen Autoren. Einem völlig sinnlosen Kapitalbegriff entspricht ein ebenso sinnloser Investitionsbegriff, unter dem alle Ausgaben begriffslos subsumiert sind, ohne deren unterschiedlichen ökonomischen Charakter noch zu reflektieren.
Jahresgutachten 1971, Ziff. 327. Auch bei W. Wittmann, a.a. 0., S. 28 heißt es: "Insgesamt liegt der Schluß nahe, daß wachsende Investitionen in das staatliche Erwerbskapital die private Investitionsbereitschaft schwächen können." Und auch Wilhelm Weber unterscheidet "zwischen Branchen, welche von Privaten wegen Unrentabilität verlassen wurden, und solchen, in denen der Staat mit Privaten konkurriert." Im letzteren Fall "dürfte die staatliche Wirtschaftstätigkeit die private Investitionsneigung... zumindest eher hemmen..." (a. a. 0., S. 315) Hier wird offenbar, daß der Staat nicht zum wirklichen Gesamtkapitalisten im Verlauf einer quasi naturwüchsigen Entwicklung werden kann. Denn in den Branchen, in denen Kapital verwertet werden kann, siedeln sich gerade private Einzelkapitale an. Würde der Staat hier tätig werden, so würde er sich gerade aufgrund der Tatsache, daß er im einzelkapitalistischen Sinne kapitalistisch agiert, in Widerspruch zu dem Gesamtinteresse der kapitalistischen Gesellschaft setzen.
Subventionen haben in der Regel den Charakter, durch den Staat und nicht mehr durch die Konkurrenz umverteilter Mehrwert zu sein zur Sicherstellung des Bezugs der Durchschnittsprofitrate durch jedes Einzelkapital. Natürlich können Subventionen auch aus der Revenue der Lohnarbeiter stammen; sie senken dann zugunsten einzelner Kapitale die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.
So Paul Boccara, Übersicht . . ., a. a. 0., S. 3
Der Imperialismus der BRD, Frankfurt 1971, S. 366. Es muß allerdings betont werden, daß diese These sich nicht einheitlich durch das Buch durchzieht, wie überhaupt eine ausgesprochene Unschärfe der Begrifflichkeit insgesamt dieses "Standardwerk" kennzeichnet.
Paul Mattick, Gemischte Ökonomie und ihre Grenzen, in: Soziale Revolution, Nr. 2/1971, S. 48 ff.
Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen - Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Politikwissenschaft, hrsg. von Gisela Kress und Dieter Senghaas, Frankfurt 1969, S. 163.
Wir werden uns an dieser Stelle nicht mit den angesprochenen Schriften auseinandersetzen.
Theorien über den Mehrwert, MEW, 26. 2, S. 500
Paul Mattick, a. a. 0., S. 53
Vgl. Einleitung zu Fred Oelßner, Die Wirtschaftskrisen, Nachdruck Frankfurt 1971
Vgl. zur Darstellung der Widersprüchlichkeit staatlicher Maßnahmen und der Befangenheit in den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus und ihre politischen Folgen, Frankfurt 1969, insbes. S. 105 ff und S. 279ff. Auch im "magischen Vieleck" als Zielfunktion der Wirtschaftspolitik drückt sich die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft und der darin befangenen Aktionen des Staates aus
Infolgedessen kann sich die bürgerliche Konjunkturforschung selbst als Symptomatologie begreifen und gerade als solche relevant für staatinterventionistische Maßnahmen werden. Daß darin zugleich ihre Begrenzung liegt, diese selbst aber im Charakter der Krisen der kapitalistischen Gesellschaft begründet ist, wird ihr nicht klar. Zur Darstellung der "Symptomatologie", vgl. Karl Georg Zinn, Konjunkturlehre für Praktiker, Herne und Berlin 1969; Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen, Band 1, Göttingen 1961, S. 20 ff., wo eine ganze Reihe von Symptomen aufgeführt sind; Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Nachdruck Frankfurt 1967, S. 206 ff. mit kritischen Anmerkungen.
Gottfried Bombach, Trend, Zyklus und Entwicklung des Preisniveaus, in, Weltwirtschaftsarchiv, 1970, S. 274. Ähnlich auch Helmut Arndt, Stagflation, Was man bisher nicht wußte, in: Wirtschaftswoche, Nr. 1 / 1972, S. 20 ff .
Dazu vor allem Willi Semmler, Jürgen Hoffmann, Kapitalakkumulation, Staatseingriffe und Lohnbewegung, in: PROKLA 2, 1972, S. 1 ff., insbes. S. 69 ff. und Christel Neusüss, Imperialismustheorie und Weltmarktbewegung des Kapitals, Manuskript 1972.
Den Begriff der "relativen Inflation" verwendet Werner Hoffmann, Die säkulare Inflation, Berlin 1962, um einen Prozeß zu kennzeichnen, im Verlauf dessen "das Preisniveau der langfristigen Erhöhung der Produktivität... nicht folgt - gleichgültig, ob die Preise steigen oder nicht." (S. 10)
Vgl. dazu Neusüß/Blanke/Altvater, a.a.O., PROKLA 1. Helmut Arndt Schreibt, a. a. 0., S. 20: "Wer heute in der westlichen Welt in gleicher Weise wie in der Zeit der Weltwirtschaftskrise auf Mittel einer nationalen Beschäftigungspolitik zurückgreift, übersieht, daß nationales ´Deficit Spending' in einer Weltwirtschaft nicht die gleichen Wirkungen haben kann wie in einer durch Devisenbewirtschaftung mehr oder minder geschlossenen oder abgeschlossenen Wirtschaft."
Wir haben hier den Kern der Theorie von der "Überakkumutation-Entwertung", wie sie vor allem von Boccara vertreten wird. Allerdings handelt es sich für ihn dabei weniger um eine konjunkturelle Erscheinung, als um eine strukturelle Lösung des Stagnationsproblems im staatmonopolistischen Kapitalismus. Dem ist insoweit zuzustimmen, als tatsächlich der bürgerliche Staat in der Lage ist, Kapital zu entwerten und damit den tendenziellen Fall der Pofitrate aufzuhalten. Aber, und dies wird zu wenig bedacht, ist erstens diese Entwertung selbst mit Konflikten verbunden, da ja Entwertung nichts anderes bedeutet als Ausschaltung von an sich produktiv anlegbarem Kapital (und welcher Einzelkapitalist wird sich damit konfliktfrei abfinden), zweitens im Gesamtzusammenhang der Problematik der unproduktiven Arbeit zu sehen ist (vgl. zu diesem Aspekt Altvater/Huisken, in SOPO 8), drittens die Entwertungsproblematik im zyklischen Verlauf der Kapitalakkumulation keineswegs ausgeschaltet wird. Die Problematik der Überakkumulation-Entwertung ist also komplizierter als von Boccara bisher dargestellt.
Vgl. dazu eine interessante bürgerliche Stimme: Felix Somary, Krisenwende? Berlin 1932, insbes. S. 32ff.
Hier setzt die Stagnationstheorie von Keynes und Hansen an. Vgl. dazu Sydney H. Coontz, Productive Labour and Effective Demand - Including A Critique of Keynesian Economics, London 1965, S. 125ff.
Vgl. dazu W. Semmler und J. Hoffmann, a. a. 0., S. 60 ff. insbes. S. 64
Sydney H. Coontz a. a. 0., S. 157.
Vgl. Paul Mattick, a. a. 0., S. 47 und Paul Mattick, Marx und Keynes, Frankfurt und Wien 1969, insbes. S. 140 ff.
Insofern ist es ein Irrtum, wenn Mattick schreibt: "Es ist ein Irrtum, mit Altvater und Huisken (M. bezieht sich auf den Aufsatz über produktive und unproduktive Arbeit in SOPO 8 - E. A.) anzunehmen, daß der Verschwendung gewidmete unproduktive Arbeit die Tendenz des Falls der Profitrate abschwächt, obwohl ihrer Ansicht nach der akkumulationsfähige Teil des Mehrwerts dadurch verringert wird..." Paul Mattick, Arbeits-Teilung und Klassenbewußtsein, in: Soziale Revolution, Nr. 2/1971, S.124
Dies hätte gewaltige Konsequenzen für die Reproduktion des Kapitals und sein soziales Milieu. Inflatorische Prozesse mit der Ausschaltung ganzer Kapitalfraktionen, Verelendung der Arbeiterklasse, Destruktion des sozialen Milieus des Kapitalismus, Abbau der die Kapitalreproduktion regulierenden Rechtsverhältnissev usw., ganz abgesehen von wahrscheinlich kriegerischen Auseinandersetzungen wären die notwendige Folge. Diese hier nur angedeutete Folge ist immer auch Tendenz im Kapitalismus, der nur in Perioden eines allgemeinen Aufschwungs des Kapitals auch von Kapitalfraktionen wirksam entgegengearbeitet werden kann. Vgl. dazu etwa die Darstellung der Interessen der westdeutschen Rüstungsindustrie bei der Wiederaufrüstung von Gerhard Brandt, Rüstung und Wirtschaft in der Bundesrepublik, Witten und Berlin 1966.
John M. Keynes, The General Theory of Enployment, Interest and Money, (repr.) London 1964, S. 131.
Vgl. dazu Franz Janossy, Das Ende der Wirtschaftswunder, Frankfurt 1969. Angus Maddison, Economic Growth in the West, New York and London 1964, S. 53, bringt eine interressante Gegenüberstellung der Verhältnisse von Gross Profits und Net Value of Fixed Capital Stocks and Inventories. Damit ist natürlich nicht die Profitrate bezeichnet. Dennoch zeigt sowohl der temporale als auch der Ländervergleich, wie sehr der Krieg positiv auf die Profitrate in Maddissons Definition gewirkt hat.
Zu diesem Ergebnis kommt das IFO-Institut für Wirtschaftsforschung in seinem ökonomischen Untersuchungsteil im Rahmen der RKW-Studie über wirtschaftliche und soziale Aspekte des technischen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1970, S. 116
Auf diese Vermittlung gehe ich hier nicht ein, da im Aufsatz von Neusüss/Blanke/Altvater in PROKLA 1 dazu bereits ausführlich Stellung genommen wurde. Vgl. ähnlich Busch/Schöller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971 (Arbeiterpolitik)
Typisches Beispiel dafür ist die Chicagoer Schule der Geldtheorie, die mit ihrem Hauptvertreter Milton Friedman bis in die Beratergremien des US Präsidenten aufstieg - um dort ihre völlige Unfähigkeit zu belegen.
Vgl. dazu und den daraus resultierenden Widersprüchen gerade auf internationaler Ebene Elmar Altvater, Die Weltwährungskrise, Frankfurt 1969, Neusüss/Blanke/Altvater, a. a. 0.; E. Altvater, SOPO 5 u. v. a.
Es sagt über die Wirklichkeit heute einiges aus, wenn gerade der Eklektizismus der bürgerlichen Konjunkturtheorie als Fortschritt empfunden wird: "Allgemein kann man sagen, daß die Konjunkturlehre immer eklektischer geworden ist. Dadurch ist sie elastischer und leistungsfähiger im Hinblick auf die gestellten Aufgaben. . ." So Wilhelm Weber und Hubert Neiss, Entwicklung und Probleme der Konjunkturtheorie, Köln Berlin 1967, S. 18. Durch den Eklektizismus löst die Konjunkturtheorie den Zusammenhang der konjunkturellen Schwankungen mit dem Kapitalverhältnis endgültig auf, weil von gesellschaftlicher Totalität keine Rede mehr sein kann. Sie atomisiert vielmehr diese Totalität. Gerade dadurch aber wird sie "leistungsfähiger im Hinblick auf die gestellten Aufgaben", d. h. verwendbar zur theoretischen Reflexion der politischen Manipulation einzelner Faktoren zum Zwecke der "Krisenvermeidung".
Gerhard Weisser, Distribution II, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, S. 645.
Ernst Dürr, Probleme der Konjunkturpolitik, Freiburg 1968, S. 24.
Vgl. etwa W. A. Jöhr, Alternativen der Konjunkturklärung, in Wilhelm Weber (Hrsg.), a. a. 0., S. 353 ff., der sich der abgeschmacktesten Massenpsychologie bedient, um den Konjunkturprozeß zu "erklären". Auch Keynes' zentrale Kategorien sind psychologische: Hang zum Verbrauch, Investitionsneigung, Liquiditätsvorlieb usw.
Bei Günter Schmölders, Konjunkturen und Krisen, Reinbeck 1955, S. 112 lautet dementsprechend die wirtschaftspolitische Konsequenz: "Dementsprechend muß auch die Konjunkturpolitik jeweils die der gegebenen Lage am besten angepaßten Verfahren entwickeln, wie sie in den verschiedenen Ländern schon mit mehr oder weniger Erfolg angewandt worden sind; alle Erfahrungen deuten darauf hin, daß der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, der ´moral suasion' rechtzeitiger Warnungen und Mahnungen sowie der ´Signalwirkung' von Diskontmaßnahmen und dgl. dabei besondere Bedeutung zukommt."
Dieser Gesamtindikator, der regelmäßig in der "Wirtschaftswoche" veröffentlicht wird, funktioniert offensichtlich nicht in Zeiten der Stagflation und ihren spezifischen Widersprüchen. So schreibt die "Wirtschaftswoche" vom 3. März 1972: "Während (der Gesamtindikator) die vergangenen Konjunkturzyklen relativ gut beschreibt, wird er der neuen, stagflatorischen Situation nicht mehr gerecht:. . ." (S. 59)
Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (Nachdruck) Frankfurt 1967, S. 202
Im JG 66, Ziff. 233 heißt es: "Demgegenüber sehen wir für die Beschäftigung auch 1967 keine ernsten Gefahren, obwohl uns die Sorgen, die die Bevölkerung in strukturschwachen Regionen bewegen, nicht fremd sind. Hauptgrund dieser Zuversicht sind die Zeichen kräftiger Wirtschaftsexpansion in wichtigen Partnerländern. . ." Wenige Wochen nach diesem Urteil vom November 1966 hatten wir über eine Million Arbeitslose (incl. derjenigen Gastarbeiter, Frauen und Rentner, die aus dem Produktionsprozeß ganz herausfielen).
Wir sind damit wieder bei der anfangs (vgl. Anm. 7) erwähnten Kontroverse mit dem KSV. Die bürgerliche Wissenschaft bekämpfen zu wollen, weil sie "Modelle der kolonialen Konterrevolution" (Horlemann) usw. liefert und damit ein imperialistisches Unterdrückungsinstrument sei, zeugt von einem selbst noch im bürgerlichen Selbstverständnis befangenen idealistischen Bewußtsein: Erstens ist in einer solchen Auffassung nicht der wirkliche Vermittlungsprozeß von Wissenschaft und Politik, so wie wir ihn hier kurz zu kennzeichnen versucht haben, begriffen und zweitens wird die Begrenztheit staatlicher Politik im Kapitalismus nicht gesehen, eine Begrenztheit, die keine noch so fortgeschrittene bürgerliche Wissenschaft aufheben kann; eine andere Annahme zeugt von idealistischem Politikverständnis - das sich auch übrigens in Parteigründungen aus den Köpfen einiger Intellektueller manifestiert - zum Schaden des Klassenkampfes.
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